Bernard Schmid berichtet aus Frankreich
Nach den Gewerkschaftsdemos vom 27. Mai 10 in ganz Frankreich

Regierung bleibt voll auf Kurs ihrer Renten„reform“

06/10

trend
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Welche Fortsetzung werden die Gewerkschaften ihren Protesten geben? Handeln sie nur zu ihrer Gewissensberuhigung, oder wollen sie drohende „Reform“ ernsthaft be- oder verhindern?

War es ein Erfolg? Oder keiner? Am Tag nach den gewerkschaftlichen Demonstrationen in ganz Frankreich vom Donnerstag, den 27. Mai 2010 gegen die geplante so genannte Renten„reform“ findet man unterschiedliche Einschätzungen in französischen Zeitungen. Diese reichen von „Misserfolg“ oder „halbem Scheitern“ (vgl. http://www.lesechos.fr/ oder http://www.lefigaro.fr) über eine Erfolgsmeldung bei der KP-nahen ,Humanité’ (vgl. http://www.humanite.fr ) bis hin zur Einschätzung, dass „der große Clash noch bevor (steht)“ (vgl. http://abonnes.lemonde.fr/ ). Offenkundig gilt dabei im Allgemeinen die Faustregel: Je regierungsnäher, desto stärker die Tendenz, einen „Misserfolg“ der Mobilisierung zu behaupten. Ungefähr jedenfalls. Denn nicht nur der konservative ,Figaro’ machte am Freitag, 28.o5.10 seine Seite Eins mit der Schlagzeile auf: „Renten: Die schwache Mobilisierung öffnet den Weg für die Reform“. Auch die eher sozialdemokratische Tageszeitung ,Libération’ übertitelte ihre Eins vom Tage mit den Worten: ,Retraites: Avantage Sarkozy’ (ungefähr: „Renten: Vorsprung für Sarkozy“), und im Untertitel hieß es: „Die Gewerkschaften mobilisierten (...) nicht genügend, um die Regierung daran zu hindern, ihre Vorhaben zu verfolgen“. Am selben Tag räumte ,Libération’ übrigens Arbeits- und Sozialminister Eric Woerth zwei Drittelseiten ein, um für seine angedrohte „Reform“ zu werben – unter der Überschrift: „Das gesetzliche (Renten-)Alter anzuheben, ist gerecht“.

Auch Präsident Nicolas Sarkozy sowie die Regierung zeigen sich, sei es aus Überzeugung oder zum Schein, derzeit eher triumphierend (vgl. http://www.lefigaro.fr/ ). Der Generalsekretär der Regierungspartei UMP, Xavier Bertrand - bis vor einem Jahr selbst Arbeitsminister - erklärte, die Mobilisierung liege „unterhalb dessen, was die Gewerkschaften erwarteten“ (vgl. http://tempsreel.nouvelobs.com/) und bleibe „ohne Auswirkungen auf das, was jetzt folgt“ (vgl. http://www.google.com/hostednews). Der amtierende Arbeits- und Sozialminister Woerth, der eher zum rechten Flügel der regierenden Konservativen zählt, erklärte schon am Donnerstag Abend, die Mobilisierung im Laufe des Tages werde nichts an seinen Plänen ändern.

Laut Angaben der aufrufenden Gewerkschaftsverbände demonstrierten am Donnerstag, den 27. Mai, „knapp eine Million Menschen“ (an insgesamt 173 unterschiedlichen Orten) in ganz Frankreich gegen die regressive Renten„reform“, in deren heiße Vorbereitungsphase die Regierung eingetreten ist. Die Polizei spricht von 395.000 Teilnehmer/inne/n. Das wären beiden Angaben zufolge etwas mehr als bei der vorletzten Demonstration der französischen Gewerkschaften zum Thema, die am 23. März dieses Jahres stattfand - damals lauteten die Angaben zu den Teilnehmerzahlen bei den Gewerkschaften: 800.000, bei der Polizei bzw. im Innenministerium: 380.000? Aber es wären deutlich mehr als bei der letzten Mobilisierung dazu, die auf den 1. Mai fiel. Vgl. zu der relativ schwachen Mobilisierung am 01. 05. auch unseren Artikel: http://labournet.de/

Realistisch muss dabei davon ausgegangen werden, dass die wirkliche Zahl irgendwo in der Mitte zwischen den Angaben der Gewerkschaftsführungen und jenen aus dem Innenministerium liegen. In Paris bezifferten die Gewerkschaften die Teilnehmerzahl mit 90.000 (vgl. http://tempsreel.nouvelobs.com) Unsere eigenen Schätzungen - im Versuch, so realistisch wie möglich zu sein - liegen bei 60.000 bis 70.000. Auf folgender Grundlage: Die Straßenbreite erlaubte es circa 20 DemonstrantInnen, nebeneinander zu gehen. Pro Minute konnten circa 20 bis 25 Reihen durchgehen - vielleicht näher bei zweiterer Zahl, da die Demo relativ dicht und kompakt war -, das ergäbe 400 bis 500 Personen pro Minute und annähernd 25.000 pro Stunden. Das Vorbeiziehen der Demo an einem fixen Punkt dauerte zwischen zweieinhalb und drei Stunden, wobei es zwischendurch zu kleineren Halten im Demozug kam.

Auffällig war dabei die relativ hohe Anzahl an offenbar Unorganisierten, die mit demonstrierten, immer wieder in kleineren Gruppen über die organisierten Demoblöcke verteilt. Den Anfang (hinter dem Promi-Block und den Anästhesisten der öffentlichen Krankenhäuser, die aus berufsspezifischen Gründen derzeit stark mobilisiert sind) bildeten die Gewerkschaften im Bildungswesen des Dachverbands FSU, die relativ massiv mobilisieren konnten - 20 bis 25 Minuten -, gefolgt von den linken Basisgewerkschaften SUD/Union syndicale solidaires. Das Gros der Teilnehmer - mit über anderthalb Stunden Vorbeizieh-Dauer - bildete, wie immer, die CGT. Eröffnet wurde ihr Aufzug durch einen massiven Block von ,travailleurs sans papiers’, also migrantischen Lohabhängigen ohne Aufenthaltstitel in Frankreich. Dahinter hatte die CFDT nur kläglich mobilisiert, sie „dauerte“ fünf bis maximal zehn Minuten. Die ebenfalls aufrufende CFTC (christlicher Gewerkschaftsbund) hatte vielleicht 100 bis 200 Personen auf die Beine gebracht. (Die beiden anderen eher rechten Gewerkschaften – neben den Christenheinis -, also die Standesgewerkschaft der höheren Angestellten CGC und die schillernd-verbalradikal auftretende FO, blieben von vornherein weg. FO, ,Force Ouvrière’, ruft nun für den 15. Juni verbalradikal zu einem „Generalstreik’ auf. Bislang allein, was dem Verband ein gutes Gewissen dafür verschaffen wird, dass es wohl mit Sicherheit nicht hinhauen wird – woran dann, laut FO, ausschließlich die Anderen schuld sein werden.)

Insgesamt war die Demo wesentlich weniger von den öffentlichen Diensten und vom Staatsdienst bestimmt, als frühere vergleichbare Demonstrationen. Die Arbeitsniederlegungen in den öffentlichen Diensten am gestrigen Tage waren auch nur vergleichsweise schlecht befolgt: Die Eisenbahner bei der französischen Bahngesellschaft SNCF waren zum Streik aufgerufen, ebenso wie die Beschäftigten der Pariser Nahverkehrsbetriebe RATP (wo jedoch nur die CGT zur Arbeitsniederlegung aufrief). Aber der Nahverkehr im Raum Paris funktionierte fast reibungslos, die Post wurde quasi normal ausgetragen. Bei der Bahn funktionierten die Regionalzüge zu 70 Prozent - ursprüngliche Prognosen lauteten „zu zwei Dritteln“ -, die Fernzüge weitgehend und die Hochgeschwindigkeitszüge TGV zu nahezu 100 Prozent. Allerdings hatte die Regierung 48 Stunden vor dem Streiktag erklärt, die Rentenregelungen der Eisenbahner seien von der jetzt geplanten Reform „nicht betroffen“ - respektive, wie die konservative Tageszeitung ,Le Figaro’ am gestrigen Tage formulierte, „noch nicht betroffen“. (Vgl. http://abonnes.lemonde.fr und http://abonnes.lemonde.fr/ oder http://www.lefigaro.fr/ ) Zwar waren die besonderen Rentenregelungen für die französischen Eisenbahner/innen (Pensionierung ab 55 Jahren) durch eine „Reform“ im Winter 2007/08 gekippt worden - Labournet berichtete damals ausführlich -, und auch die Lohnabhängigen der SNCF müssen nunmehr in naher Zukunft 40 Beitragsjahre zur Rentenkasse beisammen haben. Allerdings erklärte Arbeits- und Sozialminister Eric Woerth nun, die Eisenbahner würden aus der Regel ausgeklammert, wonach das frühest möglich Renteneintrittsalter von derzeit 60 Jahren auf in Bälde „61, 62 oder 63 Jahre“ (wie der Minister am Freitag früh präzisierte, vgl. http://www.lepoint. ) angehoben werde soll. Vorläufig… ?

Im öffentlichen Bildungswesen streikten laut Zahlen des zuständigen Ministeriums nur 14 Prozent der Lehrkräfte (vgl. http://tempsreel.nouvelobs.com), laut Ministerium 16 Prozent in den Grund- und 12 Prozent in den weiterführenden Schulen (vgl. http://abonnes.lemonde.fr/ ). Hingegen spricht die Gewerkschaft Snes-FSU von, möglicherweise überhöhten, „40 Prozent“ Streikbeteiligung in den Mittel- und Oberschulen (vgl. http://www.lefigaro.fr ). Jedenfalls war die Demobeteiligung seitens der Bildungsgewerkschaften und Lehrkräfte durchaus beachtlich.

Die Tatsache, dass die Arbeitsniederlegungen im öffentlichen Dienst zurückhaltend ausfielen und die Demonstrationsbeteiligung dennoch ansehnlich (zwar nicht übermächtig kraftvoll, aber doch zumindest nicht lächerlich) war, deutet darauf hin, dass die Beteiligung dieses Mal stärker „durchmisch“ war. Das bedeutet, dass die Demonstrationen unterschiedliche Sektoren repräsentierten. Die Privatindustrie war zwar sichtbar vor allem durch die stets anwesenden „harten Kerne“ - die CGT bei Renault, Peugeot, Citroën - vertreten, die übrigens zu den wenigen Orten in der Demo (neben dem radikal linken ,Nouveau Parti Aniticapitaliste’, NPA) zählten, an denen die Rückkehr zur vor 1993/2003 geltenden Regel der 37,5 Beitragsjahre zur Rentenkasse gefordert wurde, welche bei den Demonstrationen gegen die bisher letzte größere Stufe der Renten„reform“ im Mai/Juni 2003 noch in breiten Kreisen vertreten wurde. - Doch sehr viele Lohnabhängige nahmen offenkundig auch individuell an den Demonstrationen teil.

In Umfragen erklärten unterdessen rund 70 Prozent der befragten Französinnen und Franzosen, die Mobilisierung vom Donnerstag zu „unterstützen“ oder „Sympathie“ für sie zu empfinden. Nur 12 Prozent äußerten sich demnach ablehnend-feindselig. (Vgl. u.a. http://tempsreel.nouvelobs.com/) Dennoch waren die Teilnehmerzahlen am Donnerstag noch sehr weit davon entfernt, sich 70 Prozent der Lohnabhängigen – das sind in Frankreich 15 Millionen Beschäftigte der Staatsindustrie und 5 Millionen Staatsbedienstete/Kommunalbedienstete/Beschäftigte in öffentlichen Unternehmen) – zu nähern. Auch lagen sie noch deutlich unterhalb jener der großen Protestdemonstrationen der letzten Jahre, wie gegen die Aushebelung des Kündigungsschutzes im Frühjahr 2006 (frankreichweit: je drei Millionen Demonstrierende am 28. März und am o4. April 06) oder auch zu Anfang der Krisenbewältigungspolitik (je zwei Millionen Protestierende am 29. Januar und 19. März 2009). Ursächlich dafür ist auch die Taktik der Gewerkschaftsverbände: Sofern den Leuten als Perspektive nur angeboten wird, alle paar Wochen zu einem größeren Demo-Spaziergang zu kommen – aber eben ohne Streikaufruf und ohne sofortige Fortsetzung in den darauf folgenden Tagen, also ohne Aufbau eines realen Kräfteverhältnisses und Kräftemessens mit der Regierung -, dann bleiben Viele eben weg. Sehen sie es doch nicht einen, einen bezahlten Arbeitstag zu opfern (sei es in Form eines Streiktags, der in Frankreich grundsätzlich unbezahlt bleibt und auch nicht wie in Deutschland aus Gewerkschaftskassen ersetzt wird, oder durch Freinehmen/durch einen Urlaubstag).

Um die Lohnabhängigen zur Aktivität zu bewegen, müssten ihnen da schon glaubwürdigere Kampfperspektiven geboten werden, wie etwa den Staatsbediensteten im inzwischen fast legendären Streikherbst 1995 – Frankreich blieb vier Wochen ohne Zugverkehr und ohne Postzustellung -, oder der Jugend im März 2006. Da wachsende Teile der Lohnabhängige aber aus den genannten Gründen wegbleiben, berufen sich die Gewerkschaftsführungen nun ihrerseits darauf, sie „wollten ja, aber die Leute wollen nicht und kommen nicht“ – so ein Jammer, „was sollen wir denn da machen?“

Kalender der „Reform“

Wie eine Meldung der Nachrichtenagentur AFP vom Donnerstag (9.20 Uhr) ankündigte, soll der Gesetzentwurf der Regierung zum Thema entweder am 07. Juli oder am 13. Juli im Kabinett diskutiert und angenommen werden. Um dann im September, während einer dreiwöchigen Sondersitzung des Parlaments, in dessen beiden Kammern verabschiedet zu werden. (Normalerweise dauert die parlamentarische Sitzungsperiode von Oktober bis Juni. In diesem Jahr 2010 werden die Abgeordneten der Nationalversammlung jedoch im Juli antanzen, um das geplante Verbot der „Ganzkörper-„ oder „Gesichtsverschleierung“ - welche in kleinen moslemextremistischen Milieus, die meist aus Konvertierten bestehen, praktiziert wird - zu verabschieden. Und beide Kammern werden erneut im September 10 zu einer Sondersitzung zusammentreten, damit der Senat ebenfalls das so genannte „Burqa-Verbot“ annimmt, vor allem aber, um die Renten„reform“ durchzudrücken.)

Noch sind einzelne Konturen des bevorstehenden „Reform“ der Öffentlichkeit bekannt. Alle Details der regressiven „Reform“ sollen dem Publikum offiziell „Mitte Juni“ präsentiert werden - also, welche ein Zufall, wenn die Führung des rechtssozialdemokratisch geleiteten Gewerkschaftsverbands CFDT ihren Kongress (vom 07. bis 11. Juni in Tours) überstanden haben wird.

Schon ab 1. Januar 2011 soll die Reform jedoch greifen, und wie zu Anfang der Woche verkündet wurde, soll das neue Renten-Eintrittsalter schon im kommenden Jahr gelten.

Was ist im Einzelnen näher geplant?

1. Beitragsjahre:

Auf jeden Fall steht eine Anhebung der für eine Pension zum vollen Satz erforderlichen Zahl von Beitragsjahren zur Rentenkasse, die derzeit allgemein 40 beträgt (im Vergleich zu 37,5 vor der letzten „Reform“, von 1993 im Privatsektor respektive 2003 für die öffentlich Bediensteten, die in diesem Jahr erstmals voll greift), auf dem Programm. Mutmaßlich auf 42 oder 42,5 Beitragsjahre, wie es auch die 2003 durch die Regierung angestellten Prognosen für „jenseits von 2010“ vorsahen. Der Arbeitgeberverband MEDEF forderte in den letzten Monaten schon mal 45 Beitragsjahre. Aber vielleicht gehört das zum Theater dazu; denn falls der MEDEF noch höhere Forderungen stellt, dann erscheinen die Regierungsbeschlüsse daneben vielleicht als „gemäßigt“…

Die CFDT, als möglicherweise – nach ihrem Kongress vom o7. bis 11. Juni 2010 – künftig die „Reform“ (wie schon jene von 2003) unterstützender Gewerkschaftsverband, ziert sich dabei noch ein bisschen. Grundsätzlich hat ihre Führung unter Generalsekretär François Chérèque jedoch bereits signalisiert, dass sie über eine Erhöhung der Anzahl obligatorischer Beitragsjahre durchaus mit sich reden lasse. Ablehnend stehe sie hingegen einer Erhöhung des (Mindest-)Eintrittsalters für die Rente – siehe unseren nächsten Punkt – gegenüber. Da die Regierung aber offenkundig beides plant, also an beiden Reglern (Beitragsdauer und Eintrittsalter) drehen möchte, wirkt sogar die CFDT im Augenblick ziemlich pampig. Ihr Chef, Chérèque, sprach sogar davon, die Regierung habe sich für die „ungerechteste“ Reformoption entschieden, da sie das Alter – und nicht allein die Beitragsdauer - erhöhen möchte. (Vgl. http://www.boursorama.com ) Hintergrund dafür ist, dass die CFDT gerne Sonderregelungen für jene Lohnabhängigen bewahren möchte, die schon die hohe Anzahl von Beitragsjahren beisammen haben, bevor sie das Renten-Eintrittsalter erreichen – weil sie nämlich zu ihrer Jugendzeit in sehr jungen Jahren, mit 14 oder 16, zu arbeiten begonnen haben. Im Jahr 2003 hatte die CFDT ihre Unterstützung für die damalige Renten„reform“ der konservativ-wirtschaftsliberalen Regierung unter Jean-Pierre Raffarin dadurch legitimiert, dass sie die Unterschrift der Regierung unter eine solche Sonderregelung erreichen konnte. Letztere galt für Lohnabhängige, die mit 14, 15 oder 16 Jahren zu arbeiten begonnen hatten, und wurde in den letzten Jahren auch ziemlich massiv genutzt – bevor Premierminister François Fillon, der im Grunde seines Herzens schon immer gegen dieses Zugeständnis (das er selbst als Arbeits- und Sozialminister 2003 machen musste) gewesen war, sie ab 2008 durch neue Berechnungsmodalitäten erheblich einschränkte. (Vgl. http://abonnes.lemonde.fr/ ) Doch der Haken an der Sache ist ferner, dass diese Sonderregelungen, selbst ohne die neuen Restriktionen, in Zukunft immer weniger Menschen betreffen wird. Denn die Generation jener Lohnabhängiger, die schon mit 14 zu arbeiten begonnen hatte, wird künftig immer weiter „aussterben“ bzw. schon verrentet sein.

Eine weitere Spur, die etwa durch die CFDT verfolgt wird und welche 2003 auch der damalige Sozi-Oppositionspolitiker (und jetzige Direktor des IWF) Strauss-Kahn verteidigte, besteht darin, Lohnabhängigen in bestimmten Berufsgruppen einen „Erschwernis-Abschlag“ bei den Beitragsjahren zu gewähren. Dies bedeutet, dass die körperliche „Erschwernis“ bestimmter Tätigkeiten – und das dadurch bedingte, durchschnittlich frühere Altern – berücksichtigt werden soll, um bestimmten Beschäftigtenkategorien etwas weniger Beitragsjahre abzuverlangen als den anderen. Im Jahr 2003 wurden, im Rahmen der damals losgetretenen Renten„reform“, dann auch Verhandlungsrunden der so genannten „Sozialpartner“ zum Thema „Erschwernis“ (französisch: ,pénibilité’) eröffnet. Der Haken dabei ist: Letztere kamen nie zum Anschluss, da grundsätzlich kein Konsens zwischen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden erzielt werden konnte. Denn Letztere waren an einem Abschluss nicht wirklich interessiert – hätte er doch aus Sicht des Kapitals „nur Geld gekostet“.

2.Renten-Eintrittsalter
a) Mindestalter

Zusätzlich soll aber auch das Renten-Eintrittsalter heraufgesetzt werden. Bislang galt, dass ein/e Lohnabhängiger/r frühestens mit 60 Jahren in Rente gehen konnte, wenn er oder sie genügend Beitragsjahre für einen vollen oder halbwegs vollen Pensionsanspruch beisammen hatte. (Dieses Mindestens-Rentenalter war im Jahr 1982 durch die damalige Linksregierung unter Präsident François Mitterrand, durch Herabsetzung von zuvor 65 auf 60, eingeführt worden.) Ab 65 Jahren gilt bislang noch, dass automatisch ein Anspruch auf den Bezug einer vollen Pension entsteht, auch wenn zuvor noch Beitragsjahre fehlten. Und falls die volle Pension aber zu niedrig ausfällt, um davon anständig zu leben - was für immer mehr Lohnabhängige der Fall ist -, gilt seit Herbst 2008, dass die Lohnabhängigen ihre Aktivität „freiwillig“ bis zum Alter von 70 Jahren ausdehnen „dürfen“ (vgl. http://www.labournet.de/i)


Geplant ist einerseits, das Mindestalter von 60 auf bis zu 63 Jahren anzuheben. Zu Anfang dieser Woche ritt Präsident Nicolas Sarkozy heftige Verbalattacken, im Rückblick, auf Mitterrands Reform von 1982, Stichwort Rente mit 60 („Hätte er es unterlassen, dann hätten wir heute nicht so viele Schwierigkeiten“), vgl. auch
http://abonnes.lemonde.fr .

Diese verbalen Angriffe erfüllen allerdings wohl vor allem einen ideologischen Zweck, um den Revanchismus eines Teils der französischen Rechten - der die „Reformen“ in den ersten anderthalb Jahren der damaligen Linksregierung (auf die ab dem Winter 1982/83 freilich eine Austeritätspolitik folgte), von der Abschaffung der Todesstrafe bis zur Rente mit 60, nie richtig verdaut hat - zufrieden zu stellen. Auch sollen sie zu einer Polarisierung mit der Sozialdemokratie führen, deren Parteichefin Martine Aubry auch prompt heftig auf Sarkozy antwortete - seine Äußerungen seien „eines Präsidenten nicht würdig“. Beide größeren Parteien versuchen, in dieser Auseinandersetzung den harten Kern ihrer jeweiligen Wählerschaft zu mobilisiere; wobei das rechte Regierungslager auch bestrebt ist, seine Durchsetzungs- und „Reformierfähigkeit“ zu demonstrieren und dadurch einen Autoritätsbeweis zu führen.

Allerdings ist auch nicht zu übersehen, dass die französische Sozialdemokratie dabei selbst von tiefen Spaltungslinien durchzogen wird und ein Teil ihrer Berufspolitiker offenkundig daran denkt, wie er selbst sehr ähnliche „Reform“ durchziehen würde, falls er denn an der Regierung wäre. Parteichefin Aubry (die von 1997 bis 2002 Arbeits- und Sozialministerin unter Lionel Jospin war) hatte im Januar dieses Jahres erklärt, über eine Anhebung des Renten-Mindestalters von 60 auf beispielsweise 61 oder 62 Jahre durchaus mit sich reden zu lassen. Man möchte ja „vernünftig“ erscheinen.. Infolge heftigen Drucks von innerhalb ihrer Partei und aus der benachbarten Linken heraus ruderte Martine Aubry daraufhin jedoch zurück. Inzwischen kündigt sie - im Gegenteil - an, falls ihre Partei nach den Wahlen 2012 an die Regierung zurückkehre, dann würde sie das Rentenalter 60 „ wieder herstellen“, falls die derzeitige Regierung es bis dahin aushebelt. (Vgl. http://www.lepost.fr )

Unterdessen meldete sich aber ihr Rivale um die sozialdemokratische Präsidentschaftskandidatur im Jahr 2012, Dominique Strauss-Kahn oder „DSK“, der derzeit als Direktor des Internationalen Währungsfonds (IWF) in Washington amtiert, ebenfalls zum Thema zu Wort. Am 20. Mai 10 erklärte er, das Rentenalter mit 60 sei doch „kein Dogma“. Und: „Wir leben heute bis 100, da kann man nicht mit 60 in Pension gehen.“ (Vgl. http://abonnes.lemonde.frl sowie Meldung der Agentur Reuters vom 20.o5.10, 21.00 Uhr). Diese Auslassungen führten zu einem Aufschrei in Teilen der Linken, und die französische KP - die zuletzt 1997 bis 2002 zusammen mit der Sozialdemokratie regierte - hat bereits erkennen lassen, dass sie DSK als Präsidentschaftskandidaten für untragbar hält. (Vgl. http://www.lejdd.fr/ ) Ihre Zeitung ,L’Humanité’ hat inzwischen ausführliche Berichte zu Strauss-Kahns Rolle bei den Austeritätsplänen etwa in Griechenland veröffentlicht: „Die wahre Bilanz von DSK beim IWF“ (Ausgabe vom Pfingstwochenende)… Unterdessen hat der rechte Arbeitsminister Eric Woerth seinerseits Strauss-Kahn zu seinen gar vernünftigen Worten und Ansichten gratuliert. Aber auch beim ,Parti Socialiste’ selbst meldete sich die, offiziell als Fachreferentin für die Rentenpolitik zuständige, Abgeordnete Marisol Touraine zu Wort und erklärte, auch aus ihrer Sicht und für die Partei sei das Rentenalter 60 „kein Dogma“. Marisol Touraine gilt als „Strauss-Kahn nahe stehend“. (Vgl. dazu http://tempsreel.nouvelobs.com ) Kurz, man wird sich noch auf einen hübschen Eiertanz seitens der französischen Sozialdemokratie einstellen dürfen; und man darf nicht damit rechnen, dass der Partei allzu sehr daran gelegen ist, die Reformpläne der jetzigen Regierung ernsthaft zu verhindern. Müsste sie das Thema doch sonst, im Falle eines Regierungswechsels im Jahr 2012, selbst anpacken – und könnte sich dabei nicht auf „durch die Vorgängerregierung geschaffene Fakten“ berufen. (Schon im Jahr 2001, als die Sozialdemokratie noch regierte, lagen entfernt vergleichbare Pläne schon in den Schubladen. Dagegen hatten die Gewerkschaften am 25. Januar 01 bereits Demonstrationen organisiert. Der damalige Premierminister Lionel Jospin weigerte sich jedoch, die Akte vor den Präsidentschaftswahlen von 2002 – die er dann schon im ersten Wahlgang verlor – zu öffnen, und verwies damals auf künftige „Konzertierungsbemühungen“ im Jahr 2003.)

b) Höchstalter

Wie oben ausgeführt, existiert bereits seit Ende 2008 die Regelung, wonach „auf freiwilliger Basis“ jetzt auch bis 70 gearbeitet werden „darf“ - etwa weil die Rente zum Leben nicht ausreicht. (Was für immer größere Personengruppen der Fall sein wird, aufgrund niedriger Löhne und weiterhin sinkender Renten, gemessen am Prozentsatz des letzten Lohnes oder Gehalts.) Vgl. http://www.trend.infopartisan.net/trd1108/t201108.html ; das französische Verfassungsgericht hat damals, im Spätherbst 2008, die Neuregelung für verfassungskonform erklärt.

Bislang gilt aber noch, dass beim Erreichen eines Lebensalters von 65 zumindest eine Pension ohne Abschläge, aufgrund fehlender Beitragszeiten, gewährt wird. Auch dieses Alter soll nun angehoben werden, wie die Regierung ausdrücklich erklärt. (Vgl. http://www.latribune.fr) Noch ist unklar, bis wohin.

Vorläufiger Ausblick

Im Kontext der allgemeinen Panikmache über die europaweite Finanz- und Wirtschaftskrise, den Spekulationsdruck auf dem Euro, die Griechenland-Problematik und den „drohenden Bankrott“ üben Teile der französischen Medien erheblichen psychologischen Druck auf die öffentliche Meinung aus. Wie könnte man unter solchen Rahmenbedingungen nur eine, „dringend nötige“, „Reform“ ablehnen und dadurch dem Großen & Ganzen auch in Zukunft weiterhin „hohe Kosten“ verursachen? Und wer soll die ganzen Rentner/innen ernähren? Wo wir doch alle länger leben, „dank der Medizin“ – „was ja eigentlich sehr erfreulich ist, nur ein Problem für die Sozial- und Rentenkassen aufwirft?“ (Was ja auch irgendwo auch zutrifft; wenn man nur vergisst, hinzuzufügen, dass neben der Lebenserwartung auch die Arbeitsproduktivität noch viel stärker gestiegen ist. Und dass Frankreich bspw. auf der Ebene der global vorhandenen Reichtümer heute zweieinhalb mal so reich ist wie 1980, bei ungefähr gleich bleibender Einwohner/innen/zahl.) - Vor kurzem kam der wirtschaftsliberale Ideologie Alain Minc auf die glorreiche Idee, sich öffentlich darüber zu beklagen, dass man seinen 100jährigen Vater – in seinem Alter, wo er doch ohnehin nicht mehr lange vor sich habe, weshalb sich also eine Operation nicht rentiere – in einem öffentlichen Krankenhaus ohne Zuzahlung behandelt „und dadurch der Öffentlichkeit 100.000 Euro Kosten verursacht“ habe. Demagogisch, vermeintlich großzügig, fügte er hinzu, ein solches Aufhalsen der Kosten an die Allgemeinheit sei nicht einzusehen, wo doch die Erben seines Vaters – also unter anderem er selbst – zahlungskräftig seien. Eine Nachfrage von ,Libération’ ergab, dass die „der Nation aufgehalsten“ medizinischen Kosten für eine Operation des fraglichen Typs freilich in Wirklichkeit nur ein Fünftel der angegeben Summe gekosten haben können; Minc präzisierte dazu: „Ich habe die Summe von 100.000 Euro zu Demonstrationszwecken genannt“. Der Sozialdarwinismus marschiert... Vgl. auch http://www.lepost.fr/

Als „Zuckerl“, um die so genannte Reform ein bisschen besser ’runterrutschen zu lassen, wird es auch eine gleiche Reichen-Abgabe „zur Solidarität, für die Finanzierung der Renten“ geben. Seit dem Jahr 2007 wird den Bestverdienenden und Vermögensbesitzern im Frankreich Sarkozys garantiert, dass die globale Summern sämtlicher Steuern und Abgaben – inklusive Sozialbeiträge, Sondersteuer für Großvermögen usw. – auch auf den obersten Stufen nicht 50 Prozent des besteuerten Einkommens(-bestandteils) überschreiten darf. (Dazu muss man wissen, dass ein Spitzensteuersatz nie auf die gesamten Einkünfte Anwendung findet, sondern immer nur von den obersten Segmenten des jeweiligen Einkommens abschöpft. Wer beispielsweise fünf Millionen im Jahr verdient, versteuert seine ersten 20.000 Euro dennoch zum selben Steuersatz wie der- oder diejenige, der o. die nur 20.000 Euro jährlich insgesamt verdient. Nur derjenige Teil des Einkommens, der einen Spitzenwert übersteigt, wird nach dem Höchstsatz besteuert.) Dieser so genannte „steuerpolitische Schuldschild“ – französisch ,bouclier fiscal’ -, der also Superreiche nach Abzug der höchstens 50 Prozent (auf der obersten Stufe) vor jedweder neuen Steuer oder Sozialabgabe pauschal schützt, ist nach dem Ausgang der französischen Regionalparlamentswahlen vom März 2010 auch innerhalb der regierenden Konservativen zunehmend heftig kritisiert worden. Der frühere bürgerliche Premierminister Alain Juppé beispielsweise hat seit März dieses Jahres, ebenso wie Sarkozys Rivale (und ebenfalls Ex-Premierminister) Dominique de Villepin, eine scharfe Kritik am ,bouclier fiscal’ formuliert. (Unter dem Vorgängerkabinett vor der Ankunft von Präsident Sarkozy und Premierminister Fillon, also unter der Regierung de Villepin in den Jahren 2005/07, hat es bereits einen „steuerlichen Schutzschild“ gegeben. Doch damals betrug er 60 % auf dem höchsten Einkommensniveau. Sarkozy und die Regierung Fillon haben ihn lediglich von 60 auf 50 Prozent abgesenkt. Inzwischen hat das französische Verfassungsgericht in einer jüngsten Stellugnahme erklärt, eine künftige Regierung könne den neuen Grundsatz nicht einfach wieder abschaffen, weil „niemand gezwungen werden“ könne, „die Mehrheit seiner Einkünfte beim Staat abzuliefern“.)

Nach bisher geltenden Regeln hätte der „steuerliche Schutzschild“ die Schwerreichen auch vor den pekuniären Auswirkungen der „Rentenreform“ geschützt – hätte er ihre Abgaben doch ohnehin pauschal gedeckelt, also auch etwaige Beitragserhöhungen bei den Rentenbeiträgen wirkungslos werden lassen. Neben einer Ausdehnung der Beitragszeiten ist aber auch an eine eventuelle Erhöhung der Beitragssätze, etwa durch eine Zusatzabgabe wie die bereits bestehende Sonder-Sozialabgaben CSG und CRDS (die unter der Regierung Alain Juppés in den Jahren 1995/97 eingeführt wurden), gedacht.

Nunmehr deutet das Regierungslager immer hörbarer an, dass es auch für die Schwerreichen künftig eine Ausnahmeregelungen für den steuerlichen „Deckel“ geben könnte – etwa durch eine Sonderabgabe, die nicht in die Deckelungsregel des „steuerlichen Schutzschilds“ (maximal 50 %) einberechnet wird. So ist beispielsweise an eine, nicht in die Kalkulation des Spitzensteuersatzes einbezogene, Sonderabgabe von 2,5 % zu denken.

Diese kleine Abgabe für die Reichen, als „ihr Beitrag zur Reform und zur nationalen Solidarität für die Renten“, wird durch die Regierung in ihrer Propaganda noch breit ausgewalzt werden: „Sehr her, auch die Reichen müssen abgeben! Also ist die Reform gar nicht derart ungerecht!“ Nur ist derzeit fraglich, ob diese Art von Propaganda auch wirklich in der Öffentlichkeit verfangen wird.

Editorische Anmerkung

Wir erhielten den Artikel vom Autor für diese Ausgabe.