Alte Armut - Neue Armut.
Theoretische und empirische Aspekte des Pauperismus

von Richard Albrecht

06/08

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onlinezeitung

Dieser Text ist ein Vorgriff, genauer: Der Autor präsentiert (s)eine an Carl Marx (und Friedrich Engels) angelehnten Vorstellungen von Pauper(ismus) in Form eines konzeptionellen Leitfadens als Beitrag zu einer von ihm für möglich -und wünschenswert- gehaltenen wissenschaftlichen Debatte und öffentlichen Diskussion. Daran anschließen soll sich ein auf die deutsche Gegenwartsgesellchaft bezogenes sozialwissenschaftliches Modell zur Strukturierung überschüssigen lebendigen Arbeitsvermögens (der sogenannten ´industriellen Reservearmee´) in verschiedenen Formen der ´relativen Übervölkerung´. Dabei soll es darauf ankommen, entsprechend der Dynamik des Kapitalakkumulationsprozesses auch die Statik bisheriger Klassenbildungs- und Schichtungsprozesse zu überwinden und die wirkliche, raumzeitlich gegebene, Mehrschichtigkeit aller gesellschaftlichen Vorgänge und Sozialprozesse („the multidimensionality of human beings in society“ [Eric J. Hobsbawm]) zu bedenken und einen „wissenschaftlichen Zugriff zur mehrdimensionalen konzeptionellen Strukturierung gesellschaftlicher Prozesse und geschichtlich-gesellschaftlicher Lagen und Zeiten“ zu versuchen, der der „grundlegenden Vorstellung von konkret-historisch immer gegebener, empirisch sowohl offen als auch verdeckt vorkommender, Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen und Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigkeit“ (Albrecht 1991, 317/318) entspricht. Daran könnte dann in Form behutsamer empirischer Dimensionierung/en durch sekundärstatistische Analysen angeschlossen werden. – Dieser Aufsatz ist die (Erst-) Druckfassung meines Anfang Oktober im grin-online-Projekt unter http://www.hausarbeiten.de/faecher/hausarbeit/sok/24673.html und
http://www.grin.de/grin/hausarbeit/sok/24673.html veröffentlichten Netzbeitrags.

1. Ausgangspunkt

Denken und Werk von Carl Marx (1818-1883) stehen in zahlreichen komplexen Zusammenhängen und dialektischen Spannungsfeldern: auf der intellektuell-wissenschaftlichen Ebene zum Beispiel sind zentrale Problemfelder die philosophische Subjekt-Objekt-Problematik, die Wissenschaftsmethodologie von Besonderem und Allgemeinen, das richtungsweisende Verhältnis von gesellschaftlichem Gesetz und sozialer Tendenz und schließlich das widersprüchliche Verhältnis von Theorie und Empirie. Auf der publizistischen Ebene sind zum Beispiel Moral und Wissenschaft -hier vor allem Kritik der politischen Ökonomie und/als Schlüssel zum Verständnis der Analyse der Anatomie der ´bürgerlichen ´Gesellschaft´ (G.F.W.Hegel), ihrer Veränderung durch soziale Bewegungen, schließlich Studium und Beeinflussung dieser- zwei zentrale Interessensfelder.

Der moralische Ausgangspunkt und Impetus ist im Werk von Marx leicht erkennbar, zum Beispiel in seinem anonymen Artikel („Von einem Rheinländer“) über die Verhandlungen des sechsten rheinischen Landtags zum Holzdiebstahl in Form des „Holzdiebstahlsgesetz“ (1842). Marx verweist hier auf die –zeitgemäß ausgedrückt – gesellschaftliche Bedeutung und Wirksamkeit von Definitionsmacht: Wenn nämlich den Armen das bisher durch Gewohnheitsrecht garantierte Recht „der Armut in allen Ländern“, das „seiner Natur nach nur das Recht dieser untersten besitzlosen und elementarischen Masse sein kann“ (MEW 1, 115) genommen wird – dann werden sie nicht nur entrechtet, sondern auch einer für ihr (Über-) Leben zentralen Handlungsmöglichkeit, (Feuer-) Holz zu schlagen, beraubt - mit allen Wirksamkeiten fürs wirkliche Leben (früheres Sterben eingeschlossen...)

In einem weiteren „frühen“ Text –der damals so unvollendeten wie unveröffentlichten Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie (1844)- skizziert Marx (s)einen aus (s)einer Kritik der Religion entwickelten kategorischen Imperativ: Wenn der „Mensch das höchste Wesen für den Menschen“ ist, dann gilt es, so Marx, „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“ (MEW 1, 385)

Der „reife“ Marx analysiert als Sozialwissenschaftler diese gesellschaftlichen „Verhältnisse“ und entwickelt, wie zuerst an der Bedeutung des „Holzdiebstahl“ skizziert, (s)einen Begriff von Gesellschaft als Ensemble, als Gesamtheit, schließlich als ´konkrete Totalität´ im übergreifend-allgemeinen Sinn, indem er die Hegel´sche dialektische Methode, „vom Abstrakten zum Konkreten Aufzusteigen“ und sich das Konkrete intellektuell anzueignen, „es als ein geistig Konkretes zu reproduzieren“ (MEW 13, 632), benützt: Aus dieser Sicht besteht Gesellschaft – so Marx 1857/58 in seinen Vorarbeiten zum „Kapital“ - „nicht aus Individuen, sondern drückt die Summe der Beziehungen, Verhältnisse aus, worin diese Individuen zueinander stehn“ (Grundrisse, 176).

2. Pauperismus und relative Deprivation

2.1. Pauper(ismus)

Der inzwischen sowohl in der Umgangssprache als auch sozialwissenschaftlich ungebräuchliche Begriff Pauper(ismus), auf den sich auch im höchstnützlichen ´Etymologischen Wörterbuch des Deutschen´ (ed. Pfeifer, 1995³) kein Hinweis findet, spielt in Marx´ Kritik der politischen Ökonomie im allgemeinen und seiner systematischen Herausarbeitung des allgemeinen Gesetzes des kapitalistischen Akkumulationsprozesses im Zusammenhang mit der „Produktion der relativen Übervölkerung“ (MEW 23, 673) eine zentrale Rolle („Das Kapital“ I, 23. Kapitel; MEW 23, 640-740).

Noch vor drei Generationen war der Begriff des Pauperismus lexikalisch bekannt: Das „Weimarer“ Meyers Lexikon (7. Auflage 1928, Bd. 9, 483) umschreibt ihn bündig als „(neulat.) Massenarmut“. Pauper (*pauperis; *paucus) als Eigenschaftswort/Adjektiv bedeutete im Alten Rom (immer im Gegensatz zu reich) arm, unbemittelt, nicht begütert. Pauper war, wer zumindest mäßig, bescheiden oder beschränkt, wenn nicht gar ärmlich oder armselig lebte. Entsprechend meint das (meist im Plural gebrauche) Hauptwort/ Substantiv pauper (der Arme und) die Armen und paupertas den Zustand der Armut.

(Soweit ich weiß wurde historisch in Gegensätzen gedacht, also arm u n d reich, Herr u n d Knecht, Ausgebeutete u n d Ausbeutende gedanklich zusammengebracht. Dieses kontradiktorische Verständnis auch von Pauper[ismus] ist sicherlich noch keine Dialektik, aber ihre Voraussetzung und zugleich vom Verständnis her unabdingbar zur dialektischen Aufhebung auch des Arm-Reich-Verhältnisses. In literarischen Texten wird dieses Verständnis von Pauper und Armut ausgedrückt, etwa in der short story Mark Twains ´The Prince and the Pauper´[i] oder in diesem Vierzeiler von Bertolt Brecht: "Armer Mann und reicher Mann, standen da und sahen sich an. Und der Arme sagte bleich: Wär ich nicht arm, wärst Du nicht reich".)

Im aktuellen online-Lexikon Wikipedia wird ausdrücklich auf die geschichtliche Dimension des Pauperismus verwiesen, wenn es heißt:

„Als Pauperismus bezeichnet man die aufkommende Massenarmut im 19. Jahrhundert. Die Ursache des Pauperismus liegt in der Industrialisierung begründet, welche die Handarbeit durch Maschinen ersetzte. Die darauffolgende Entlassung von Arbeitern führte daraufhin zu einer Massenverelendung“  (zitiert nach http://www.uni-protokolle.de/Lexikon/Pauperismus.html )

Weiter ausgeholt heißt es recht treffend im online-´Wörterbuch der Sozialpolitik´ über Pauper(ismus):

"Die Begriffe Pauper und Pauperismus erscheinen in der englischen Sprache zu Beginn des 19. Jahrhunderts, womit eine neue Form der Armut bezeichnet wurde: nicht eine individualisierte Armut oder eine solche, die mit außerordentlichen Umständen wie z.B. schlechten klimatischen Bedingungen gekoppelt ist, sondern eine Massenarmut, die, wie es scheint, mit der Entwicklung der Industrialisierung und des Reichtums unvermeidbar gekoppelt ist. Ein französischer Betrachter gebraucht folgende entlarvende Formulierung: ´Der Pauperismus ist, will man ihn durch ein einziges Wort definieren, die Epidemie der Armut´ (Émile Laurent 1865). In seinem großen Werk ´De la misère des classes laborieuses en Angleterre et en France´ (1840) behauptet Eugène Buret, daß ´der aus England entliehene Ausdruck des Pauperismus die Gesamtheit aller Phänomene der Armut umfasst. Dieses englische Wort soll für uns Elend im Sinne von gesellschaftlicher Plage, öffentliches Elend bedeuten.´ Das Wort Pauperismus ist allmählich außer Gebrauch geraten, und zwar weil man immer mehr die verschiedenen Ursachen der Armut (Alter, Krankheit, Arbeitslosigkeit usw.) zu verstehen begann und sich das System der modernen Sozialpolitik verbesserte.“  (zitiert nach http://www.socialinfo.ch/cgi-bin/dicopossode/show.cfm?id=450 )

In der Tat wurde die breit angelegte, vor gut hundert Jahren als Buch publizierte und inzwischen ´klassische´ Studie nicht unterm Titel Pauperism, sondern als Poverty – also Armut -, publiziert (Rowntree 1901).

2.2. Relative Deprivation

Auch ich habe darauf hingewiesen, daß der inzwischen sozialwissenschaftlich gebräuchliche Terminus ´relative Deprivation´ sowohl allgemein „Verlust, Mangel und Entbehrung“ meint als auch im speziellen „nicht mehr traditionelle Formen von Armut und Verelendung, sondern zeitgenössische Formen und Praxen ökonomisch begründeter kultureller Ausgrenzung und sozialer Ausschließung vom vorhandenen gesellschaftlichen Reichtum und gegebenen Möglichkeiten zur Bedürfnisbefriedigung“ bedeutet. Und weiter: „Das umfassende sozialwissenschaftliche Leitkonzept [relative Deprivation] wird in der kritischen Armutsdiskussion angewandt, etwa um zunächst unsichtbare existentielle Mängellagen zu erkennen, empirisch zu dimensionieren und für Armutsberichte zu quantifizieren [...] Entscheidendes Merkmal des Konzepts [relative Deprivation] ist die soziale Ausschließung von Menschen von gesellschaftlichen Lebenschancen, sozialen Lebensformen und kulturellen Handlungspraxen“ (Albrecht 1998, 99). Es geht in der Tat auch bei relativer Deprivation um „Marginalisierungs- und Ausgrenzungsprozesse“ (Seppmann 2004, 30) als Folge klassengesellschaftlich bestimmter Produktions- und Aneignungsformen des vorhandenen gesellschaftlichen Mehrprodukts.

2.3. Ausblick

In diesem Beitrag wird es um Pauper(ismus) als Zentralkategorie marxistisch orientierter Theorie und Empirie gehen - wobei zu zeigen sein wird, daß Pauper(ismus) keineswegs nur ein historischer, sondern ein im historischen Sinn auch höchst aktueller gesellschaftlicher Prozeß ist, weshalb Begriff und Konzept (im Sinne relativer Deprivation) nach wie vor für jede kritische Gesellschaftsanalyse systematisch bedeutsam sind. Es geht nämlich, so der britische Armutsforscher Peter Townsend (1979), immer schon ums „Fehlen oder die Verknappung von Nahrungsmitteln, Annehmlichkeiten, soziokulturellen Standards, Dienstleistungen und Handlungsformen, die eine Gesellschaft kennzeichnen und allgemein vorhanden sind“ und darum, daß „die Menschen, die diese Lebensbedingungen, welche erst Gesellschaftsmitglieder ausmachen, nicht haben und denen sie fehlen, in Armut leben“ (zitiert nach Albrecht 1998, 99). Mit anderen Worten: Vorhandensein von Pauper(ismus), Armut und relative Deprivation und ihr empirisches Ausmaß zeigen wesentliche soziale Mängellagen an, die system-soziologisch als ´negative Integration´ erscheinen und theorie-marxistisch als „deformierte Vergesellschaftung“ (Heinz Jung) und subjekt-wissenschaftlich als „verstörte Vergesellschaftung“ (Richard Albrecht) bezeichnet worden sind.

3. Lumpenproletariat und relative Übervölkerung

3.1. Lexikalisches zum Lumpenproletariat

Wikipedia ("the free online-encyclopedia") präsentiert nicht nur einen höchstrespektablen ausführlichen englischen Eintrag unterm deutschen Stichwort: Lumpenproletriat, sondern führt zugleich auch angemessen ins Problemfeld und seinen grundlegenden Doppelaspekt ein:

"The lumpenproletariat (German Lumpenproletariat, "rabble-proletariat") is a term used by Marxists to describe the section of the proletariat that can't find legal work on a regular basis. These may be prostitutes, beggars, or homeless people [...] Karl Marx and Friedrich Engels jointly invented the term in 1845-1846 as they wrote up their famous second joint work entitled The German Ideology. There are presently two main views of how to define the concept of the lumpenproletariat: there is the modern day usage, one form of which is generally as given above, and there is the creators' 1845-1846 usage, which reflects how Marx and Engels created the concept. Reduced to its most basic components, the creators' 1845-1846 usage was such that Marx and Engels defined the lumpenproletariat as being those people within the historical working class who were not proletariat. Thus the creators' term referred to a fairly large proportion of the historical working class and the entire population.

The more modern usage, as noted above, has evolved on a tangent from the creators' usage due largely to a lack of modern access to the complete works of Marx and Engels or, put a bit more crassly, simply because modern users of the term have not read and fully comprehended all 70 uses of the term lumpenproletariat as outlined by Marx and Engels in over 40 documents. Modern users of the term lumpenproletariat prefer instead to rely on only a select few uses of the term within a select few documents which are - often quite accidentally - the most extremely used in their context by the term's inventors. As a result, the modern usage of the term tends to refer to a fairly small proportion of the entire population [...]

As Marx and Engels would have it, the concept of lumpenproletariat was their creation in response to a theoretical and practical problem that they had in developing their own unique model of class analysis. Their joint problem could be summed up as having to correctly answer this simple theoretical and practical question: 'Why does a section of the historical working class not behave or interact as any normal proletariat should interact? Or how do you account for those in the historical working class who do not interact as normal proletariat should interact, say, for example, how do you explain those in the working class who simply consume far too much alcohol or are just too ambitious to fit the role of normal proletariat?'. Their joint theoretical and practical answer to these problems was quite simple: 'A certain section of the historical working class are not historical proletariat but are, rather, historical lumpenproletariat´. [...] To Marx and Engels, the term proletariat is not equivalent in meaning to the term working class. To them, the term proletariat is a historical or diachronic concept while the term working class is an ahistorical or synchronic concept.

The lumpenproletariat is a historical concept, like the proletariat. Marx and Engels argued that the proletariat had a good sense of class consciousness, while the lumpenproletariat did not. The lumpenproletariat were essentially obedient to the wishes of the historical bourgeoisie (ahistorical middle class) and the aristocracy.

According to modern users, the lumpenproletariat existed outside the wage-labor system, and individuals of the lumpenproletariat often depended on the bourgeoisie and the aristocracy for their day-to-day existence. Hence, modern users contend, the lumpenproletariat had no real motive for participating in revolution, and may have in fact an interest in preserving the current class structure. In that sense, Marx and Engels saw the lumpenproletariat as a counter-revolutionary force; on this last point, modern users are in agreement with them.

In their post-1845-1846 economic writings, Marx and Engels began to think of the proletariat as being composed of those workers doing productive labour, while the lumpenproletariat was composed of workers doing unproductive labour. (See Adam Smith's 1776 publication The Wealth of Nations for the major work on defining productive labour and unproductive labour, on which Marx and Engels rely.)

The more colloquial modern use of the term "lumpenproletariat" to mean the chronically unemployed has some overlap with Marx's and Engels' usage, but lacks the specific meaning that Marx's usage had in the context of his theory of class-consciousness and historical materialism.

As a last point, modern users of the term "lumpenproletariat" tend to think that it has a German language origin. However, because Marx and Engels were both multilingual, this belief should be called into question. There are a number of Germanic languages - English, Dutch, etc - which use the prefix 'lumpen'. In addition, in the modern German language, there exist numerous alternate prefixes which mean essentially the same thing as does the prefix 'lumpen', and it must therefore be asked why Marx and Engels did not select one of these alternate prefixes." (zitiert nach http://en.wikipedia.org/wiki/Lumpenproletariat)

3.2. Politikgeschichtliches zum Lumpenproletariat

Der Begriff: Lumpenproletariat wurde zuerst von Carl Marx und Friedrich Engels im öffentlich im „Manifest der Kommunistischen Partei“ (1848) und seitdem meist in polemischer Abgrenzung zum Proletariat und der aktiven Arbeiterbewegung benützt. Freilich gebrauchten Marx/Engels diesen Begriff schon in der Einleitung, dem Feuerbachteil, ihrer zuerst 1932 veröffentlichten Polemik „Die deutsche Ideologie“ 1845/46. Dort erwähnen sie den geschichtlichen Stand der in der antiken Sklavenhaltergesellschaft „zwischen Freien und Sklaven stehenden Plebejer, die „es nie über ein Lumpenproletariat hinaus(brachten).“ (MEW 3, 23). In der im „Manifest“ vorgestellten ersten sozialen und Klassengliederung unterm Zentralaspekt der Aufhebung der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft und ihrer gesellschaftlichen Trägergruppen haben Marx/Engels beständig eine besondere Gruppe der Unterschichten jeder bürgerlichen Gesellschaft im polemischen Blick: Das Lumpenproletariat, „diese passive Verfaulung der untersten Schichten der alten Gesellschaft“. Den lumpenproletarischen sozialen Habitus voraussagen die Autoren im „Manifest“ so: „...wird durch eine proletarische Revolution stellenweise in die Bewegung hineingeschleudert, seiner ganzen Lebenslage nach wird es bereitwilliger sein, sich zu reaktionären Umtrieben erkaufen zu lassen“ (MEW 4, 472).

Auch wenn der Begriff Lumpenproletariat weder im vorbraunen ´Meyer´ (1927) noch im aktuellen ´Etymologischen Wörterbuch´ (1995³) vorkommt – so ist dieser Begriff auch seiner abwertenden Hauptbedeutung sowohl im Deutschen als auch im Englischen („Lumpen“) so negativ besetzt, daß der israelische Völkermordforscher Yehuda Bauer kürzlich Angehörige der nazideutschen Völkermordelite (´genocidal elite´) als (nihilistisch-destruktiv-dystopische) Lumpenintellektuelle bezeichnete (Bauer dt. 2001, 53; ähnlich schon, argumentativ behutsamer: Hallgarten 1938).

Marx selbst hat sich, dem Grundhinweis im „Manifest“ und dem ´labouristischen´ Ansatz mit der Unterscheidung zwischen produktiver und unproduktiver (Lohn-) Arbeit im Sinne Adam Smith´ folgend (vgl. MEW 26.1., 363-388) und ohne zu gesamtgesellschaftlich tragfähigen Analysen zu kommen, im Rahmen seiner sozialwissenschaftlichen Kritik der politischen Ökonomie für „den unbeschäftigten Arbeiter“ und für lumpenproletarische „Gestalten“ wie etwa den „Spitzbuben, Gauner, Bettler“ und „den unbeschäftigten, verhungernden, elenden und verbrecherischen Arbeitsmenschen“ (Ökonomisch-Philosophische Manuskripte [1844]; MEW 40, 523/524) nicht interessiert. Insofern waren diese lumpenproletarischen Sozialfiguren kein Gegenstand der Kritik der politischen Ökonomie.

Marx (und Engels) beschäftigen diese „Gestalten“ hingegen immer dann, wenn´s politiksoziologisch um die Untersuchung realer Sozialbewegungen wie die in den „Klassenkämpfen in Frankreich“ (1850) aufscheinenden ging: Im „Achtzehnten Brumaire des Louis Bonaparte“ (1852) galt ihm, und folgend jeder marxistischen Orthodoxie, „Lumpenproletariat“ als „Auswurf, Abfall, Abhub aller Klassen“. Und Marx verdammte diese Sozialgestalten: "(...) zerrüttete Roués mit zweideutigen Subsistenzmitteln und von zweideutiger Herkunft, verkommene und abenteuerliche Ableger der Bourgeoisie, Vagabunden, entlassene Soldaten, entlassene Zuchthaussträflinge, entlaufene Galeerensklaven, Gauner, Gaukler, Lazzaroni, Taschendiebe, Taschenspieler, Spieler, Maquereaus, Bordellhalter, Lastträger, Literaten, Orgeldreher, Lumpensammler, Scherenschleifer, Kesselflicker, Bettler, kurz, die ganze unbestimmte, aufgelöste, hin- und hergeworfene Masse, die die Franzosen la bohème nennen" (MEW 8, 160/161; vgl. auch Friedrich Engels´ Wertung dieses "Abhub[s] der verkommenen Subjekte aller Klassen, der sein Hauptquartier in den großen Städten aufschlägt" als "absolut käufliches Gesindel“: MEW 7, 536).

Schon in seiner Vorstudie zum „Achtzehnten Brumaire“, den „Klassenkämpfen in Frankreich“, hatte Marx das Lumpenproletariat einleitend (und nicht ohne sarkastische Nebenbemerkungen zur „Finanzaristokratie“, die „in ihrer Erwerbsweise wie in ihren Genüssen nichts als die Wiedergeburt des Lumpenproletariats auf den Höhen der bürgerlichen Gesellschaft“ ist) als gesellschaftliche Außenseiter und Ausgestoßene der französischen Bourgeoisie und namentlich als Bordellbesucher, Insassen von Armen- und Irrenhäusern und (Schwer-) Verbrecher beschrieben (MEW 7, 15) und hervorgehoben, daß es sich bei diesen (später von napoleonischen Mobilgarden rekrutierten) „jungen Leuten“ vorwiegend um Angehörige des Lumpenproletariats handelte. Diese Sozialschicht bildete –so Marx- „eine vom industriellen Proletariat genau unterschiedene Masse: ein Rekrutierplatz für Diebe und Verbrecher aller Art, von den Abfällen der Gesellschaft lebend, Leute ohne bestimmten Arbeitzweig, Herumtreiber, gens sans feu et sans aveu, verschieden nach dem Bildungsgrade der Nation, der sie angehören, nie den Lazzaronicharakter verleugnend (MEW 7, 26; das französische Wortspiel übersetze ich ganz frei als: Kein Dach überm Kopf, aber im Kopf ´n Dachschaden;-))

3.3. ´Sphäre des Pauperismus´: relative Übervölkerung und allgemeines Gesetz der kapitalistischen Akkumulation

Unabhängig von Marx´ (und Engels) politikhistorischen Analysen interessiert Carl Marx im Zusammenhang mit seiner Kritik der politischen Ökonomie und der „Sphäre des Pauperismus“ ´das Lumpenproletariat´ als sozialökonomische Kategorie und besondere soziale Gruppe und vor allem fürs „eigentliche Lumpenproletariat: Vagabunden, Verbrecher, Prostituierte“ (MEW 23, 673) nicht. Entsprechend erwähnt Marx dieses auch nur beiläufig unterm Doppelaspekt der „Produktion der relativen Übervölkerung“ (das Irrwort: Überbevölkerung benützt Marx nicht), ihrer verschiedenen Formen und ihrer inneren Gliederung („Intrastruktur“) einerseits und des sich daraus ergebenden allgemeinen gesellschaftlichen Gesetzes der Kapitalakkumulation andererseits (MEW 23, 670-677). In diesem Zusammenhang geht es auch um das Modell einer Schichtung/Dreigliederung von (i) industrieller Reservearmee als Übergreifend-Allgemeinem, (ii) Pauperismus als Besonderem und (iii) Lumpenproletariat (im engeren Sinn: „Verkommene, Verlumpte, Arbeitsunfähige“) als Einzelnem. Pauper(ismus) hingegen als besondere – auch empirisch bedeutsame - Kategorie bezielt weder Einzelheiten noch Allgemeines, sondern bildet als Ausdruck des allgemeinen gesellschaftlichen Prozesses der relativen Übervölkerungsproduktion „das Invalidenhaus der aktiven Arbeiterarmee und das tote Gewicht der industriellen Reservearmee“ (MEW 23, 673). In diesem Zusammenhang verweist Marx dann nicht nur auf die (auch ehemalige Angehörige des Industrieproletariats umfassende) pauperisierte und vom Lumpenproletariat zu unterscheidende „Lazarusschichte der Arbeiterklasse“ – sondern arbeitet, viel wesentlicher, auch „das absolute, allgemeine Gesetz der kapitalistischen Akkumulation“ (MEW 23, 674) heraus:

„Der tiefste Niederschlag der relativen Übervölkerung endlich behaust die Sphäre des Pauperismus. Abgesehn von Vagabunden, Verbrechern, Prostituierten, kurz dem eigentlichen Lumpenproletariat, besteht diese Gesellschaftsschichte aus drei Kategorien. Erstens Arbeitsfähige. Man braucht die Statistik des englischen Pauperismus nur oberflächlich anzusehn, und man findet, daß seine Masse mit jeder Krise schwillt und mit jeder Wiederbelebung des Geschäfts abnimmt. Zweitens: Waisen- und Pauperkinder. Sie sind Kandidaten der industriellen Reservearmee und werden in Zeiten großen Aufschwungs [...] rasch und massenhaft in die aktive Arbeiterarmee einrolliert. Drittens: Verkommene, Verlumpte, Arbeitsunfähige. Es sind namentlich Individuen, die an ihrer durch die Teilung der Arbeit verursachten Unbeweglichkeit untergehn, solche, die über das Normalalter eines Arbeiters hinausleben, endlich die Opfer der Industrie, deren Zahl mit gefährlicher Maschinerie, Bergwerksbau, chemischen Fabriken etc. wächst, Verstümmelte, Verkrankte, Witwen etc. Der Pauperismus bildet das Invalidenhaus der aktiven Arbeiterarmee und das tote Gewicht der industriellen Reservearmee. Seine Produktion ist eingeschlossen in der Produktion der relativen Übervölkerung, seine Notwendigkeit in ihrer Notwendigkeit, mit ihr bildet er eine Existenzbedingung der kapitalistischen Produktion und Entwicklung des Reichtums. Er gehört zu den faux frais der kapitalistischen Produktion, die das Kapital jedoch großenteils von sich selbst ab auf die Schultern der Arbeiterklasse und der kleinen Mittelklasse zu wälzen weiß.

Je größer der gesellschaftliche Reichtum, das funktionierende Kapital, Umfang und Energie seines Wachstums, also auch die absolute Größe des Proletariatsund die Produktivkraft seiner Arbeit, desto größer die industrielle Reservearmee. Die disponible Arbeitskraft wird durch dieselben Ursachen entwickelt wie die Expansivkraft des Kapitals. Die verhältnismäßige Größe der industriellen Reservearmee wächst also mit den Potenzen des Reichtums. Je größer aber diese Reservearmee im Verhältnis zur aktiven Arbeiterarmee, desto massenhafter die konsolidierte Übervölkerung, deren Elend im umgekehrten Verhältnis zu ihrer Arbeitsqual steht. Je größer endlich die Lazarusschicht der Arbeiterklasse und die industrielle Reservearmee, desto größer der offizielle Pauperismus. D i e s i s t d a s a b s o l u t e, a l l g e m e i n e G e s e t z d e r k a p i t a l i s t i s c h e n A k k u m u l a t i o n. Es wird gleich allen andren Gesetzen in seiner Verwirklichung durch mannigfache Umstände modifiziert, deren Analyse nicht hierher gehört“ (MEW 23, 673/674).

3.4. Aktualisierung/en: Arbeitende Arme in Deutschland 2004

Das soweit ich sehe auch in einer dynamisch-fluiden Form aus (s)einer Kritik der politischen Ökonomie heraus entwickelte Schichtungsmodell (des Pauperismus) mit doppelt offenen Übergängen –nämlich einmal ´nach oben´ innerhalb hin zu den beschäftigten Kernen und zum anderen ´nach unten´ in unstete und (Unterbeschäftigungs-) Verhältnisse hin zum Lumpenproletariat außerhalb der abhängig arbeitenden Klasse mit besonderen Schichtungsprozessen- ist der spezielle sozialwissenschaftliche Beitrag von Marx. Ich halte es, zumindest aus der Optik eines alternativen Forschungsparadigmas (Albrecht 1991; vgl. Albrecht 1990) nicht für ausgeschlossen, daß dies ein gerade heute angemessener konzeptioneller Ansatz zum komplexen Untersuchungsfeld der (in der anglophonen Diskussion so genannten) „working poor“-Problematik ist: Denn wenn gewerkschaftliche Hinweise (ver.di 2004) in der Tendenz empirisch richtig sind –daß nämlich teilgesellschaftlich, in den ´alten Bundesländern´ („Westdeutschland“) der deutschen Gegenwartsgesellschaft, etwa ein Drittel aller abhängig-vollzeitlich Beschäftigten sowohl in Niedrig- als auch in Armutslohnbereichen arbeiten, also aktuell weniger als 75 bzw. 50 Prozent des ´durchschnittlichen effektiven Vollzeitverdienstes´ (derzeit etwa 2884 € monatlich) verdienen u n d es gesamtgesellschaftlich-bundesweit etwa 130 gesetzliche anerkannte Tarifverträge mit Bruttoentgelten unter sechs € pro Stunde oder unter 1.000 € monatlich gibt -, dann ist dies eine so beredte wie aktuelle Veranschaulichung für den sozialökonomischen Status der Sozialfigur des formell freien Lohnarbeiters („free labourer“) als „virtueller Pauper“ (Marx, Grundrisse, 487). Und wie beim historischen Pauper(ismus) gibt es auch hier bei diesen gesamtgesellschaftlich-bundesweiten etwa neun Millionen statistisch erfaßbaren betroffenen armen Menschen als ´working poor´ beide Entwicklungstrends: minderheitlich den des möglichen Einbezugs in die festen Beschäftigungssegmente abhängig Arbeitender, mehrheitlich den des wahrscheinlichen Ausschlusses aus der sozialen Klasse derer, die von Verkauf ihrer Arbeitskraft als Ware und der Vernutzung ihres lebendigen Arbeitsvermögens leben (müssen). Die realempirischen Übergänge müssen dabei keineswegs immer direkt sein: Es gibt auch Misch- und/oder zudem zeitlich verschobene Zwischenformen als Zugangsweisen zur ´lumpenproletarischen´ Pauperisierung und Verarmung: etwa prekäre Selbständigkeit/en, überwiegende Unterbeschäftigung/en, Unterbringung/en in sozialalimentierten Scheinarbeitsverhältnissen (zweiter/dritter Arbeits“markt“) mit zunehmendem anstaltlichem Zwangscharakter und mehr. Für all diese gilt jenseits der sozialwissenschaftlich-empirisch bestimmten Armutsgrenze: Wenn niemand, deren/dessen Nettomonatseinkommen weniger als derzeit etwa 930 € monatlich beträgt, gepfändet werden darf, mindestens 930 € monatlich/netto pro Erwerbsperson derzeit als „Selbstvorbehalt“ folglich zum (Über-) Leben gesetzlich als „Pfändungsgrenzen für Arbeitseinkommen“ nach § 850 c 1 Zivilprozessordnung/ZPO in der Neufassung vom 22. 7. 2002 festgeschrieben sind und erst ab 940 € pro Monat „Arbeitseinkommen“ gepfändet werden darf (BGBl. 2001/I, Nr. 69, 3641 [Tabelle]),– dann liegt nach dieser Legaldefinition im gegenwärtigen Deutschland unterhalb von 930 € die Armutszone (Diese Aussagen beziehen sich auf statistisch erfaßbare offene und insofern sichtbare soziale Verhältnisse. Das Dunkelfeld - tertium excludendum – außer- und unterhalb dieser in typischerweise so illegalen wie verdeckten Bereichen außerhalb jeder tarifvertraglicher Regelungen ist auch im Marx´schen Sinn mitgedacht...kann aber hier nicht empirisch abgeschätzt werden).

Im Bereich der Empirie im allgemeinen und der Arbeit mit statistischen Daten und Materialien im besonderen bedenke ich methodisch immer: So wenig wie Aussagen über soziale und Menschengruppen als Maßstab für Individuen taugen – so sehr darf nicht vergessen werden, daß Carl Marx im Zusammenhang mit dem grundlegendem gesellschaftlichen Prozeß der relativen Übervölkerungsproduktion ein sozialwissenschaftliches Modell entwickelte, mit statistischen Daten veranschaulichte und selbstverständlich – so auch im dritten Band des „Kapital“ ausdrücklich betont - wußte, daß Theorie und Empirie niemals identisch sein können, sondern daß es sich vielmehr nur um ein asymptotisches Verhältnis der Annäherung handelt kann:

"In der Theorie wird vorausgesetzt, daß die Gesetze der kapitalistischen Produktionsweise sich rein entwickeln. In der Wirklichkeit besteht immer nur Annäherung; aber diese Annäherung ist umso größer, je mehr die kapitalistische Produktionsweise entwickelt und je mehr ihre Verunreinigung und Verquickung mit Resten früherer ökonomischer Zustände beseitigt ist“ (MEW 25, 184)

3.5. Ausblick

Hannah Arendt folgte in ihrer Mob(führer)these den politikhistorischen Hinweisen von Marx und sprach vom Mob als „Volk in seiner Karikatur“, „Unterwelt der Bourgeoisie“, deren „Treulosigkeit sprichwörtlich“ ist (Arendt, dt. Neuauflage 1986, 187/188; 542). Dem entspricht auch der Hinweis in Meyers Lexikon (1928, 7. Auflage, Bd. 8, 584) auf den Mob (mobile vulgus, wörtlich: „beweglicher, wandelbarer Haufen“) als „Pöbel“.

Theodor Geiger unterschied in seiner bedeutenden empirischen Studie über die soziale Schichtung des deutschen Volkes 1932, teilweise zeitgeistkritisch, zwischen Lumpenproletariat im engeren Sinn („sucht seinen Vorteil ohne Rücksicht auf die Klassengenossen“, „Streikbrecher“, „ohne Klassenbewußtsein [und] moralisches Rückgrad“, „Blätter im Winde“, „Asylisten“) und einem Elendsproletariat („objektiv bis aufs äusserste proletarisiert“, „in verzweifelter persönlicher Situation“). Aus beiden freilich – so Geiger wieder Marx-analog und invektiv – bilde sich „das Revolutionsgesindel“ (Geiger 1962, 258/259).

Zum Abschluß dieser kleinen Übersicht erwähnenswert noch eine andere Sozialkategorie, gesamtgesellschaftliche Splittergruppe und Residualkategorie mit ihr zugeschriebenem besonderen Sozialhabitus und Lebensstil: Die Bohème (ausführlich Kreuzer 1968; 1971²). Das ´Etymologische Wörterbuch´ umschreibt Bohème als „Milieu ungebunden lebender Künstler“ und drückt damit im Kern deren Selbstverständnis, Sozialbild, gesellschaftliches „image“ (als sozialpsychologische Selbst- und Fremdzuschreibung/Auto- und Heterostereotyp zugleich) aus.

Um Lumpenproletariat, Mob und Bohème wird es auch im geplanten zweiten Teil dieses Beitrags nicht gehen. Diese sozialökonomisch alimentierten „unteren Schichten“, Sozialgruppenfragmente und Splitterkategorien haben auch Marx und Engels als Sozialwissenschaftler nicht interessiert. Ihre von Marx/Engels (übereinstimmend abfällig) kommentierten peripheren, marginalen, exkludierten, ausgegrenzten und randständigen Soziallagen, Lebensumstände und Sichtweisen waren beiden analytisch kaum zugänglich. So gesehen, haben sich (in der Terminologie von Claus Offe [1994, 238]) Marx/Engels wohl ausgiebig mit den aktuellen gesellschaftlichen ´Verlierern´: Proletariat/Arbeiterklasse und ihren Antipoden: Bourgeoisie/Bürgertum unter der Perspektive ihrer Transformation zu gesellschaftlichen ´Gewinnern´ als historischen Akteursgruppen wissenschaftlich und politisch beschäftigt - nicht aber mit den ihrer Auffassung nach ´Untauglichen´. Diese nehmen, aus marxistischer Sicht, im gesellschaftlichen Handlungsfeld als zu selbstbewußtem, interessen- und konfliktgeleiteten sozialem Handeln unfähige Gruppen den Platz des ausgeschlossenen Dritten („tertium excludendum“) ein.

Unabhängig von diesen ´theoretischen´ Fragen könnte sich, auch im heutigen ´modernen´ Deutschland und noch im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts, hierzulande zeigen, daß und wie jede durch ´relative Übervölkerung´ hervorgerufene und durch tiefgreifende Pauperisierungsprozesse beförderte materielle Armut und die mit ihr immer einhergehende soziale Ausgrenzung, trotz alledem, als kulturelle Armut praktisch leichter aufhebbar sein werden als alle durch Apathie, Resignation, Fatalismus, Zerstörung und Zukunftslosigkeit gekennzeichnete „Kultur der Armut“ (so Oscar Lewis´ Kernthese [Lewis 1970, 67-80]), die sich heuer, mehr nolens als volens, auch in der so gegen- wie widerwärtigen deutschen Gegenwartsgesellschaft nachhaltig entwickelt.

[i]

The Prince and the Pauper

In the ancient city of London on a certain autumn day in the second quarter of the sixteenth century, a boy was born to a poor family of the name of Canty, who did not want him. On the same day another English child was born to a rich family of the name of Tudor, who did want him. All England wanted him too. England had so longed for him, and hoped for him, and prayed God for him that now that was really come, the people went nearly mad for joy. Mere acquaintances hugged and kissed each other and cried.

Everybody took a holiday, and high and low, rich and poor, feasted and danced and sang, and got very mellow ; and they kept this up for days and nights together. By day London was a sight to see, with gay banners waving from every balcony and housetop and splendid pageants marching along. By night it was again a sight to see, with its great bonfires at every corner and its troops of revellers making marry around them. There was no talk in all of England but of the new baby, Edward Tudor, Price of Wales, who lay lapped in silks and satins , unconscious of all this fuss, and not knowing that great lords and ladies were tending him and watching over him - and not caring either .But there was no talk about the other baby, Tom Canty, lapped in his poor rags, except among the family of paupers whom he had just come to trouble with this presence.

Mark Twain

 

Literatur

Albrecht, Richard
Umbruchslagen. Materialien zur Theorie und Methodologie des beschleunigten gesellschaftlichen Wandels. Forschungsbericht. Mannheim: Forschungsstelle für Gesellschaftliche Entwicklungen/FGE, 1990
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.
Von den Selbstheilungskräften zu den Selbstabschaffungstendenzen des Marktes. Zur Kritik des real-existierenden Kapitalismus; in: Gewerkschaftliche Monatshefte, 42 (1991) 8, 508-515
ders.
The Utopian Paradigm – A Futurist Perspective; in: Communications, 16 (1991) 3, 283-318.
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Aus der Not eine Tugend ? Von sozialer Ausgrenzung zum neuen kulturellen Modell; in: SWS-Rundschau, 31 (1991) 3, 363-382
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Arendt, Hannah,
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Die dunkle Seite der Geschichte. Die Shoah in historischer Sicht. Interpretationen und Re- Interpretationen. Ffm: J.B. Metztler, 2001

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„Fremdheitskomplex“ und Übernationalismus. Beiträge zur Sozialgeschichte der deutschen Rassenideologie; in: Zeitschrift für Freie Deutsche Forschung, 1 (1938) 1, 82-108

Geiger, Theodor
Arbeiten zur Soziologie (ed. Paul Trappe), Berlin- Neuwied 1962 [= Sammlung Luchterhand 7]

Kreuzer, Helmut
Die Bohème. Analyse und Dokumentation der intellektuellen Subkultur vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Stuttgart: J.B. Metzler, 1968 [SM-Studienausgabe 1971²]

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Anthropological Essays. New York: Random House, 1970, 525 p.

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Verhandlungen des 6. rheinischen Landtags: Debatten über das Holzdiebstahlgesetz [1842]; in: Marx-Engels-Werke/MEW, Berlin: Dietz, 1968, 4. Auflage, Band 1, 109-147

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ur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie [Einleitung 1844]; in: MEW 1, 378-391
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Ökonomisch-Philosophische Manuskripte [1844]; MEW 40 [Ergänzungsband], 467-588
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Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848-1950 [1850]; in: MEW 7, 11-107
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Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte [1852]; in: Marx-Engels-Werke, Band 8, 111-207
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Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie (Rohentwurf) [1857-1858]; Berlin: Dietz, 1974²
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Abschweifung (über produktive Arbeit) [1862/63]; in: MEW 26.1, 363-388
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Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band: Der Produktionsprozess des Kapitals [1867]; in: Marx-Engels-Werke, Band 23
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Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Dritter Band: Der Gesamtprozess der kapitalistischen Produktion [1894]; in: Marx-Engels-Werke, Band 25
ders. [und] Friedrich Engels
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Offe, Claus
Moderne „Barbarei“: Der Naturzustand im Kleinformat ? in: Journal für Sozialforschung, 34 (1994) 3, 229-247

Pfeiffer, Wolfgang (ed.)
Etymologisches Wörterbuch des Deutschen; München: Deutscher Taschenbuch Verlag/dtv 3358, 1995³ [ =2., durchgesehene und ergänzte Auflage]

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Poverty: A Study in Town Life. London: McMillan, 1901

Runciman, W. G.
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Townsend, Peter
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ver.di
ver.di publik 10.2004 (Oktober 2004), 20 („Reportage“) [und] Beiheft („Arbeit darf nicht arm machen“)

Editorische Anmerkungen

Den Text  erhielten wir vom Autor mit der Bitte um Zweitveröffentlichung.

Richard Albrecht hat in Cultural Studies promoviert, in Politikwissenschaft habilitiert und in den letzten dreißig Jahren fünfzehn Bücher, etwa 650 weitere Texte, zwei Curricula und einen Leitfaden zur online-Recherche veröffentlicht. Seine wichtigste wissenschaftliche Publikation ist der 1991 erschienene Essay ´The Utopian Paradigm´. Richard Albrecht ist seit Mitte 2000 ´älterer schwerbehinderter Mensch´, ehrenamtlich Lehrbeauftragter („Sozialwissenschaftliche Grundlagen des Verwaltungshandelns“), Richter („Jugendschöffe“) und Editor des unabhängigen online-Magazins für Bürgerrechte http://rechtskultur.de/ . Der Autor lebt in Bad Münstereifel (NRW).

Seine weiteren Websites sind erreichbar unter:

NOTE: Der Autor hat uns eine umfassende Darstellung seiner wissenschaftlichen und publizistischen Tätigkeit als PDF-Datei zur Verfügung gestellt.