Bernard Schmid berichtet aus Frankreich
Krankgeschrieben und doch am Arbeiten?

06/09

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Konservativer Abgeordneter provoziert mit Gesetzesinitiative. Unterstützung aus dem Regierungslager bleibt im Augenblick überwiegend aus – mitten in der Wahlkampfperiode. Aber der Versuchsballon wäre schon einmal gestartet worden...

Immer wieder für „originelle“ Ideen und Vorschläge gut ist der konservative Abgeordnete Frédéric Lefebvre (UMP). Nur stammen sie häufig nicht von ihm, sondern sind ziemlich direkt auf dem Misthaufen des hyperaktiven Präsidenten Nicolas Sarkozy gewachsen, der die Botschaft durch den Mund des Parlamentariers aussprechen lässt.  

Lefebvre, der Mann fürs Grobe, hat eine neue Idee geschissen (pardon) und in einem parlamentarischen Zusatzantrag zu einer aktuell laufenden Gesetzesdebatte niedergeschrieben. Im Rahmen der derzeit im Gang befindlichen parlamentarischen Beratung des Gesetzentwurfs über das „(unentgeltliche) Ausleihen von Arbeitnehmern zwischen Unternehmen“ – das die Regierungspartei UMP in diesen Krisenzeiten gestatten und entwickeln möchte – legte der Abgeordnete einen Zusatzantrag vor, der Anfang dieser Woche bekannt wurde und ab Montag/Dienstag (25./26. Mai) zu ersten öffentlichen Reaktionen führte. Dabei handelte es sich um einen, verglichen mit dem Hauptthema der debattierten Gesetzesvorlage, themenfremden Antrag. Man nennt so etwas einen „parlamentarischen Läufer“. Er hat in der Regel die Funktion, einen Versuchsballon zu starten, um (mir nichts, Dir nichts) eine Debatte zu lancieren und die ersten Reaktionen auszutesten. Geht es schief oder fallen die widrigen Reaktionen allzu heftig aus, so lässt sich der auf diesem Wege unternommene Vorstob leicht zurückzunehmen, ohne total das Gesicht zu verlieren oder eine Niederlage einräumen zu müssen – mit dem Argument, dies sei ja im Augenblick „ohnehin nicht das Thema“, um das es gerade gehe. 

Gegenstand des „spontan“ gestellten parlamentarischen Antrags vom selben Tag, über den der „Ausschuss für Sozialpolitik“ der französischen Nationalversammlung am Montag Abend (den 25.o5.o9) beriet, ist das „Recht“ von Lohnabhängigen auf Bildschirm- oder Heimarbeit während einer Abwesenheit vom Arbeitsplatz im Krankheitsfalle sowie während eines Mutterschafts- oder Elternurlaubs. Bislang gilt, dass in diesen Fällen der o. die Lohnabhängige von der Arbeitspflicht entbunden ist und zunächst der „Arbeitgeber“, später (ab dem vierten Tage im Krankheitsfall) die Krankenkasse den Lohn fortbezahlt. Nicht so, ginge es nach dem Antrag von Frédéric Lefebvre: Ihm zufolge soll die oder der Lohnabhängige in solchen Fällen „freiwillig“, und von zu Hause aus, arbeiten dürfen. Wozu gibt es Bildschirmarbeit? Der Abgeordnete Lefebvre präsentierte dies als „neues Recht für die abhängig Beschäftigten“ (vgl. Dokument 1: http://www.lepost.fr ).  

Auch schon in anderen Fällen, etwa bei der geplanten Ausdehnung von Sonntagsarbeit unter Lohnabhängigen im Handel – ein Gesetzesentwurf dazu war im Januar/Februar o9 aufgrund allergischer Reaktionen (auch aus dem Mittelstand und Kleinhandel) zurückgezogen worden, kommt aber in doch ziemlich eingedampfter Form im Juli o9 wieder in die parlamentarische Beratung – und bei der im Herbst 2008 legalisierten Rente ab 70, war vordergründig betont worden, es passiere alles nur „auf freiwilliger Basis“. In diesem wie in anderen Fällen muss aber klar sein, welches Kräfteverhältnis zwischen „Arbeitgeber“ und „Arbeitnehmer“ unter den Voraussetzungen eines abhängigen Beschäftigungsverhältnisses – das nicht ohne Grund so heibt – besteht... 

Vorteil aus Sicht der Lohnabhängigen? Laut Frédéric Lefebvre: „...ihren Lohn (oder ihr Gehalt) aufrecht zu erhalten.“ Nun besteht freilich auch in Frankreich das Prinzip der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall (bislang ohne Abschläge), Ähnliches gilt im Mutterschafts- oder Elternurlaub. Aber, so führt Lefebvre hinterher aus, bei Annahme seines Vorschlags könnten so „die Sozialkassen entlastet werden“. Und da rücken wir des Pudels Kern schon näher. 

Der zuständige Parlamentsausschuss lehnte am Montag Abend den Antrag des Abgeordneten Lefebvre ab. Auch Vertreter der Regierungspartei UMP stimmten dagegen, präsentierten Frédéric Lefebvre dabei aber fälschlich als völlig auf eigene Faust handelnden Parlamentarier und Quasi-Individualisten (‚franc-tireur’). Unterdessen betonte Lefebvre am Dienstag früh in einer ersten Reaktion, er werde seinen Antrag in naher Zukunft erneut vorlegen. (Vgl. Dokument 2: http://www.lepost.fr/

Das Regierungslager hat Lefebvre bislang nicht offen unterstützt. Im Namen der Regierung erklärte am Dienstag Nachmittag die „Staatssekretärin für die Entwicklung der digitalen Ökonomie“, Nathalie Kosciusko-Morizet (NKM), ihr Uneinverständnis. Sie kritisierte das Vorgehen des UMP-Abgeordneten in der Form – es habe „keinerlei Konsultation der Sozialpartner“ zum Thema gegeben (was sich freilich ‚im Notfall“ noch durchführen liebe..) -, aber auch in der Sache (es handele sich beim Kranken- oder Mutterschaftsschutz „um ein Recht, das den abhängig Beschäftigten gehört“). „Um der Polemik ein Ende zu setzen“, kündigte NKM jedoch auch gleich an, eine Untersuchungskommission zum Thema „Bildschirmarbeit“ einzusetzen (vgl. Dokument 3: http://www.lepost.fr/ ), freilich mit den salbungsvollen Worten, „es gebe nichts Schlimmeres als aufgezwungene Bildschirmarbeit“ zu Hause. - Gewichtigere Regierungsvertreter/innen als die, pardon, Unterministerin im Wirtschafts- und Finanzministerium meldeten sich zunächst nicht zu Wort. 

Andere Spitzenpolitiker des konservativ-liberalen Bürgerblocks gingen vorsichtig zu Lefebvres Vorschlag auf Distanz, ohne ihn jedoch klar und scharf zu verurteilen. Der Chef der UMP-Parlamentsfraktion, Jean-François Copé, erklärte nur, er habe „keine Meinung“ zu einem Text, den er „nicht genau angeguckt“ habe. (Zitiert lt. ‚Libération’ vom Mittwoch, 27.o5.o9) Der Parteichef der UMP – und frühere, bis im Januar dieses Jahres amtierende, Arbeits- und Sozialminister – Xavier Bertrand seinerseits räumte ein, Lefebvre habe ihm den Inhalt seines Antrags zuvor, bevor er ihn stellte, mitgeteilt. (Vgl. Dokument 2) In der Sache mochte er ihn zunächst nicht ausdrücklich unterstützen, auch wenn er am Dienstag früh erklärte, die Idee sei „interessant“. (Vgl. http://www.france-info.com/)  

Allerdings fügte Xavier Bertrand vor den Mikrophonen des Radiosenders France-Info auch hinzu: „Dafür, dass neue Ideen in diesem Land Platz bekommen, braucht es sehr viel Ausdauer, sehr viel Engagement. Frédéric Lefebvre mangelt es daran nicht, zum Glück.“ (Zitiert n. ‚Libération’, a.a.O.) Das klingt doch schon sehr wie ein Kompliment – und eine Aufforderung, auf demselben Weg weiterzumachen! Selbst wenn Bertrand leicht kryptisch hinzufügte, er unterstütze „eher Lefebvre (persönlich) als seinen Vorschlag“ (zitiert lt. ‚Le Monde’, Ausgabe vom Donnerstag, den 28.o5.o9).  

Mutmablich geht es dem Regierungslager, zumindest nach auben hin, derzeit zuvörderst darum, das Thema aus dem Europaparlamentswahlkampf heraus zu halten. Derzeit führt die regierende UMP in den Vorwahl-Umfragen haushoch vor der französischen Sozialdemokratie als der stärksten parlamentarischen Oppositionspartei (mit circa 27  % der Stimm-Absichten, gegenüber inzwischen unter 20 Prozent für den ‚Parti Socialiste’). Ihren Wahlkampf bestreitet sie überwiegend mit den Themen „Innere Sicherheit“, „Jugendgewalt“ zuzüglich „Einwanderung“ und „Nein zum EU-Beitritt der Türkei“. Und es funktioniert! Trotz der zu Anfang des Jahres angespannten sozialen Atmosphäre im Lande muss die Regierungspartei nicht fürchten, bei den Wahlen offen desavouiert zu werden. Allerdings wird die Wahlenthaltung, wie fast überall in der EU, wohl auberordentlich hoch ausfallen. Dass das Regierungslager derzeit keine (auch nur symbolischen) Sanktionen von den Wähler/inne/n befürchten muss, hängt allerdings auch mit der Schnarch„strategie“ der Gewerkschaftsspitzen zusammen: Der jüngste „Aktionstag“ von acht Gewerkschaftsverbänden am Dienstag dieser Woche, der quasi ohne Streik (mit Ausnahme von Teilen des Eisenbahnverkehrs) und ohne Demonstrationen auskam, blieb ein absolutes Nicht-Ereignis. In der Hauptstadt Paris demonstrierten rund 500 Menschen, das höchste der Gefühle wurde in Toulouse mit (lt. gewerkschaftlichen Angaben) rund 10.000 Demonstrierenden vor dem Hintergrund lokaler Arbeitsplatzkämpfe erreicht... – Warum sollte das Regierungslager sich da das erwartete „schöne“ Wahlergebnis durch zu frühes Vorpreschen versauen? Vor diesem Hintergrund müssen die derzeitigen halbherzigen Distanzierungsmanöver betrachtet werden. Bemerkenswert ist, dass ein traditionell so starke Rückendeckung „von ganz oben“ (d.h. aus dem Elysée-Palast) geniebender Abgeordneter wie Frédéric Lefebvre just in dieser Situation seinen Antrag stellte – auch wenn ihm das eigene politische Lager zunächst nicht oder nicht offen Gefolgschaft leistete, um im Augenblick mal nichts anbrennen zu lassen. Reaktionärer Unmut eines Flügels der Bourgeoisie, der der Auffassung ist, ihm könne momentan nun wirklich gar nichts gefährlich werden (obwohl der frühere Premierminister von 2005 bis 07, Dominique de Villepin, am 19. April vor einem ‚Revolutionsrisiko’ – ‚Risque révolutionnaire’ – warnte, vgl. http://www.rue89.com/)? Persönliches Abenteurertum des Abgeordneten Lefebvre? Kommunikationspanne? Eine gezielte und bewusste Provokation, um den Handlungsspielraum der Opposition genau auszumessen? Oder aber ein Signal an den grob- und kleinbürgerlichen „harten Kern“ der eigenen Wählerschaft der Konservativen, das im Zusammenhang mit den Wahlen betrachtet werden muss? Vielleicht auch von alledem ein bisschen...    

Gewerkschaftliche Reaktionen 

Die parlamentarische Opposition reagierte scharf auf den Vorstob. Im Namen des Parti Socialiste (PS), dessen Oppositionsstrategie sich aber im Augenblick nicht wirklich auszahlt, kritisierten mehrere Abgeordnete – unter ihnen die Parteipromis Benoît Hammon und Jean-Marc Ayrault - einen Rückschritt hinter bestehende soziale Errungenschaften. Es gehe zurück ins 19. Jahrhundert, so sinngemäb der für Arbeit & Beschäftigung zuständige PS-Sprecher Alain Vidalies, der aber zudem noch einiges patriotisch unterlegtes Zeugs zum Thema „angelsächsische Verhältnisse versus französisches Sozialmodell“ absondern zu müssen glaubte. (Vgl. Dokument 2) Auch der christdemokratische Zentrumspolitiker François Bayrou, der zur Zeit der parlamentarischen Opposition angehört – und sich sogar zu ihrem Wortführer aufzuschwingen, und dabei  den PS auszustechen versucht -  sprach von einem „neuen sozialpolitischen Rückschritt“. 

Von gewerkschaftlicher Seite kamen ebenfalls ablehnende Reaktionen; das Gegenteil hätte freilich auch wirklich sehr  verwundern müssen. Allerdings weigerte sich die Mehrheit der Gewerkschafts-Repräsentanten zunächst, den Antrag Lefebvres offiziell zu kommentieren, wohl um ihn nicht aufzuwerten und um der Diskussion darüber nicht noch zusätzlich Auftrieb zu verleihen. Die „Nummer Zwei“ der CGT, Maryse Dumas, stufte den Vorstob Frédéric Lefebvres als „Ablenkungsmanöver, um nicht von anderen Themen reden zu müssen“, ein. 

Der Generalsekretär des populistisch schillernden Gewerkschaftsverbands FO (Force Ouvrière), Jean-Claude Mailly, reagierte als einer der Ersten darauf. Er warf die Frage auf, ob der Abgeordnete Lefebvre nicht künftig auch „die Toten arbeiten lassen“ wolle. Zu den meistzitierten Reaktionen zählt ferner auch jene der stellvertretenden Generalsekretärin des christlichen Gewerkschaftsbunds, der CFTC, Pascale Coton – was sicherlich damit zusammenhängt, dass die CFTC sich in besonderem Mabe den „Schutz des Familienlebens“ auf ihre Fahnen geschrieben hat. Coton schlug sarkastisch vor, man solle es den Frauen doch gleich „erlauben, ihre Kinder am Arbeitsplatz zur Welt zu bringen“, und ferner „schon ab dem ersten Tag der Geburt des Kindes betriebseigene Kindertagesstätten einrichten – 24 Stunden am Tag und auch Sonntags geöffnet“.
 

Editorische Anmerkungen

Den Text  erhielten wir vom Autor.