Bernard Schmid berichtet aus Frankreich

Erster Durchgang der Parlamentswahlen in Frankreich:
GEMEIN! NICOLAS SARKOZY SÄUFT DAS WÄHLERRESERVOIR DER EXTREMEN RECHTEN LEER
06/07

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„Das Ende der Le Pen-Jahre“ verspricht das sozialliberale Wochenmagazin ‚Nouvel Observateur’ von der Titelseite seiner neuesten Nummer (14. Juni 07). „Le Pen, das Ende“ kündigte die linksliberale Pariser ‚Libération’ eine Woche zuvor über mehrere Seiten hinweg an, in ihrem Tagesthema vom Donnerstag, 07. Juni. Auch ein Leitartikel der Pariser Abendzeitung ‚Le Monde’, gezeichnet vom Redakteur Arnaud Laparmentier, in der Ausgabe vom Abend des 11. Juni ist übertitelt mit ‚FN, fin’ (Front  National, Ende).  

Hingegen beschwört Marine Le Pen, die Tocher des Parteichefs, der mit den oben zitierten Überschriften ins Visier genommen wurde (ihr eigenes Ende war wohl nicht gemeint, das politische ‚Aus’ für ihren Vater aber schon) am Abend des ersten Durchgangs der französischen Parlamentswahl: „Der FN hat einen Rückschlag erhalten, (...) aber der Front National ist nicht tot.“ Diese Worte sprach sie am Abend des 10. Juni in Hénin-Beaumont, wo sie als einzige Parlamentskandidat der rechtsextremen Partei in ganz Frankreich den Einzug in die Stichwahl an diesem Sonntag (17. Juni) schaffte.  

Dass die Tochter und potenzielle Nachfolgerin von Jean-Marie Le Pen (der seit seiner Gründung im Oktober 1972 dem rechtsextremen Front  National als autokratischer Boss vorsteht) extra erwähnen muss, dass der vom Herrn Papa gegründete Verein „nicht tot“ sei – es spricht nicht dafür, dass die Organisation sich in besonders guter Form befindet. Aber ist es nicht dennoch voreilig, nicht nur den nahenden Abschluss der politischen Karriere Jean-Marie Le Pens vorauszusagen - was aus Altersgründen nicht gar so schwer ist (der Mann wird am 20. Juni dieses Jahres nun 79) -, sondern auch dem FN das „Ende“ zu prognostizieren? Wahrscheinlich schon: Die österreichische Erfahrung der Jahre 2002 bis 2006 hat erwiesen, dass auch eine extreme Rechte, die mehrere schwere Krisen, einen erheblichen Rückgang ihrer Wählerschaft und sogar eine Spaltung hinter sich, dadurch noch nicht von der Bildfläche verschwindet. Die beiden rechtsextremen Parteien in jenem Land, FPÖ und BZÖ, erhielten immerhin bei der Parlamentswahl vom 1. Oktober vergangenen Jahres noch immer 15 Prozent der Stimmen (ein höherer Anteil als bei Wahlen in den beiden Jahren zuvor).  

Den Rest wird die nähere Zukunft erweisen müssen, was den französischen Front National betrifft. Fest steht jedoch, dass er im Moment seinen politischen Meister gefunden hat – in Gestalt des Nicolas Sarkozy. Der hat es geschafft, durch offensiven Umgang mit der Anhängerschaft Le Pens und manifestes Anknüpfen an dessen Vokabular  (an einigen Punkten) mit einigem Erfolg um frühere Wähler/innen des FN zu werben. 

Vorläufige Bilanz: 1996 bis 2007 

Der rechtsextreme FN hatte sich trotz einiger Versuche (unerklärte Bündnisse mit konservativen Rechten in den Regionalparlamenten nach deren Neuwahl im März 1998) als unfähig erwiesen, eine Perspektive der politischen Machteroberung oder –beteiligung zu finden.  

Stattdessen setzten der Chef der rechtsextremen Partei und ihre führenden Kader zeitweise auf eine geradezu „revolutionäre“ Demagogie. So forderte Jean-Marie Le Pen im April 1996 bei einer Veranstaltung im Pariser Traditionssaal La Mutualité „die Politiker“ donnernd dazu auf, „auf friedliche Weise zu gehen, solange der Zorn des Volkes ihnen dazu noch die Zeit lässt“. „Wie unter der Monarchie“ könne man daran denken, fügte er hinzu, eine Reihe korrupter Politiker „aufzuhängen“. Am darauffolgenden 1. Mai sprach er von  Aussichten auf einen „Bürgerkrieg“ (und der Karikaturist von ‚Libération’  zeichnete junge kahlgeschorene Anhänger mit den Worten:  „Chef, um wieviel Uhr ist der Bürgerkrieg?“).  Im Oktober 1996 nahm der damalge FN-Generalsekretär  (und jetzige ‚Generalbeauftragte’) Bruno Gollnisch, im Anschluss an eine Saalveranstaltung gegen den „neuen Totalitarismus“ in Gestalt der Anti-Rassismus-Gesetzgebung, an einer unangemeldeten und ungenehmigten Kranzniederlegung am Grabmahl des unbekannten Soldaten unter dem Pariser Arc de Triomphe teil. Dabei wurde ein Polizist, der dort Wache hält, von Angehörigen des unifomierten FN-Ordnerdiensts DPS (Département Protection-Sécurité, „Abteilung Schutz und Sicherheit“, wird sonst zum Saalschutz und bei Aufmärschen eingesetzt) in die Höhe gehoben und vom Platz getragen. Gollnisch kommentierte: „So beginnen alle Revolutionen.“ Aber die Konzeption, ähnlich wie der historische Faschismus oder Nazismus eine „revolutionäre“ Demagogie und den durch die soziale Krise verschafften Rückwind zu nutzen, um sich zur „Alternative zum abgewirtschaften System“ aufzuschwingen, ging nicht auf. Die Kurve der (Wahl-)Erfolge des Front National ähnelt nicht wirklich dem historischen Aufstieg der NSDAP, den manche (intern,  aber natürlich nicht nach auben hin erklärt) als Blaupause für die Profilierung des FN als „Fundamentalopposition zu den antinationalen Systemparteien“  benutzen wollten.  

Die Abnutzung einer solchen Strategie zeigte sich schon im Herbst desselben Jahres 1996, in dem der FN den Lautsprecher seiner „revolutionären“ Demagogie voll aufgedreht hatte und die Gründung eigener „Gewerkschaften“ zu Jahresanfang lanciert hatte. Bei einer Bürgermeisterwahl in Dreux, die aufgrund eines Gerichtsurteils wiederholt werden musste, im November 1996 verfehlte die FN-Kandidatin Marie-France Stirbois zum zweiten Mal die 50-Prozent-Mehrheit. Wie schon anlässlich der Rathauswahl im Juni 1995 (dem Termin der frankreichweiten Abhaltung der Kommunalwahl) erhielt  Stirbois gut 39 Prozent der Stimmen. Aber gerade in Dreux, einer in die Krise geschlitterten Industriestadt rund 80 Kilometer westlich von Paris, hatte man ein Erreichen der absoluten Mehrheit für den FN durchaus für plausibel halten können: Bei einer Nachwahl für einen freigewordenen Parlamentssitz im Dezember 1989 hatte Marie-France Stirbois in Dreux (vor dem Hintergrund einer starken Enthaltung der Linkswählerschaft im zweiten Wahlgang, des frankreichweiten Aufflammens der „Kopftuch-Polemik“ rund um moslemische Schülerinnen und der dabei entfesselten Emotionen, sowie vor den Kulissen des Berliner Mauerfalls und des „Endes des (Real-)Sozialismus“) stolze 61,3 Prozent der Stimmen gesammelt. Noch im März 1994 hatte sie einen Sitz im Bezirksparlament mit 54 Prozent erobern können. Aber in den beiden darauffolgenden Jahren fiel ihr Einfluss, und sowohl 1995 als auch 1996 erhielt sie jeweils gut 39 Prozent: Das Publikum schien zum Teil auseinanderzulaufen. Einige FN-Prominente zeigten daraufhin regelrechte Anzeichen reaktionärer Verzweiflung: Der damalige Boss der FN-Jugend, Samuel Maréchal, fragte sich  öffentlich, ob es für Dreux nicht „zu spät“ sei, ob die Stadt nicht  „physisch und moralisch bereits ‚immigrée’“ (also ausländisch) geworden sei. Bruno Gollnisch hatte vor der Wahl getönt, dies sei „die letzte Chance für Dreux“, da im Falle eines Scheiterns „die Herkunftsfranzosen mit den Füben abstimmen“ und die Stadt verlassen würde. Die Partei-Wochenzeitung ‚National Hebdo’ zeigte damals eine lange Warteschlange von fremdländisch aussehenden Menschen vor einer Wahlurne, und in ihrer Mitte einen einsam wirkenden „Herkunftsfranzosen“  mit  Baskenmütze auf dem Kopf und einem Wahlzettel mit der Aufschrift „FN“ in der Hand.  

Solche reaktionäre Verzweiflung ist aber kein guter Antriebsmotor, um erfolgreich um Masseneinfluss zu werben. Derselbe Samuel Maréchal, der oben zitiert worden ist, zog daraus übrigens die Konsequenz und plädierte im Frühsommer 1999 – infolge der kurz zuvor erfolgten Parteispaltung und des Auszugs der Mégret-Anhänger, damit auch vieler der rassebiologisch argumentierten Neuheiden unter den Kadern – für ideologische Lockerungsübungen. Die Partei möge „die multikonfessionelle Realität des Landes“  anerkennen, also indirekt auch die Präsenz von Einwanderern  (von denen eine bestimmte moslemischer Konfession sind), foderte Maréchal damals. Zum Jahresende 1999 wurde er damals zum Schweigen gebracht,  vor allem Altkader wie Carl Lang (heute noch beim FN, aber im Oktober 2005  von seinem Posten als Generalsekretär geschasst) oder Jacques Bompard (heute bei den Rechtskatholiken unter Philippe de Villiers ansässig), tönten, eine solche programmatische „Selbstaufgabe“ und Verrat von Grundpositionen  kämen nicht in Frage. Aber in den letzten 6 Monaten haben die „Modernisierer“ rund um Marine Le Pen, die als „strategische Leiterin“ des Präsidentschaftswahlkampfs 2006/07 u.a. das umstrittene FN-Plakat mit der jungen ‚farbigen’ Französin durchgesetzt hatte (vgl. http://www.trend.infopartisan.net/trd0107/t140107.html, Artikel  mitsamt  Abbildung) erneut an den damaligen strategischen  Vorstob Samuel Maréchals an. Letztgenannter selbst ist freilich innerparteilich längst weg vom Fenster, zumal Maréchal inzwischen nicht mehr (wie zur Zeit seines maximalen Einflusses) mit der „mittleren“ der drei Töchter Jean-Marie Le Pens, Yann, verheiratet ist. 

Nun aber sorgten die ideologischen Lockerungsversuche dafür, dass viele Altsympathisanten das Profil der Partei nicht länger wiedererkannten. Das  Bemühen  darum, sich  zugleich als (gegenüber der Vergangenheit) relativ immigrantenfreundlich und „nicht-sonderlich-rassistisch“ zu erweisen und zugleich ein diffuses rechtes „Rebellentum“ an den Tag zu legen, trug keine Früchte. Im innerparteilichen Streit mit den Auftritten des schwarzen  französischen Antisemiten Dieudonné (von denen wiederum Marine Le Pen dem Vernehmen nach nicht sonderlich begeistert ist:  zu diskretierend,  „zu viel Schwefelgeruch“) verknüpft, wird das Bemühen  um eine Änderung des Parteiimages heute eher verdammt. Das Ringen um ein „modernes, lockeres, mediengerechtes“ Auftreten und Image wird als Ursache für einen Profilverlust bis zur Unkenntlichkeit aufgefasst. Vor allem die bürgerlich-konservativen Wähler flohen (nachdem ein Teil von ihnen bereits in  den früher 1990er Jahren durch die sozialdemagogische Wende des FN vorübergehend abgestoben worden war und bei der Parlamentswahl 1993 wieder konservativ wählte... - bevor manche von ihnen aus Enttäuschung über die „schlappe“ und durch Durchsetzung reaktionärer „Reformen“ unfähige Regierung Chirac/Juppé ab 1995/97 nochmals FN zu stimmen begannen), und  schlossen sich im Angesichts des Wischi-Waschi-Kurses des FN lieber dem aufstrebenden konservativen Star Nicolas Sarkozy an. Denn dieser versprach eine entschlossene Durchsetzung von Veränderungen, im konservativ-reaktionären Sinne – aber auch gleichzeitig im wirtschaftsliberalen und „der Globalisierung gegenüber aufgeschlossenen, die notwendige Wettbewerbsfähigkeit und Modernisierung schaffenden“ Sinne.  

Aus diesem Grunde sind die Tendenzen dennoch widersprüchlich, und während ein Teil der bisherigen FN-Wähler durch Sarkozy angezogen wird, flüchtet sich ein anderer Teil derzeit in die Stimmenthaltung. Und ein kleinerer Rand wählte bei den Präsidentschaftswahl sogar aus taktischen Gründen den Christdemokraten und Mann der „bürgerlichen Mitte“ François Bayrou, um nämlich bei der Umgruppierung der bürgerlichen Rechten mit dabei sein zu können. Und um den Neoliberalen und „amerikanischen Rechten“ Sarkozy möglichst zu behindern, bzw. ihm gegenüber einen „französisch-bodenständigen“ Pol innerhalb des bürgerlichen Lagers mit dem Traktorfahrer (im Wahlkampf) François Bayrou zu stärken. Zudem trat Bayrou im Vorfeld der Präsidentschaftswahl mit einer Agitation „gegen das System der Zwei-Parteien-Herrschaft“ (von UMP und Sozialdemokratie) auf und versprach Umwälzungen in der Konfiguration der Parteienlandschaft. Diese Postur als „Anti-System-Kandidat“, auch wenn sich dahinter ein erzbürgerliches und todlangweiliges Vorhaben verbarg (Bayrouy nahm die Grobe Koalition in der BRD als Vorbild, um eine „Zusammenarbeit der fähigen Leute jenseits von Links und Rechts“ zu predigen – was Nicolas Sarkozy  prompt umsetzte, indem er der sozialdemokratischen Parlamentsopposition mehrere seiner Minister abwarb), mag zumindest  unter den bürgerlichsten Ex-Wählern Jean-Marie Le Pens manch einen angesprochen haben. Diese Tendenz vom ‚vote Le Pen’ hin zur Stimmabgabe für Bayrou, die von der Rechtsextremismus-Spezialistin von ‚Le Monde’ (Christiane Chombeau) zwei mal in Artikeln kurz  angesprochen wurde, hat es durchaus gegeben. Sie blieb allerdings gegenüber den groben Strömungen, aus dem Block der früheren FN-Wähler hin zu Nicolas Sarkozy sowie hinein die Wahlenthaltung, deutlich minoritär.   

Jean-Marie Le Pen:  Strategielos gegenüber der konservativen Offensive? 

Zwischen der Agitation für eine diffuse Vorstellung von einer irgendwie gearteten  „rechten Revolution“ und  den Bemühungen, einen Platz in der bestehenden Medienlandschaft zu finden, ohne allzu sehr anzuecken, hat der FN derzeit noch keine erfolgsträchtige und  dauerhafte Strategie gefunden. Beides scheint im Moment fehlzuschlagen. Es bleibt ihm im Moment einzig, daran zu arbeiten,  den „harten Kern“ seiner Anhänger politisch zu festigen – so, wie die österreichische FPÖ im Jahr 2004 (mit nur 6 Prozent der Stimmen bei der Europaparlamentswahl) weitgehend auf ein festes Milieu zurückgeworfen schien. Dabei kann der FN noch Hoffnung darauf  setzen, dass dezidiert rechte Wähler früher oder später durch  die Realpolitik Nicolas Sarkozys an der Regierung enttäuscht sein werden – wie Le Pen (Vater und Tochter) es derzeit tagein tagaus vorhersagen. Noch aber ist nicht sicher, wann dies eventuell eintritt und welche politischen Folgen es haben wird. Im Moment wirkt die Strategie des FN gegenüber dem, im Augenblick konkurrenzlos dominierenden, konservativen Block jedenfalls relativ hilflos.  

Nachdem er ständig gegen den „Illusionisten“ und „Trickspieler“ Sarkozy gewettert hatte, bot Jean-Marie Le Pen etwa der Regierungspartei UMP in den letzten Tagen  vor dem ersten Durchgang der Parlamentswahl noch ein faktisches Wahlbündnis im Hinblick auf den zweiten Wahlgang an: Im Namen einer ‚discipline nationale’ auf der Rechten (unter Anspielung auf die ‚discipline républicaine’, die zwischen der Sozialdemokratie und der KP seit den  1930er Jahren praktiziert wird) möge jede der beiden Parteien  vor der Stichwahl ihre Kandidaten zugunsten der besserplatzierten der jeweils anderen zurückziehen. Dort, wo ein FN-Bewerber also in die Stichwahl einziehe und vor dem Kandidaten der UMP liege, möge dieser sich zurückziehen  - dann werde dies auch umgekehrt praktiziert. Dieses Ansinnen wurde jedoch sofort durch die UMP-Spitze zurückgewiesen, und Patrick Devedjian (einer der „rechte Arme“ Nicolas Sarkozys, in den 1960er Jahren Aktivist der kolonialfaschistischen Studentenbewegung Occident) posaunte laut hinaus, es werde „ohnehin keine FN-Kandidaten in der Stichwahl“ geben. Alle Bewerber der rechtsextremen Partei würden nämlich im ersten Wahlgang hinausgeworfen werden. Damit hat er beinahe auf der ganzen Linie Recht behalten: Eine einzige FN-Kandidatin, Marine Le Pen (vgl. dazu unten), konnte sich so weit behaupten, dass sie in die Stichwahl an  diesem Sonntag einzog. Auch  in ihrem Fall  hat die UMP-Spitze klar gegen ihre  Wahl,  oder  eine Unterstützung für sie, Stellung bezogen – obwohl einzelne konservative Prominente dies offenkundig anders  sehen  (vgl. unten).  

Alles in allem wirkte dieses „Angebot“ Jean-Marie Le Pens, in der momentanen politischen Situation und angesichts des zu erwartenden Gesamtergebnissis des  FN, ausgesprochen hilflos und unkalkuliert. Zumal dasselbe Angebot an die bürgerliche Rechte, damals schon mit derselben Wortwahl (im Namen einer ‚discipline nationale’), 1997 durch seinen damaligen innerparteilichen Rivalen Bruno Mégret unterbreitet worden war. Mégret, damals Chefideologe und  „Nummer Zwei“ in der Hierarchie des FN, wurde aus diesem Grund des Verrats geziehen und innerhalb von einem bis anderthalb Jahren restlos entmachtet, im Anschluss aus der Partei geworfen. (Natürlich vorwiegend deshalb, weil seine Ambitionen dem Machtanspruch Jean-Marie  Le Pens gefährlich wurden.) Dass Le Pen sich nun des damals unterbreiteten Vorschlags erinnert und selbst seiner bemächtigt, entbehrt nicht einer gewissen Pikanterie. Oder zeugt es von einer realen Orientierungslosigkeit? 

Nun  aber zu den Wahlergebnissen in näheren Einzelheiten:          

Szenario eines heftigen Rückschlags 

Das kann man kein ‚Déjà vu’ nennen, sondern nur als ‚Jamais vu’ (Nie gesehen) bezeichnen. Also als nie dagewesenes Ereignis. Tatsächlich hat die  französische extreme Rechte, seitdem sie in den Jahren 1983/84 ihr bis dahin gefristetes Dasein in Form von Splittergruppen und Null-Komma-Parteien verlassen konnte, noch nie so schlecht bei einer Wahl abgeschnitten. Keine 5 Prozent und nur knapp über eine Million Stimmen für den Front National (FN) und den Mouvement National-Républicain (MNR) zusammengenommen: Das ist die, aus ihrer Sicht: bittere, Ernte der beiden rechtsextremen Parteien beim ersten Durchgang der französischen Parlamentswahl vom Sonntag. Jean-Marie Le Pen hatte in der Vergangenheit bis zu fünf Millionen Wähler/innen (2002) anziehen können. Das Schlüsselwort dazu lautet ‚siphonné’, vom französischen Verb für „Absaugen“: Dass Nicolas Sarkozy bzw. die UMP genau dies mit dem Wählerreservoir des FN getan habe, wird derzeit von sehr unterschiedlichen Seiten festgestellt. Von einem sozialdemokratischen Spitzenpolitiker  - war es Manuel Valls, der Bürgermeister von Evry und frühere Jospin-Berater? – am Wahlabend des  10. Juni im öffentlich-rechtlichen Fernsehprogramm  („Sarkozy hat   das  Wählerreservoir des FN  ab-/leergesaugt. Keine falschen Vorwürfe: das Wählerreservoir, nicht den FN“, d.h. nicht die Partei selbst) bis hin zu  Stéphane Durbec, FN-Parlamentskandidat in Marseille, Stéphane Durbec. Letzterer in ‚Le Monde’  (Ausgabe vom  Abend des 11. Juni) mit den Worten zitiert: „Der Front National ist bis auf den letzten Tropfen aus-/leergesogen worden.“  

Dazu im Vergleich ein kurzer Rückblick: Seit 1984, in jenem Jahr erhielt der FN knapp 11 Prozent bei den Europaparlamentswahlen und erlebte damit seinen ersten landesweiten Durchbruch, lag sie frankreichweit stets über oder zumindest in der Nähe der Zehn-Prozent-Marke. Selbst kurz nach der verheerenden Parteispaltung zwischen Le Pen- und Mégret-Anhängern vom Jahreswechsel 1998/99, deren Konsequenzen (in Form des Verlusts von Kadern und Aktivisten, der Einbube von „Bodenhaftung auf dem gesellschaftlichen Terrain“, des Eingehens von thematisch aktiven oder an der „sozialen Front“ tätigen Satellitenorganisationen...) die extreme Rechte heute noch bezahlt, erhielt letztere noch immer landesweit 9 Prozent der Stimmen. Beide Spaltprodukte, die jeweiligen Wahlvereine von Jean-Marie Le Pen und Bruno Mégret, stellten sich keine sechs Monate nach der – aus rechtsextremer Sicht katastrophenhaften  - Spaltung den Wählerinnen und Wählern, anlässlich der Neuwahl des Europaparlaments. Dabei erhielt der „Rumpf-FN“ unter Le Pen 5,7 Prozent, und der ‚Mouvement national’ (inzwischen MNR) Mégrets 3,3 Prozent der Stimmen. Ab dem übernächsten Jahr, d.h. den frankreichweit am selben Tag stattfindenden Kommunalwahlen im März 2001, lag die gespaltene extreme Rechte landesweit schon wieder knapp oberhalb der 10 Prozent. 

Und nun das! 4,3 Prozent der Stimmen wurden im nationalen Durchschnitt für die Kandidatinnen und Kandidaten des FN abgegeben, weitere 0,4 Prozent für jene des MNR. Das  entspricht 1,1 Millionen Wählerinnen für den FN und rund 100.000 für die Schwundpartei MNR.

Übrigens hat Jean-Marie Le Pen bei seinem Auftritt am Abend des ersten der beiden Parlaments-Wahlsonntage (dem 10. Juni) unter den Kameras behauptet, die erlittene Schlappe sei nicht so schlimm: Auch bei den Europaparlamentswahlen 1999 habe man schlecht abgeschnitten,  ja sogar „nur drei Prozent bekommen“, und sei dennoch drei Jahre später bei der Präsidentschaftswahl wieder aufgestiegen. Dies war offenkundig eine (bewusste oder unbewusste) Falschaussage, da der FN damals nicht 3 Prozent, sondern alleine doppelt so viel und mit ihrem Spaltprodukt – den Mégret-Anhängern – zusammen drei mal so viel Stimmen erhielt. Üblicherweise hat Jean-Marie Le Pen nicht die Angewohnheit, die Erfolge seiner Partei, auch im Nachhinein, zu untertreiben. Anzeichen für seinen,  bereits seit längerem einsetzende, Altersstarrsinn oder aber politisch motiviertes Pfeifen im dunklen Keller?     

Massenphänomen: Überlaufen der Wählerschaft zur UMP 

Wohin die ‚lieben’ Wähler entschwunden sind, danach braucht man nicht zwei mal zu fragen: Sofern sie sich nicht der Stimme entielten (wie unzählige andere Französinnen und Franzosen, da nach dem Ausgang der Präsidentschafts- jene der Parlamentswahl ohnehin klar schien), gingen sie massiv zum konservativen Block über, der von Nicolas Sarkozy angeführt wird. Nach ersten Zahlen vom Wahlabend, die zunächst auf dem öffentlich-rechtlichen Sender ‚France 2’ bekannt gegeben wurden, sollen 41 Prozent der WählerInnen des Kandidaten Jean-Marie Le Pen bei der Parlamentswahl für Bewerber der extremen Rechten gestimmt haben. 36 Prozent hingegen für solche der bürgerlich-konservativen Rechten, d.h. die UMP  und ihre Verbündeten (zuzüglich eines weiteren Prozentpunkts für die christdemokratisch-liberale Zentrumspartei UDF, jetzt umbenannt in MoDem); weitere 10 Prozent sollen die Stimmenthaltung gewählt haben. Allerdings wirft diese Rechnung ein mathematisches Problem auf, da demnach zwei Fünftel der Wähler Le Pens vom 22. April dieses Jahres (das waren 3,8 Millionen) noch immer für die extreme Rechte gestimmt hätten – das wären aber mehr als die gut eine Million Stimmen, die seine Kandidaten dieses Mal erhielten. Im weiteren Verlauf des Wahlabends war dann auf ‚France 2’ hingegen von 30 Prozent Enthaltung unter den vormaligen WählerInnen Jean-Marie Le Pens die Rede. Und in der Ausgabe der  linksliberalen Tageszeitung ‚Libération’ vom Dienstag, 12. Juni ist sogar von 44 Prozent der Le Pen-Wähler die Rede, die sich im ersten Wahlgang der Parlamentswahl der Stimmabgabe enthalten hätten. Im Augenblick besteht keine weitere Möglichkeit, um diese Angaben näher zu überprüfen bzw. mit anderen Zahlen abzugleichen. 

Hingegen dürfte unzweideutig feststehen, dass es einen massenhaften Anschluss früherer FN-Wähler/innen an die konservative UMP gegeben hat, wie bereits bei der jüngsten Präsidentschaftswahl. Darauf deutet das Gesamtbild der Wählerströme hin: Die UMP hat massiv hinzugewonnen, aber die Linksparteien haben ihren Stimmenanteil ihrerseits gegenüber der Parlamentswahl 2002 weitgehend konstant halten können. Die Sozialdemokratie schnitt mir rund 29 Prozent (inklusive Verbündete) etwas höher ab als bei der letzten Parlamentswahl im Juni 2002. Die KP schnitt mit 4,3 Prozent um ein halbes Prozent schlechter ab als vor fünf Jahren – vom Stimmenanteil her, dagegen droht ihr, dass sie (mangels Abkommen mit der  Sozialdemokratie über die Aufteilung der Wahlkreise vor dem ersten Wahlgang) wesentlich weniger Abgeordnete mitnehmen wird als beim letzten Mal und ihr Fraktionsstatus verloren geht. Die auberparlamentarische radikale Linke schnitt ihrerseits mit 3,7 Prozent um ein gutes halbes Prozent höher ab als bei der letzten Parlamentswahl. Der starke Zuwachs des konservativen Blocks (die UMP gewinnt knapp 42 Prozent, und mit verbündeten kleineren Rechtsparteien – darunter die Villiers-Anhänger, vgl. unten – zusammen 45 Prozent der Stimmen) erklärt sich also mitnichten aus einem Rückgang der Linkskräfte. Er resultiert vor allem aus einem Stimmentransfer von bisherigen rechtsextremen Wähler, und vielleicht zusätzlich noch aus der Mobilisierung bisheriger Nichtwähler. 

Auch die geographische Verteilung der Stimmenflüsse deutet energisch darauf hin, dass es einen massiven Zustrom von Stimmen aus dem früheren Reservoir des FN hin zur konservativen UMP gegeben hat. Die extreme Rechte erlitt massive Einbrüche in ihren früheren Hochburgen Elsass und PACA (Provence-Alpes-Côte d’Azur), daneben auch in der Nachbarregion Languedoc-Roussillon (um Montpellier). In den letzteren beiden Fällen konnte  der FN dort bislang vor allem fest auf eine Wählerschaft von ehemaligen Algerienfranzosen bauen, eine Art „Vertriebenenmilieu“. In denselben Regionen erfährt die UMP nunmehr massive Zuwächse. Etwas besser hält sich der FN hingegen in abgestiegenen Industrieregionen wie vor allem dem Nord-Pas-de-Calais, wo ihm in wesentlich jüngeren Perioden ein Einbruch in die frühere Arbeiterwählerschaft gelungen ist. Dort ist die „Versuchung“ ehemaliger FN-Wähler, jetzt für das Sarkozy-Lager zu stimmen, wesentlich geringer. Das bestätigt die Analyse, die man nach den französischen Präsidentschaftswahlen vom April und Mai anstellen konnte.  

Ähnlich wie bei der Präsidentschaftswahl, kündigen auch dieses Mal genau zwei Drittel der verbliebenen FN-Wähler aus dem ersten Wahlgang an, in der zweiten Runde (Stichwahl) für das Lager Nicolas Sarkozys zu stimmen. 

Allein Marine Le Pen schwimmt oben, statt unter der „blauen Welle“ verschlungen zu werden 

Als einzige Bewerberin des Front National konnte die Cheftochter Marine Le Pen in ihrem Wahlkreis Hénin-Beaumont, im früheren Bergbaurevier Pas-de-Calais in der Nähe der belgischen Grenze, die magische Hürde überspringen, die die Teilnehmer am ersten Wahlgang von den in die zweite Runde einziehenden Bewerbern trennt. Dazu sind 12,5 Prozent erforderlich, nicht der abgegebenen gültigen Stimmen (wie man in deutschen Medien oft fälschlich liest), sondern der in die Wählerlisten eingetragenen Wahlberechtigten. Das bedeutet, dass, je nach Wahlbeteiligung, 15 oder 18 Prozent oder auch mehr der abgegebenen Stimmen im ersten Durchgang erforderlich sein können. Die Wahlenthaltung war frankreichweit an diesem Sonntag auberordentlich hoch (39 Prozent), so dass die Hürde – in Prozentergebnissen gemessen - dieses Mal etwas höher lag, bis zu 21 Prozent. Aber mit Ausnahme von Marine Le Pen kam ohnehin keine Kandidatin und kein Kandidat des FN auch nur in ihre Nähe.  

Die Cheftochter hatte sich jenen Wahlkreis (in der industriellen Krisenzone in der Nähe von Lens) ausgesucht, wo der FN anders als fast überall sonst noch eine echte gesellschaftliche Verankerung vor Ort aufweist, konkrete soziale Probleme aufgreift und im Alltag sofort auf neu auftauchende Ereignisse zu reagieren vermag. Diese Zone bildet in gewisser Weise das „soziale Laboratorium“ des FN. Andernorts ist er dazu aber überhaupt nicht mehr in der Lage. Zu verdanken ist ihr Wahlerfolg also nicht hauptsächlich der Persönlichkeit Marine Le Pens, sondern der Kleinarbeit des örtlichen Kaders Steeve Briois, der im Juni 2002 in demselben Wahlkreis  wie jetzt „die Tocher“ antrat und jahrein, jahraus die örtliche Terrainarbeit verrichtet. Marine Le Pen selbst war 2002 im benachbarten Wahlkreis von Lens angetreten, und hatte dort 24,2 Prozent im ersten und gut 32 Prozent im zweiten Durchgang der damaligen Parlamentswahl erzielt. Beide Wahlkreise liegen direkt nebeneinander: Lens ist das 13., Hénin-Beuamont das 14. Wahldistrikt des Départements Pas-de-Calais. Ihr dortiges Wahlergebnis, zu einer Zeit, als Marine Le Pen bei weitem noch nicht so prominent (aufgrund ihrer Medienpräsenz) war wie heute und noch nicht als potenzielle Nachfolgerin ihres Vaters gehandelt wurde wie seit 2003, lag also sehr in der Nähe der jetzigen Gröbenordnung. Es erklärt sich weitaus eher aus der sozialen und politischen Konfiguration in dem fraglichen Gebiet als aus ihrer persönlichen „Leistung“.  

In „ihrem“ Wahlkreis erhielt Marine Le Pen am 10. Juni dieses Jahres 24,5 Prozent der Stimmen und liegt damit um knappe 4 Prozent hinter dem bestplatzierten Bewerber: Albert Facon (28,2 %) aus den Reihen der französischen Sozialdemokratie, der bislang als Abgeordneter des Wahlkreises amtiert. Gegen ihn kann sie nun in der zweiten Runde antreten. Aussichten darauf, in der Stichwahl an diesem Sonntag den Parlamentssitz zu erobern, hat auch sie im Prinzip keine. Auch wenn sie in den Tagen vor der Stichwahl die Unterstützung zweier konservativer Prominenter erhielt, unter ihnen der frühere Leitartikler im ‚Figaro Magazine’ (und berüchtigte Reaktionär sowie langjährige Befürworter von Allianzen der bürgerlichen Rechten mit dem FN) Alain Griotteray. Der Zweite im Bunde ist Michel Caldaguès, der ebenfalls  wie Griotteray aus nationalistischen Gründen in der Résistance aktiv war und später als gaullistischer Senator von Paris (d.h. Mitglied des parlamentarischen  Oberhauses, das dort die Hauptstadt vertritt) amtierte. Beide erklärten ihre Unterstützung für die Kandidatur Le Pens, um die französische Nation vor dem Aufgehen in einem supranationalen Europa zu schützen. Das Unterstützerkomitee für die Kandidatin wird zudem von einem enttäuschten Sozialdemokraten geleitet, Daniel Jansses, der während 17 Jahren Vorsitzender des PS-Ortsverbands von Laforest war. Aber jenseits solcher Engagements von (mehr oder minder prominenten) Einzelpersonen halten alle übrigen politischen Kräfte gegen die Kandidatur Marine Le Pens zusammen.    

MNR: futsch, am Arsch   

Dem MNR unter seinem „Cheffilein“ Bruno Mégret, von Jean-Marie Le Pen dereinst „Zwerg Napoleon“ getauft, wurde wieder einmal der Kopf tief unter die Wasseroberfläche gedrückt. Mégret persönlich erhält im Wahlkreis von Vitrolles und Marignane (der die Städte Vitrolles, wo seine Gattin Catherine Mégret von Februar 1997 bis Oktober 2002 noch als Bürgermeisterin amtierte, und das ebenfalls ehemals MNR-regierte Marignane umfasst) nur 2,03 Prozent der Stimmen. Man muss jedoch hinzufügen, dass der FN, der definitiv keine Rücksicht auf den ehemaligen „Verräter“ aus seinen Reihen nehmen mochte (trotz offiziell zelebrierter „Aussöhnung“  zwischen Le Pen und Mégret am 20. Dezember 2006, und Wahlaufruf des Letztgenannten zugunsten Jean-Marie Le Pens bei der Präsidentschaftswahl), einen eigenen Kandidaten gegen Bruno Mégret aufgeboten hatte. Letzterer, namens Gérald Gérin, erhält seinerseits 7,4 Prozent. Alles in allem bleibt dies jedoch ein geringes Ergebnis, berücksichtigt man, dass die extreme Rechte insgesamt in Vitrolles im Juni 2002 noch über 31 Prozent der Stimmen erzielen konnte: 18,6 Prozent für Mégret und 13,25 % für den damaligen FN-Kandidaten (Bourge).    

Rechtskatholiken im Bunde mit der bürgerlichen Rechten 

Die Rechtskatholiken des ‚Mouvement pour la France’ (MPF, Bewegung für Frankreich) unter ihrem Grafen Philippe de Villiers sind bei diesem Fünf-Prozent-Gesamtergebnis für die extreme Rechte noch nicht berücksichtigt. Sie erhielten ihrerseits im frankreichweiten Durchschnitt 1,2 Prozent für ihre Kandidaten. Aber ihre Situation bildet insofern einen Sonderfall, als ihr Durchschnittsergebnis durch lokale Sondersituationen verzerrt wird: In drei Fällen hat der konservativ-liberale Bürgerblock nämlich keine Gegenkandidaten gegen die Nationalkonservativen aufgestellt. D.h. die Regierungspartei UMP hat, innerhalb der politischen Rechten, diese Wahlkreise der Villiers-Partei „überlassen“. Und zwar dort, wo es um die beiden bisherigen Abgeordneten der Villiéristen in der Pariser Nationalversammlung ging, die beide aus der westfranzösischen Vendée kommen, sowie im Wahlkreis des Rechtsanwalts Alexandre Varaut im Département Seine-Saint-Denis (nördliche Pariser Trabantenstadtzone). 

Das Département Vendée, dessen Bezirksregierung niemand anders als Philippe de Villiers persönlich vorsitzt, ist ein französischer Bezirk mit ausgeprägt rechter Politiktradition. Hier fand 1793/94 der Aufstand „für Gott  und König“ gegen die junge Republik stand, der zwar von konterrevolutionären Adeligen angeführt wurde, aber eine Massenbasis unter den örtlichen Bauern hatte, die verarmt waren und sich durch die (in der bürgerlichen Republik aufsteigende) Bourgeoisie ökonomisch bedroht fühlten. Die Niederschlagung der Vendée-Revolte wird in den Reihen eines Teils der konservativen Rechten, aber stärker noch der extremen Rechten – etwa auf dem katholischen Flügel des Front National – heute noch als „Genozid“ angeprangert. Philippe de Villiers hat 1977, als junger Chef der Bezirksregierung, ein sommerliches Freiluftspektakel zum Andenken an den (konterrevolutionären, aber von ihm natürlich nicht so bezeichneten) Aufstand in der Vendée und seine Niederschlagung einrichten lassen: das ‚Spectacle du Puy du Fou’. In dieser absoluten Hochburg der nationalkonservativ-katholischen Rechten wurden die beiden Abgeordneten von Philippe de Villiers MPF, die schon bisher in der Nationalversammlung saßen, Véronique Besse (61 Prozent) und Joël Sarlot (52,1 Prozent), bereits im ersten Wahlgang mit der erforderlichen absoluten Mehrheit wiedergewählt.  

Im Wahlkreis Bobigny und Drancy, in der nördlichen Pariser Banlieue (Verwaltungsbezirk Seine-Saint-Denis), hat die Villiers-Partei den Rechtsanwalt Alexandre Varaut als Kandidaten aufgestellt. Dieser Aktivist der katholischen Mafia, pardon, des katholischen Laienverbands Opus Dei ist zugleich auch der Sohn von Jean-Marc Varaut, des Anwalts eines gewissen Maurice Papon in seinem Mammutprozess von 1997/98 wegen „Beihilfe zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ (in Form von Judendeportationen aus dem Raum Bordeaux in den Jahren 1942 bis 44). Der Sohnemann hatte nun auch die Unterstützung von Nicolas Sarkozys UMP, die in „seinem“ Wahlkreis keinen eigenen Kandidaten neben Varaut aufgestellt hatte, sondern explizit zur Wahl Varauts aufrief. Auber ihm trat noch ein anderer Kandidat aus den Reihen der bürgerlichen Rechten auf, Jean-Christophe Lagarde, der Bürgermeister von Drancy, der aber durch die christdemokratisch-liberale frühere UDF (jetzt umbenannt in MoDem, Mouvement Démocrate) unterstützt wurde und somit nicht dem Regierungslager angehört. Alexandre Varaut ging dabei allerdings (mit 8,1 Prozent der Stimmen) jämmerlich baden, und der Christdemokrat Lagarde zieht mit 46 Prozent der Stimmen triumphal in die Stichwahl ein.

Im südfranzösischen Département Vaucluse trat seinerseits der frühere FN-Bürgermeister von Orange, Jacques Bompard, der unverkennbar rechtsextrem geblieben, aber im November 2005 vom Front National zum MPF übergetreten ist, im Namen der Villiers-Partei an. Er blieb jedoch mit 19,7 Prozent der Stimmen auf Wahlkreisebene (jedoch noch beachtlichen 39,1 Prozent im Stadtgebiet von Orange) deutlich abgeschlagen hinter dem UMP-Kandidaten im Wahlkreis - dem seinerseits ziemlich weit rechts stehenden Thierry Mariani, der 41,4 Prozent erhielt – zurück. Hinter dem UMP- und dem sozialistischen Bewerber wurde er nur Dritter. Im Juni 2002 hatte Jacques Bompard, damals noch FN-Kandidat, in demselben Wahlkreis noch 34,1 Prozent der Stimmen geholt.

Geld, Geld, Geld...

Die nähere Zukunft der extremen Rechten wird belegen müssen, wie sie nun mit der neuen Situation umgehen kann. Garantiert ist ihr schon jetzt, dass ihre finanziellen Möglichkeiten zurückgehen wird, da die staatliche Parteienfinanzierung in Frankreich von den jeweiligen Ergebnissen der politischen Parteien bei den Parlamentswahlen abhängt: Jede dort erhaltene Stimme trägt ihnen 1,63 Euro pro Jahr (bis zur nächsten Parlamentswahl) ein. Auf dieser Grundlage erhielt der FN bislang rund 4,6 Millionen Euro pro Jahr an staatlicher Parteienfinanzierung, aufgrund der 11 Prozent an Stimmen, die er bei der Parlamentswahl  2002 erhalten hatte. Bereits vor dem Wahlsonntag hatten hohe FN-Funktionäre, die in fast allen Zeitungen zitiert wurden, im „Off“ eine Halbierung dieses Geldzuflusses für die nahe Zukunft prognostiziert. Das war fast realistisch. Nun wird es allerdings künftig eher ein gutes Drittel denn die Hälfte des bisher kassierten jährliches Zuschusses geben. Zudem wird über die Hälfte seiner Kandidatinnen und Kandidaten (361, bei insgesamt 577 Wahlkreisen in ganz Frankreich, von denen die meisten oder fast alle einen FN-Kandidaten aufwiesen – der FN trat mit 557 Bewerbern an) kein Anrecht auf Rückerstattung ihrer Wahlkampfkosten haben. Denn dazu ist es nötig, mindestens 5 Prozent der Stimmen auf Wahlkreisebene  zu sammeln.

Nicht ausgeschlossen wird vor diesem Hintergrund auch der Verkauf des Parteisitzes in Saint-Cloud, einem Nobelvorort westlich von Paris. Jean-Marie Le Pen hatte im Vorfeld der Parlamentswahl bereits sarkastisch angekündigt: „Politik kann man man auch in einer ‚Chambre de bonne’ (Dienstmädchenzimmer, Mansardenwohnung) betreiben.“ Nicht alle Mitarbeiter am Parteisitz dürften sich allerdings mit dieser Vision anfreunden können..., zumal einigen von ihnen nun vielleicht die Entlassung drohen dürfte.

Der MNR seinerseits wird keinerlei finanzielle Zuwendung mehr erhalten, denn er erfüllt die gesetzliche Voraussetzung dafür (nach den Regeln über die staatliche Parteienfinanzierung) nicht. Demnach hätte er in mindestens 50 Wahlkreisen (von frankreichweit 577) mindestens 1 Prozent der Stimmen bekommen müssen. Dieses Kriterium bleibt bei ihm unerfüllt. Auch erhält wohl keiner seiner 379 Kandidaten seine Wahlkampfkosten erstattet.

… und Fragen der politischen Strategie

Aber auch politische Konsequenzen werden anstehen. Bislang stehen sich zwei Visionen von der politisch-ideologischen und doktrinären Zukunft des FN gegenüber: Auf der einen Seite finden sich die „Modernisierer“ rund um Marine Le Pen und den seit 2005 amtierenden Generalsekretär Louis Aliot (ein 38jähriger ehemaliger Rugbyspieler), auf der anderer Seite die „Traditionalisten“ rund um den derzeitigen Generalbeauftragten oder ‚Délégué général’ der Partei, Bruno Gollnisch. In den Reihen der Letzteren hat sich, stärker noch als Gollnisch, der im Oktober 2005 geschasste Ex-Generalsekretär und „Beauftragte für soziale Fragen“ der rechtsextremen Partei, Carl Lang (er erhielt als Kandidat in Maubeuge, an der belgischen Grenze, noch 11,6 Prozent in seinem Wahlkreis), profiliert.

Erstere streben eine gründliche Umwälzung der bisherigen Funktionsweise des Front National an. Sowohl auf der Ebene der Strukturen – dort soll die bisherige Doppelstruktur, mit „Generalsekretär“ auf der einen Seite und „Generalbeauftragtem“ auf der anderen (die sich gegenseitig kontrollieren und in Schach halten sollen, damit es keine aufstrebende „Nummer Zwei“ gibt und die alleinige Allmacht des Chefs gewahrt bleibt) aufgebrochen werden. Stattdessen sollen klassische Parteistrukturen, wie sie auch anderswo bestehen, übernommen werden, mit einem „verschlankten Apparat“. Aber auch, zusätzlich, auf der Ebene der Doktrin. Dort möchten die „Modernisierer“ nun mit der Eigendynamik der, aus dem historischen Vorlauf der extremen Rechten und ihrer Geschichte heraus erklärbaren, Strömungen bzw. „politischen Familien“ und „Sensibilitäten“ aufräumen.  

Tatsächlich führen Strömungen wie die katholischen Fundamentalisten einerseits und die (rassenbiologisch argumentierenden) Neuheiden anderseits, oder wie Monarchisten, „Nationalrevolutionäre“ und Stiefelfaschisten, deren Doktrinen sich in ihren Kernelementen gegenseitig ausschlieben, ein starkes Eigenleben. Sie unterhalten eigene Strukturen inner- bzw. auberhalb des FN, eigene Publikationsorgane... Dabei trifft war zu, was der rechte Denker Alain de Benoist (zitiert im Schlusswort von Frédéric Charpiers hochinteressantem Buch über die rechtsextremen Studenten der 1960er und 1970er Jahre: ‚Génération Occident’, Paris 2005) äubert: „Die Leute von Rechts sind“, hinzuzufügen wäre: im Allgemeinen, „keine Intellektuellen. Sie räsonnieren auf der Gefühlsebene. Sie machen nicht aus, was in ihrem Diskurs an Widersprüchen enthalten ist.“ Das bedeutet, dass die Aktivisten und Kader eher über Identifikationswünsche denn über theoretische „Erkenntnis“, die ein Minimum an innerer Kohärenz (Stimmigkeit) aufweisen müsste, an ihre jeweiligen Fraktionen und Modelle gebunden sind. Übergänge vom Einen zum Anderen sind durchaus möglich, obwohl zwischen beiden Polen eigentlich unüberbrückbare Gegensätze herrschen müssten, wie am Beispiel von Jean-Gilles Malliarakis abzulesen ist: Vom Mitglied der kolonialfaschistischen Prügeltruppe ‚Occident’ (gegründet 1964, qua Verbot aufgelöst 1968) über seine Periode als Anführer der „Nationalrevolutionäre“ mit antikapitalistischer Demagogie bis zum nationalen Thatcheristen, der er heute ist, durchlief seine politische Biographie unterschiedliche Phasen. Heute unterstützt er nun Nicolas Sarkozy  (vgl. www.trend.infopartisan.net/trd0607/t210607.html )  Unabhängig  davon, dass eine solche Durchlässigkeit der Strömungen also im  Prinzip  vorhanden ist und dass es nicht wirklich auf die intellektuell stimmige Begründung einer Theorie ankommt, sondern es sich in der Hauptumsache um Identifikation dreht, bestehen dennoch auf jeder Seite Kernsätze einer Doktrin. Und diese ideologischen Gedankengebäude sind nicht das Produkt purer Willkür, sondern blicken auf  einen längeren historischen Entstehungsprozess zurück. So   gingen manche Strömungen der französischen extremen Rechten ziemlich direkt  aus der katholischen  Konterrevolution der Ära 1789  ff. hervor, andere aus mehr oder minder unmittelbar aus den antisemitischen Bewegungen des späten  19. Jahrhunderts, oder (wie die ‚Nouvelle  Droite’) aus dem politischen Schock der Niederlage der  pro-kolonialen Rechten.    

Die „Modernisierer“ möchten mit ihnen (oder jedenfalls mit ihrer Eigendynamik) Schluss machen, die Strömungen in einer – verschlankten und effizienter gestalteten – einheitlichen Parteistruktur auflösen und die Doktrin auf einige Essentials reduzieren. Ferner möchte Aliot, so seine in ‚Le Monde’ vom 31. Mai zitierte  Ankündigung, mit jenen Schluss machen, die „unter der Fahne des FN“ einen „Kampf gegen die jüdische Lobby führen“ möchten. Anders ausgedrückt, er möchte mit offen ausgesprochenem Antisemitismus Schluss machen, der laut seinen Worten „nur Probleme bringt“. Im konservativen ‚Figaro-Magazine’ vom  17. Juni (Kurzmekldung auf S. 39) wird  kolportiert, Louis Aliot möge nunmehr innerparteilich Köpfe rollen sehen: „Es werden Einige in den Ruhestand versetzt oder ausgetauscht werden, aufgrund der schlechten Geisteshaltung, die manche Verantwortungsträger während der Präsidentschaftswahl an den Tag gelegt haben.“ Das konservative Wochenmagazin übersetzt, Aliot wolle „die Hoffnungen Bruno Gollnischs, die Nachfolge von Le Pen Vater antreten zu können, liquidieren“.   

Hingegen  möchte die Gegenseite, gemäb einem Konzept, das jüngst in der Monatszeitschrift ‚Le Choc du mois’ (in der Mai-Nummer, die rund um  den 20. Mai herum erschien) lanciert worden ist, ein „Epinay von Rechts“ anstreben. Unter Anspielung auf den Kongress von Epinay-sur-Seine im Juni 1971, auf dem unterschiedliche Organisationen der zersplitterten franzôsischen Sozialdemokratie in einem einheitlichen Dachverband – aus dem der heutige Parti Socialiste (PS) wurde – zusammengeführt wurden, streben sie also nach einer Föderation unterschiedlicher Strömungen. Diese soll auch auf bisher auberhalb des FN stehende Fraktionen, wie die ‚Identitaires’ (militante Stiefelfaschisten, die ein paar wenige Listen zur jüngsten Parlamentswahl präsentierten, bspw. in Nizza in  Assoziierung  mit  dem  MNR) oder auch die Villiers-Anhänger, wenn diese denn etwas davon wissen möchten, ausgedehnt werden. Auch ist von der Einrichtung einer kollegialen Parteiführung an der Spitze die Rede. 

Das wird Jean-Marie Le Pen nicht schmecken, der bereits erklärt hat, schon wieder als Kandidat für seine eigene Nachfolge auf dem nächsten Parteikongress (am 17./18. November 2007 in Bordeaux) antreten zu wollen. Dies könnte wohl kurzfristig das offene Ausbrechen des Strömungskriegs verhindern, wenngleich die aus Sicht der Partei wirklich notwendige Erneuerung an ihrer Spitze damit noch länger ausbleiben wird. Ferner  wird das offene Messerwetzen aber wohl auch deswegen vorläufig ausbleiben, weil beide Lager nun das Gewicht der  Niederlage tragen: Marine Le Pen und ihre Leute waren für den Rückgang bei der Präsidentschaftswahl verantwortlich gemacht worden, aber nun hatte Gollnisch den Parlamentswahlkampf organisiert. Im übrigen dürfte ihr persönliches Ergebnis in ihrem Wahlkreis im Pas-de-Calais die Cheftochter sogar eher gegen Kritik schützen. Im Zweifel dürfte ihre Position seit vergangenem Sonntag eher gestärkt denn geschwächt worden sein.  

Editorische Anmerkungen

Den Artikel erhielten wir von Autor am 17.6.07 zur Veröffentlichung.

Das Frankreich der Reaktion. Neofaschismus und modernisierter Konservatismus von Bernhard Schmid wird bei Pahl-Rugenstein demnächst als Taschenbuch erscheinen und in jeden gut sortierten linken Buchhandlung zu haben sein.