Dreißig Jahre nach der Revolution von 1979
sind in Iran neuerlich revolutionäre Spannungen ausgebrochen –
Millionen Menschen sind gegen die zweifellos manipulierten
Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen auf die Straßen gegangen.
Innerhalb weniger Stunden nach Schließung der Wahllokale haben
Präsident Mahmoud Ahmadinejad und seine Kohorten in der
theokratischen Diktatur einen durchschlagenden Wahlsieg mit 64%
Stimmenanteil bei einer Wahlbeteiligung von 85% verkündet. Diese
Ankündigung war genug, um Hunderttausende auf die Straßen zu
bringen – einiger Berichte zufolge haben bis zu 3 Millionen
Menschen an den größten Protesten in Teheran teilgenommen.
StudentInnen, die Mittelklasse und Teile der Arbeitslosen, Armen
und der Angestellten sind auf die Straßen geströmt haben ihre
„gestohlenen Stimmen“ zurückverlangt und eine Absetzung
Ahmadinejads gefordert. Wie auch immer sich diese revolutionäre
Krise in den kommenden Wochen entwickeln wird, fest steht, dass
der Iran nicht mehr zum Ausgangszustand zurückkehren wird. Die
massive Bewegung für eine Änderung markiert den Beginn des Endes
der existierenden Diktatur. Obwohl eine exakte Analyse des
Wahlergebnisses offensichtlich unmöglich ist, hat eine Studie
der vom Regime selbst veröffentlichten Zahlen durch die Saint
Andrews Universität in Schottland einige unglaubliche Ergebnisse
aufgedeckt. In einigen Gebieten lag die Wahlbeteiligung bei
100%. Zudem mobilisierte Ahmadinejad offenbar genug
Unterstützung, um sein Wahlergebnis verglichen mit 2005 um 113%
zu steigern. Um die vom Regime vorgelegten Zahlen zu erreichen
hätte er alle Stimmen der NichtwählerInnen von 2005 gewinnen
müssen, zudem alle Stimmen, die damals dem „zentristischen“
Kandidaten Rafsanjani zufielen sowie 44% der Stimmen, die der
mehr reform-orientierte Kandidat Karrubi erhielt. Ein
bemerkenswertes Charakteristikum dieser Bewegung sowie der
Wahlkampagne war das verstärkte Auftreten junger Frauen auf der
Kampfbühne – einzigartig in der jüngeren iranischen Geschichte.
Das zeigte sich schon während der Wahlkampagne. Zum ersten Mal
in Iran spielte Mir Hossein Mousavis Frau, Zahra Rahnavard eine
führende Rolle, ihre Forderung nach „Gleichheit“ zog eine große
Menge, vor allem junger Frauen mit sich. Pressezensur und
Versammlungsverbote konnten die Verbreitung der neuesten
Nachrichten der Bewegung nicht verhindern. Die Jugend benutzte
vor allem Facebook und Twitter um ihre Proteste zu organisieren
und ihre Forderungen und die auf sie ausgeübte Repression zu
veröffentlichen. Iran hat weltweit den höchsten pro Kopf Anteil
an Bloggern. Die Massenproteste, die nach der Verkündung des
Wahlergebnisses durch den Iran gefegt sind, markieren einen
entscheidenden Wendepunkt. Die Tatsache, dass das „Gesetz“
herausgefordert wird und die brutale Unterdrückung durch die
Staatssicherheitskräfte zeigen, dass die Massen beginnen, ihre
Furcht vor dem Regime ablegen und bereit sind, diesem die Stirn
zu bieten und es herauszufordern. Das bedeutet einen
entscheidenden Wandel in der Psychologie der Massen in jeder
Bewegung gegen Diktatur. Angesichts des Aufmarsches der
gefürchteten para-militärischen Basij-Milizen haben
DemonstrantInnen in Teheran den Slogan geschrieen: „Panzer,
Kanonen, Basij – ihr habt jetzt keine Wirkung mehr!“ Bisher
waren es ohne Zweifel die StudentInnen und Jugendlichen, die an
der Spitze der Bewegung standen. Vor allem unter den höher
gebildeten Schichten der Jugend brodelt die Unzufriedenheit und
Wut gegen den einengenden, unterdrückenden Charakter des
theokratischen Regimes, das die freie Wahl von Kleidung, Musik,
persönlichen Beziehungen und Kommunikation massiv einschränkt.
Ein zu enges Kleid, zu modernes Haarstyling oder die falsche
Wahl der Musik von jungen Menschen zogen Wut und Bestrafung
durch die Basij-Milizen auf öffentlicher Straße nach sich. In
einer Bevölkerung, in der geschätzte 60 bis 70% unter 30 Jahre
alt sind, konnten diese Restriktionen nicht auf Dauer
aufgezwungen werden. So wichtig dieser zivile Ungehorsam auch
ist, wird dieser von der jetzigen Bewegung übertroffen, die
demokratische Rechte fordert und das Verlangen nach einem
gesellschaftlichen Wechsel in Iran ausdrückt. Das wird auch
durch die weit gestreute Teilnahme und Unterstützung für die
Bewegung reflektiert, die es auch in den älteren Teilen der
Bevölkerung gibt. Dazu kommt noch die während der letzten Jahren
der Ahmadinejad Präsidentschaft aufgestaute Frustration und
Enttäuschung weiter Teile der Bevölkerung. Er wurde 2005 gewählt
und konnte eine wichtige Basis der Unterstützung, vor allem
unter einigen Teilen der Armen und innerhalb der ländlichen
Bevölkerung beibehalten. Sogar in dieser Wahl scheint es eine
gewisse Spaltung zwischen den größeren städtischen und den
ländlichen Gebieten zu geben. Das Ausmaß der Spaltung ist aber
derzeit noch nicht klar einzuschätzen. Die Zeitung International
Herald Tribune zum Beispiel berichtet von dem kleinen Dorf
Bagh-e-Iman, das in der Nähe der südwestlichen Stadt Shiraz
liegt. Es wird berichtet, dass die Mehrheit der 850 WählerInnen
Mousavi unterstützten, während die „offizielle“ Auszählung das
Gegenteil erklärt. Und das, obwohl die Unterstützer Ahmadinejads
bei Wahlveranstaltungen ausgebuht wurden. Ganze Wagenladungen
von Dorfbewohnern besuchten daraufhin die Protestdemonstrationen
in Shiraz. Darüber hinaus lebt in Iran mittlerweile der Großteil
der Bevölkerung in städtischen Gebieten, obwohl es auch noch
starke Familienbindungen mit dem Land gibt. Entsprechend
jüngster Schätzungen leben ca. 70% der Bevölkerung heute in
Großstädten.
Reaktionärer Populist
Ahmadinejads Basis unter den Armen wurde
auf einer reaktionären populistischen Basis aufgebaut - die
Korruption und die reiche liberale Elite anprangert - und einer
nationalistische Politik, die den Westen und vor allem den
US-Imperialismus brandmarkt. Während der Wahl 2005 griff er den
Slogan der Revolution von 1979 auf: „Eine Republik der Armen“.
Nach dieser Revolution wurden wichtige Teile der Wirtschaft
unter staatliche Kontrolle gestellt, aber anstatt einer Republik
für die Armen entstand vielmehr eine Republik der Reichen, der
korrupten Mullah-Oligarchen. 2005 stellte Ahmadinejad auch die
Forderung auf, den Reichtum aus dem Ölgeschäft mehr zu Gunsten
der Armen zu verteilen und führte Subventionen für grundlegende
Verbrauchsgüter ein. Nach seiner Wahl wurde eine Reihe von
Infrastrukturprojekten begonnen. Seine Rhetorik stand im
Gegensatz zum damals unterlegenen „Reform“-Kandidaten
Rafsanjani, der für seine Korruption und die Verbindungen zu den
reichen Oligarchen bekannt ist. Doch trotz Ahmadinejads
populistischem „Einsatz“ für die Armen hielt das sein Regime
nicht davon ab, die streikenden Teheraner Busfahrer und andere
ArbeiterInnen brutal zu attackieren, als diese für ihre
Interessen kämpften. Allerdings hat die stark gewachsene
Inflation, die bei mittlerweile 30% liegt und die zunehmende
Arbeitslosigkeit, die bei den unter 30 Jährigen ca. 25%
erreicht hat sowie die Einstellung der Unterstützungszahlungen
für Benzin und einige Grundnahrungsmittel in der vergangenen
Periode Frustration und Ärger hervorgerufen. Ahmadinejad hat
zudem die Regierung auf nationaler und lokaler Ebene
militarisiert, was einerseits zu einer gestiegenen Unterdrückung
aber andererseits zu einer wachsenden Feindseeligkeit, vor allem
unter der Jugend geführt hat. Ahmadinejad, ein ehemaliger
Offizier der Revolutionsgarden, hat 14 der 21 Ministerposten mit
ehemalige Offiziere eben dieser Garden besetzt. Den
paramilitärischen Basij-Milizen wurden Rechte an der Ausbeutung
von Ölquellen gegeben, während er vollmundig behauptete, die
Korruption ausmerzen zu wollen. Die bisherige Stärke der
Bewegung, die seit der 1979er Revolution in Iran einzigartig
ist, hat das Regime zu einem Zickzack-Kurs in dessen Erwiderung
gezwungen und Spaltungen in diesem hervorgerufen. Zunächst
bestätigte der Wächterrat bloß das Ergebnis und lehnte
Forderungen nach einer Neuauszählung ab. Dann machte dieser
einen Schritt zurück und beschloss eine partielle Neuauszählung
von „strittigen“ Wahlsprengel zuzulassen. Erst vor kurzem
akzeptierte er, dass über 600 strittige Wahlsprengel neu
ausgezählt werden dürfen. Aber selbst eine vollständige
Neuauszählung, die eher unwahrscheinlich ist, wäre real ohne
Bedeutung. Wer würde denn die Prüfer überprüfen? Laut dem
britischen Journalisten Robert Fisk ist unter den reaktionären
Mitgliedern des Parlaments ein Machtkampf über die Frage
ausgebrochen, wie darauf zu reagieren sei. dass Ahmadinejad die
ProtestiererInnen als „Dreck“ bezeichnet hat. Der Eintritt der
Massen in die Arena des Kampfes im derzeitigen Maßstab ist, wie
Trotzki in seiner Schrift „Geschichte der russischen Revolution“
aufzeigt, eines der Kennzeichen einer Revolution. In diesem
Sinne entwickelt sich eine Revolution in Iran.
Welche Art von Revolution?
Revolutionen können verschiedene
Ausprägungen haben. Historische gesehen gab es in Europa die
bürgerlich-demokratischen Revolutionen Ende des 17. und 18.
Jahrhunderts, die die feudalen Gesellschaftsstrukturen
hinwegfegten. Es gab auch Beispiele sozialistischer Revolutionen
wie jener in Russland 1917, die zum Sturz des Kapitalismus und
des Großgrundbesitzes und der Errichtung einer
ArbeiterInnendemokratie führte. In Folge zog sie jedoch eine
politische Konter-Revolution nach sich, die ein bürokratisches,
stalinistisches Regime hervorbrachte und der ArbeiterInnenklasse
die Macht raubte. Es kann auch revolutionäre Aufstände geben,
die zu einem politischen Machtwechsel führen, wo jedoch die
ehemaligen sozialen Beziehungen und Eigentumsverhältnisse
unangetastet bleiben. In Iran findet derzeit eine politische
Revolution innerhalb des kapitalistischen Rahmens statt.
Indessen ist eine Revolution immer ein Prozess der Entwicklung,
während dem sich soziale Fragen und Forderungen auftreten
können, die diesen Prozess dann in Konflikt mit dem Kapitalismus
bringen. Die Debatten und Konfrontationen, die während der
Wahlkampagne zwischen Mousavi und Ahmadinejad im TV zu sehen
waren, spielten eine zentrale Rolle und rüttelten vor allem
junge Menschen wach, die sich dann an der Bewegung aktiv
beteiligten und zum Motor der Bewegung wurden, seit die
Wahlergebnisse verkündet worden sind. Die derzeit wichtigste
Frage in Iran ist die Einschätzung, wie sich diese Bewegung
weiterentwickeln wird und welche Art neues Regime daraus
hervorgehen könnte. Zum momentanen Zeitpunkt ist es jedoch
unklar, wie sich die aktuelle Krise entfalten und entwickeln
wird. Eine zentrale Frage ist, ob sich die ArbeiterInnenklasse
an die Spitze der Kämpde stellen wird, um den Kampf auf eine
höhere Ebene zu stellen. Auf jeden Fall ist aber klar, dass in
Iran eine neue Ära begonnen hat, die Aufstände und
revolutionären Situationen werden sich über eine längere Periode
weiter entwickeln, viele Krisen und Wendepunkte werden folgen.
Lenin hat vier Bedingungen für die Entwicklung einer
sozialistischen Revolution genannt. Zunächst sind Spaltungen und
Handlungsunfähigkeit unter der herrschenden Klasse und ihren
politischen Repräsentanten notwendig. Zweitens muss es ein
Schwanken in den Mittelschichten geben, wobei ein signifikanter
Teil davon die Revolution unterstützt. Drittens muss die
ArbeiterInnenklasse organisiert sein und ein Wille existieren,
in Kämpfe einzugreifen und sich an die Spitze des revolutionären
Prozesses zu stellen. Und viertens ist eine revolutionäre,
sozialistische Partei mit einer klaren Führung notwendig, die
für ihre Ideen und Vorschläge eine breite Unterstützung in den
Massen hat – vor allem innerhalb dem aktiven Teil der
ArbeiterInnen. Zweifellos sind die beiden ersten Bedingungen in
Iran heute erfüllt. Dennoch wäre es leichtfertig und
unverantwortlich einfach zu behaupten, dass alle diese
Bedingungen in Iran in der momentanen Phase der Bewegung erfüllt
sind. Die dritte Bedingung – der Wille der ArbeiterInnenklasse
zu kämpfen ist derzeit noch nicht klar ersichtlich. Die
ArbeiterInnenklasse hat der Bewegung noch nicht ihren Stempel
aufgedrückt und als unabhängige Kraft agiert. Die vierte
Bedingung Lenins – eine revolutionäre, sozialistische
Massenpartei muss erst aufgebaut werden. Der Grad der
Bereitschaft von ArbeiterInnen, Kämpfe zu führen muss erst
ausgetestet werden – der Aufbau von gewählten Kampfkomitees und
unabhängigen Gewerkschaften muss begonnen werden. Die Tatsache,
dass die ArbeiterInnenklasse sich in ihrer Masse ihrer
unabhängigen Rolle nicht bewusst ist, ist ebenso wie die
Nicht-Existenz einer revolutionären Führung objektives
Hinderniss für die Revolution. Ohne eine präzise Einschätzung
dieser Faktoren ist es unmöglich, die Perspektiven und kommenden
Chancen für die sich entfaltende Revolution in Iran
abzuschätzen.
Führung des Regimes ist gespalten
Es gibt ganz klar eine große Spaltung im
Regime in Iran. Diese existiert sogar unter jenen Kräften, die
Ahmadinejad unterstützen. Diese Konflikte gehen sehr weit und
drehen sich darum, wie mit der Massenbewegung umzugehen ist, die
das Regime offenbar unvorbereitet getroffen hat. Die Festnahme
von Familienmitgliedern des ehemaligen Präsidenten Rafsanjani
zeigt wie weit die Spaltung in der herrschenden Elite reicht.
Bei dem Konflikt zwischen Ahmadinejad und Mousavi handelt es
sich ebenfalls um eine Spaltung in der herrschenden Klasse.
Während die Massen für Mousavi auf die Straße gehen und große
Hoffnungen und Illusionen in ihn haben, sind er und seine
Unterstützer jedoch selbst Teil des theokratischen Regimes.
Mousavi war selbst Premierminister zur Zeit der iranischen
Geiselkrise 1979 und verantwortlich für Repression gegen linke
AktivistInnen. Er hat auch nichts getan, um sich gegen die "fatwa"
zu Stellen, die Ayatollah Khomeini gegen Salman Rushdie verhängt
hat. Was er im Wahlkampf versprochen hat, war eine Reform des
bestehenden Systems, größere ökonomische Liberalisierung,
weniger Arbeitslosigkeit und "mehr Gleichheit" für Frauen – aber
alles im Rahmen des klerikalen Regimes. Sein Programm ist de
facto nichts als eine Reform von oben um Revolution von unten zu
verhindern und die bestehende Ordnung zu retten. Allerdings hat
diese wichtige und bedeutende Spaltung die Tür geöffnet, durch
die die Massen in die Arena des Kampfes strömen konnten. Die
Entschlossenheit Ahmadinejads und seiner Unterstützer, an der
Macht bleiben zu wollen, hat diese Spaltung noch vertieft. Die
Bestätigung von Ahmadinejads Sieg durch Ayatollah Khameini,
dessen Forderungen nach einem Ende der Proteste sowie die
Androhung von noch mehr Repression durch den religiösen Führer
vertieft den Konflikt und bringt ihn auf eine neue Ebene. Die
Bewegung hat mit Forderungen nach einer Reform des Systems
begonnen, findet sich nun aber in direkter Kollision mit dem
theokratischen Staat als ganzes. Zu Beginn des Spanischen
Bürgerkriegs hat Trotzki erklärt, dass Berenguer 1931 als
Türöffner fungiert hat und den Massen so ermöglicht hat in den
Kampf einzutreten. Das selbe kann von Mousavi gesagt werden, der
nun versucht die Tür, die er geöffnet hat, wieder zu schließen.
Trotz seiner Versuche steigt der Druck, diese Tür wieder zu
öffnen, allerdings stetig. Zur Zeit ist noch nicht klar, ob die
Massen bereit sind noch weiter bis zu einer direkten
Konfrontation zu gehen und damit die Bewegung nach vorne zu
bringen. Allerdings weisen die Berichte auf Twitter und Facebook
sowie Interviews mit Menschen in Iran darauf hin, dass Khameinis
Erklärung eine beachtliche Schicht sehr erzürnt hat. Studierende
an der Universität von Teheran haben eine andauernde Besetzung
nach seiner Erklärung am 19. Juni beschlossen. Sie haben für
einen Streik am 22. Juni aufgerufen. Allerdings waren die
Demonstrationen am 20. und 21. Juni angesichts des massiven
Einsatzes von Sicherheitskräften kleiner. Während die
Studierenden in dieser Bewegung großen Heldenmut bewiesen haben,
scheint das Ausmaß an Repression andere Teile der Bevölkerung
davon abgehalten zu haben, an den Protesten teilzunehmen. Das
wäre nicht geschehen, wenn die ArbeiterInnenklasse in
organisierter Weise der Bewegung ihren Stempel als unabhängige
Kraft aufgedrückt hätte. Es ist nun möglich, dass die Bewegung
angesichts der brutalen Repression eine Pause einlegt. Das ist
besonders der Fall, wenn die ArbeiterInnenklasse nicht
entschieden in den Kampf eintritt. Sollte das passieren, ist
sehr wahrscheinlich dass die Bewegung in naher Zukunft wieder
ausbricht. Allerdings haben die wachsenden Proteste der letzten
Wochen trotz Mousavis Demobilisierungsversuchen stattgefunden.
Er hat sogar eine Massenkundgebung abgesagt. Trotzdem strömten
hunderttausende auf die Straßen, und zeigten damit, dass die
Bewegung sich von unten entwickelt, trotz der Versuche der
Führung sie zu bremsen. Mousavi hat wie Ahmadinejad große Angst
vor der Massenbewegung – besonders als unabhängige Bewegung der
Arbeiterklasse.
Die Arbeiterklasse
Die entscheidende Frage, die sich nun
stellt, ist: Ist die Arbeiterklasse bereit, in die Bewegung
entschlossen einzutreten. Wenn sie das tut, dann wird das sehr
wahrscheinlich den Sturz des Ahmadinejad-Regimes bedeuten. Auch
wenn angeblich Arbeitslose und Teile der armen Bevölkerung sich
den Protesten in Nord-Teheran angeschlossen haben (einer
Mittelschicht-Gegend) und BauarbeiterInnen der Demonstration der
Opposition zugejubelt haben, als sie an ihnen vorbeizog, gibt es
noch keine Berichte über Streiks oder ArbeiterInnen, die ihre
eigenen Kampforganisationen aufbauen. Allerdings gibt es
Anzeichen, dass das nun in Ansätzen der Fall sein könnte. Die
Busfahrer von Teheran, mit ihrer langen Geschichte von Kämpfen
gegen das Regime, haben eine Erklärung abgegeben, die die
Bewegung und jene, die gegen die Repression des Regimes kämpfen,
unterstützt. Sie haben auch zu einem Protesttag am 26. Juni
aufgerufen. Es gibt auch Berichte dass die ArbeiterInnen aus der
Autoindustrie in Khodro einen 30-minütigen Streik zu Beginn
jeder Schicht abgehalten haben, um gegen die Repression durch
das Regime zu protestieren. Darüberhinaus haben die
BusfahrerInnen, obwohl sie die Proteste unterstützen, keinen der
Kandidaten in der Präsidentschaftswahl unterstützt, weil keiner
von ihnen die Interessen der ArbeiterInnenklasse repräsentiert.
Der Anführer der Busfahrer, Mansour Osanloo, sitzt gerade eine
5jährige Gefängnisstrafe ab wegen seiner Rolle bei der
Organisierung der Streiks in der Vergangenheit. Es gibt auch
Berichte, dass es Diskussionen über einen Generalstreik gibt.
Revolution ist ein lebendiger Prozess und entwickelt sich von
Stunde zu Stunde und Tag zu Tag weiter. Viele revolutionäre
Bewegungen haben mit den Studierenden und Teilen der
Mittelklasse begonnen. Die ArbeiterInnenklasse hat sich später
angeschlossen, und damit den gesamten Kampf auf eine neue,
höhere Ebene gehoben. Das war der Fall in Frankreich 1968, aber
auch in der Iranischen Revolution 1979. Die Frage ist, ob die
Bewegung bereit ist, angesichts der zunehmenden Repression, bis
zu Ende zu kämpfen und die notwendigen Schritte zu ergreifen um
das Regime zu konfrontieren und zu stürzen. Sollten Ahmadinejad
und sein Regime zu einer Politik von noch brutalerer Repression
greifen und es zur Ermordung weitere AktivistInnen kommt, dann
könnte das die ArbeiterInnen in den Kampf treiben. Einigen
Berichten zufolge wurden am 20. Juni mehr als ein Duzend
Menschen von den Sicherheitskräften getötet. Khameinis Erklärung
und der Einsatz des Staatsapparats war eine hochriskante
Strategie. Wenn größere Zusammenstöße stattgefunden hätten, die
den Tod von hunderten oder tausenden Menschen mit sich gebracht
hätten, dann hätte das bereits ein Auslöser dafür sein können,
dass sich die ArbeiterInnenklasse dem Kampf in bewusster und
entschlossener Art und Weise anschließt. Viele der Studierenden
kommen aus ärmeren Schichten und sind auf Beihilfen und
Studierendenkredite angewiesen, um studieren zu können.
Angesichts einer Explosion von Seiten der ArbeiterInnenklasse
gemeinsam mit der Jugend ist es sehr ungewiss, ob der
Staatsapparat und seine Repressionskräfte dem standgehalten
hätten. Obwohl es Erschießungen und brutale Attacken auf die
Studierenden der Universität Teheran gegeben hat, besonders
durch die Basiji, gibt es auch andere Berichte darüber, dass die
Basiji sich gewährt hätte, Protestierende anzugreifen. Die
soziale Zusammensetzung der Basiji macht sie ihrerseits
ebenfalls zu einer extrem unzuverlässigen Kraft gegen die
Demonstrierenden. Die Regierung behauptet, die Basiji umfassen
12 Millionen Mitglieder. Viele Kommentatoren sagen, dass sei
eine Übertreibung, und dass die tatsächlichen Zahlen nicht mehr
als die Hälfte davon betragen würden. Es ist relativ leicht,
sich dieser Organisation anzuschließen, verlangt nicht viel
Ausbildung und ist kein Vollzeitjob. Die Kernzahlen betragen
laut eines Berichtes sogar nur 90.000. Der Rest rekrutiert sich
aus deren Familien. Von diesen haben aber viele an den
oppositionellen Protesten teilgenommen. Sollte die Bewegung an
Stärkte gewinnen, besonders, wenn die ArbeiterInnenklasse
entschlossen und organisiert in den Kampf eintritt, dann könnten
Spaltungen und ein Fragmentierung in den diversen Flügeln des
Staatsapparats entstehen. Wichtige Teile davon könnten zur Seite
der Protestierenden überlaufen. Zweifellos fürchten zentrale
Vertreter des Regimes genau das. Diese Bewegung hat die massive
soziale Polarisierung und Spaltung entlang von Klassenlinien,
die in der iranischen Gesellschaft existieren, offensichtlich
gemacht. Wenn die Krise anhält und die Revolution nicht
entschiedene Schritte nach vorne macht und ein einer
Machtübernahme durch die ArbeiterInnenklasse unter Unterstützung
der Mittelklasse, Jugend und armen Bauern resultiert, dann
können andere Spaltungen ebenso entstehen. Es gibt ein starkes
nationales Bewusstsein in Iran. Allerdings besteht die
Bevölkerung aus einer Reihe ethnischer Gruppen. Rund 52% sind
PerserInnen, 24% Azeri, 8% Gilaki und Mazandarini und 7% Kurden.
Mousavi selbst hat auf einigen Kundgebungen in Azeri gesprochen.
Die Spaltung entlang ethnischer Linien ist eine Verkomplizierung
der Situation die ab einem gewissen Punkt auftauchen könnte. Das
Ausbrechen der Bewegung in Iran ist ein entscheidender
Wendepunkt im Kampf der Massen. Wir befinden uns noch in einem
frühen Stadium, aber die Situation ist weiter entwickelt als
1999 und entwickelt sich weiterhin sehr rasch. Es bleibt zu
sehen ob diese revolutionäre Krise mit wichtigen Elementen einer
vor-revolutionären Situation eher mit der Russischen Revolution
von 1905 zu vergleichen ist, oder jener von 1917. Die Revolution
1905 wurde niedergeschlagen, weil sie nicht die Unterstützung
der BäuerInnen in den ländlichen Gebieten besaß. Sie war eine
Vorwegnahme der Russischen Revolution von 1917. Letztere wurde
von der ArbeiterInnenklasse angeführt, mit der aktiven
Unterstützung und Einbeziehung der BäuerInnen. Der Unterschied
zwischen 1905 und 1917 könnte auch in der aktuellen Krise in
Iran eine Rolle spielen. 1905 sind die Massen, besonders die
ArbeiterInnenklasse in St. Petersburg, in Aktion getreten.
Ursprünglich appellierten sie, angeführt von einem Priester,
Vater Gapon, an den Zar. In Iran heute haben die Massen
demokratische Rechte und eine Reform des existierenden Systems
gefordert, aber auch religiöse Slogans gerufen. Allerdings
formierten die ArbeiterInnen in Russland 1905 mit dem Sowjet
eine eigene Organisation, die entscheidend war, und die 1917
wieder auftauchte. Diese oder ähnliche Entwicklungen scheinen
allerdings in Iran noch nicht stattgefunden zu haben. Die
Revolution 1905 wurde schließlich zerschlagen und eine Periode
der Konterrevolution und Repression folgte. Dennoch war 1905 ein
wichtiger Schritt hin zu 1917, als die ArbeiterInnenklasse
schließlich die Macht ergriff. Iran 2009 mag nur eine
Vorwegnahme einer sogar noch größeren späteren Bewegung sein.
Wenn das der Fall sein sollte, selbst wenn das aktuelle Regime
noch eine Zeit halten sollte, werden sich die soziale Krise und
die Widersprüche intensivieren und zu weiteren revolutionären
Unruhen und Aufständen führen. Das Fehlen einer wirklichen
revolutionären sozialistischen Partei und Führung und die
unzweifelhafte politische Verwirrung die nach 30 Jahren
religiösem Regime herrschen, sowie die ideologische Schwäche
international in Bezug auf die Frage einer sozialistischen
Alternative, bedeutet, dass die Revolution in Iran vermutlich
mehr Zeit braucht und die Entwicklung sich verzögert.
Sozialistische Alternative
Die Tatsache dass der "sozialistische"
Präsident von Venezuela, Hugo Chavez, skandalöserweise
Ahmadinejad unterstützt hat, trägt nur weiter zu Verwirrung bei.
Jene auf der Linken die aus opportunistischen Gründen über die
falsche Politik Chavez" gegenüber Ahmadinejad und anderen
Regimes (sowie über diverse andere Fehlern Chavez")
Stillschweigen bewahrt haben, haben nichts dazu beigetragen, den
Massen in Iran zu helfen, den richtigen Weg zu finden und die
Idee einer wirklichen sozialistischen Alternative aufzugreifen.
Die entscheidende Aufgabe in Iran ist es nun, wirklich
demokratische Organisationen aufzubauen, die den Kampf tragen
können. Das ist nötig um Ahmadinejad zu besiegen und die
Bewegung nach vorn zu bringen. Aktive Komitees müssen in jedem
Betrieb, jeder Uni und in jedem Bezirk aufgebaut werden, und
sowohl die ArbeiterInnenklasse als auch die Mittelschichten
umfassen. Diese müssen aus gewählten Delegierten bestehen, die
auch jederzeit von Massenversammlungen wieder abgesetzt werden
können. Vor allem müssten solche Komitees zu einem Generalstreik
aufrufen und an die Armee, die Revolutionsgarde und die Basiji
und andere repressive Organisationen des Staats appellieren,
sich der Bewegung anzuschließen, ihre Offiziere zu entfernen und
ihre eigenen Komitees aufzubauen. Der Appell für eine nochmalige
Stimmenzählung durch den bestehenden Staatsapparat wird die
Krise nicht lösen und verdient das Vertrauen der Menschen nicht.
Gewählte Komitees könnten die Basis für die Abhaltung von Wahlen
für eine Verfassungsgebende Versammlung sein, um die Zukunft des
Landes zu bestimmen. Demokratisch gewählte Komitees sollten die
Auszählung der Stimmen für eine solche Versammlung überwachen.
Durch die Etablierung einer Regierung der ArbeiterInnen und
Bauern unter einem revolutionären sozialistischen Programm um
mit dem Kapitalismus zu brechen, können demokratische Rechte und
Gleichstellung für alle Menschen in Iran, die jetzt vom
Kapitalismus und dem existierenden System ausgebeutet werden,
garantiert werden. Solche Forderungen würden das Recht auf freie
Versammlung, das Recht politische Parteien zu bilden sowie
unabhängige Gewerkschaften, das Recht auf Medien ohne
Staatszensur und die Entlassung aller politischer Gefangener
sowie jener, die im Kampf gegen das Regime gefangen genommen
wurden, beinhalten. Die neue Ära die in Iran nun anbricht
bedeutet auch, dass ArbeiterInnen und Jugend nun die nötigen
Schlussfolgerungen ziehen können, welches Programm und welche
Organisationen nötig sind, um einen anhaltenden Sieg und das
Ende von Diktatur und Armut zu sichern. Die Rolle von
revolutionären SozialistInnen ist es, sie dabei zu unterstützen,
diesen Weg zu gehen.
Editorische
Anmerkungen
Der Text erschien bei
sozialismus.info
Die Website
der SAV - Sozialistische Alternative
Wir
spiegelten von dort.
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