Wird die „blaue Welle“ noch einige Überlebende an den Strand
spülen? Oder wird die parlamentarische Opposition, vorläufig,
totalen Schiffbruch erleiden? Noch vor dem ersten Durchgang
der französischen Parlamentswahlen vom nächsten und
übernächsten Sonntag (10. und 17. Juni) sind sich nahezu alle
Beobachter und Akteure in einem Punkt einig: Die konservative
Regierungspartei UMP, deren Parteifarbe blau ist, wird eine
überstarke Mehrheit an Sitzen in der nächsten französischen
Nationalversammlung erhalten.
Sicher, ihr Wahltriumph wird aufgrund des geltenden
Mehrheitswahlrechts, das die stärkste Partei weit
überdurchschnittlich belohnt, noch gröber
erscheinen als er in Wirklichkeit ausfällt. Aber tatsächlich
dürften auch die politischen Mehrheitsverhältnisse im Land am
Abend des 17. Juni vollkommen auber
Zweifel stehen. Neben dem Begriff der vague bleue wird von
manchen auch der Ausdruck der „Kammer mit blauem Horizont“
benutzt, unter Erinnerung an die Chambre bleu horizon von 1919.
Damals hatte die konservative und nationalische Rechte, die ein
breites Spektrum von der bürgerlichen Mitte bis hin zu
präfaschistischen Rändern umfasste, infolge des für Frankreich
positiven Ausgangs des Ersten Weltkriegs eine erdrückende
Mehrheitsstellung erobert.
Doch
es sind nicht die Ergebnisse von nationaler Mobilmachung und
Krieg, die die aktuelle politische Konstellation erklären. Auch
wenn die Konturen der neuen, faktischen Regierung der nationalen
Einheit – mit einem Kabinett unter dem neuen Premierminister
François Fillon, das ein Fünftel seiner Mitglieder (Minister und
Staatssekretäre zusammengenommen) den parlamentarischen
Oppositionsparteien der Sozial- und Christdemokraten abgeworben
hat – oberflächlich an den damaligen „Burgfrieden“ erinnern mag.
Aber der Hintergrund ist in diesem Falle ein anderer, und nicht
so dramatischen Ereignissen wie damals geschuldet. Es handelt
sich in erster Linie um das Produkt einer überaus geschickten
politischen Kommunikationsstrategie, die der
Parlamentsopposition keinen Raum überlassen, sondern die ganzen
Bildfläche ausfüllen möchte. Und so sitzt Hervé Morin, ein
ehemaliger Weggefährte des Christdemokraten François Bayrou,
neben mehreren bisherigen Sozialdemokraten mit am
Kabinettstisch.
Dass
dies überhaupt möglich wurde, hat natürlich auch mit
persönlichen Ambitionen der Beteiligten, die sich einspannen lieben,
und sich bis dahin in ihren Herkunftsparteien notorisch zu kurz
gekommen wähnten, zu tun. Aber dies reicht als Erklärungsansatz
nicht aus. Darüberhinaus hängt es auch mit dem Verwischen
inhaltlicher Konturen zusammen: Wo es früher klar von einander
abgegrenzte politische „Lager“ mit erkennbaren
gesellschaftlichen Konturen gab, dominieren heute oft
Kommunikationsfragen, Werbetaktiken und eine stärker gewordene
Personalisierung der Politik. Die französische Sozialdemokratie
hat stark auf diese Karte gesetzt, mit ihrer Ikonie Ségolène
Royal, die es im Wahlkampf mit inhaltlicher Unberechenbarkeit,
dem Beschwören von „Werten“ und einem vagen Wunsch nach
Versöhnung gesellschaftlicher Interessen probierte. Aber auf
diesem Feld war sie Nicolas Sarkozy nicht gewachsen, der zwar
ebenfalls auf einen Kommunikationswahlkampf setzte, aber mit
seinen Slogans und – vermeintlichen – Rezepten tatsächlich
ideologische Pflöcke einschlagen konnte. Für Ideen wie die
„Aufwertung von Arbeit und Leistung“ – man müsse endlich die
Ärmel hochkrempeln, dann springe für die Leistungsträger aller
Klassen und Schichten am Ende auch etwas dabei heraus -
vermochte er tatsächlich eine gesellschaftliche Mehrheit
gewinnen. Auch, weil im politischen „Lager“ gegenüber als
Alternativen vor allem heibe
Luft angeboten wurde. Nun möchte die Mehrheit der Französinnen,
dass der neue Präsident auch regieren kann, um unter Beweis zu
stellen, was er vermag. Dazu benötigt er eine parlamentarische
Mehrheit, und er wird sie bekommen.
Von Grün in die „neue Mitte“
Für
viele Oppositionskräfte sieht es vorläufig zappenduster aus. Das
neue christdemokratisch-liberale Zentrum unter François Bayrou,
von UDF umbenannt in Modem – das wirkt hipp und modern, und ist
die Abkürzung für Mouvement démocrate – kämpft um sein
politisches Überleben. Denn erst muss es ihm unter den
Bedingungen des Mehrheitswahlrechts noch gelingen,
Abgeordnetensitze zu erlangen, um das relativ gute Abschneiden
Bayrous bei der Präsidentschaftswahl als Vorlage für den Aufbau
einer neuen Partei nutzen zu können. Darüber hinaus hat sich die
bisherige UDF gespalten, da eine Mehrheit ihrer
Parlamentsabgeordneten das Risiko nicht eingehen mochten, bei
dieser Wahl zur Nationalversammlung auf die Schnauze zu fallen:
Sie schlossen sich der konservativen Regierungspartei UMP an
bzw. gingen ein Wahlbündnis mit ihr ein. Diese Überläufer, die
den vom mächtigen Tanker UMP abgeworfenen Rettungsring
ergriffen haben, treten unter dem Namen „Neues Zentrum (für die
Präsidentenmehrheit)“ an.
Zu
Hilfe kommen der Bayrou-Partei, UDF—MoDem, aber viele
Überläufer, die vor allem aus den Reihen der französischen
Grünen kommen. Viele Ehemalige der französischen Ökopartei, die
durch die Sozialdemokratie an den Rand gedrängt und beinahe
zerquetscht worden ist, zieht es nunmehr in die neue Mitte.
Darunter sind drei der neuen Modem-Kandidaten in Pariser
Wahlkreisen. Ebenso ist ihr früherer Generalsekretär, Jean-Luc
Bennahmias, inzwischen von der Ökologiepartei zur umbenannten
UDF übergelaufen (aber nicht Kandidat zur Parlamentswahl am
Sonntag - während er laut ‚Le Monde’ anstrebt, die örtliche
Parteispitze des MoDem in Marseille zu übernehmen). In den
letzten Wochen haben sowohl der neoliberale Grüne Daniel
Cohn-Bendit als auch der langjährige Parteilinke Alain Lipietz
vorgeschlagen, ihr Wahlverein möge sich als Bindeglied für ein
künftiges Bündnis zwischen Sozialdemokratie und Modem
positionieren. Also irgendwo zwischen Mitte-Links und
Mitte-Rechts.
Dorthin zieht es auch führende Sozialdemokraten, denn seit der
Wahlniederlage Royals sind die beiden Flügel der Parteirechten –
unter Ségolène Royal selbst und unter dem früheren
Wirtschaftsminister Dominique Strass-Kahn – in der Offensive. In
ihren Augen hat die Sozialistische Partei die Wahl nicht auf
ihrer Linken, sondern zu ihrer Rechten verloren und muss also
weiter dorthin rücken. Nicht sicher, ob dieses Kalkül aufgehen
wird, denn verloren hat die Sozialdemokratie vor allem aufgrund
ihrer Unfähigkeit, irgendwelche klaren Alternativen zum
dynamisch wirkenden Programm Nicolas Sarkozys anzubieten. Es
belegt jedoch den anhaltenden Trend der etablierten Linken hin
in die politische Mitte, möglichst modern und inhaltsfrei.
Triste Situation links
Links
von der Sozialdemokratie erhofft man sich von der anstehenden
Parlamentswahl ohnehin nicht viel, denn die Logik des „kleineren
Übels“ – im Angesicht der bedrohlich wirkenden Aussicht auf eine
starke rechte Übermacht - wird weiterhin die Sozialdemokratie
begünstigen. Die französische KP hofft jedoch, dass sie
wenigstens ihren Fraktionsstatus in der Nationalversammlung
behält. Dafür benötigt sie mindestens 20 Abgeordnete, derzeit
verfügt sie noch über 24 (davon drei parteilose
Fraktionsmitglieder). Wahrscheinlich wird sie dabei aber einen
Fehlschlag erfahren. Danach bleibt ihr nur noch, bei den
Kommunalwahlen zu Anfang 2008 einige Rathäuser zu „behalten“,
sonst steht es verdammt schlecht um ihre politische Zukunft.
(Zur französischen KP und den beiden trotzkistischen Parteien
LCR und LO vgl. auch nebenstehenden Artikel über die
französische Linke in marxistischer Tradition.)
Rechtsauben
ebenfalls in Schwierigkeiten
Rechts trifft man ebenfalls auf Schwierigkeiten. Der Front
National (FN) dürfte sich nicht so schnell von der relativen
Niederlage seines Chefs Jean-Marie Le Pen bei der
Präsidentschaftswahl berappeln. Ferner äubern
sich (laut der Ausgabe des rechten Wochenmagazins Valeurs
actuelles, das selbst von konservativ bis rechtsextrem
schillert, vom 1. Juni) derzeit 88 Prozent der Anhänger Le Pens
positiv über den Beginn der Amtszeit Nicolas Sarkozys. Mit
voraussichtlich nur 4 bis höchstens 8 Prozent der Stimmen dürfte
der FN auf einem vorläufigen Tiefststand landen. Auch er wartet
auf bessere Zeiten, die er sich dann erhofft, wenn er in Zukunft
den „Verrat“ des Präsidenten Sarkozy an den Erwartungen und
Hoffnungen rechter Wähler anprangern kann.
Editorische Anmerkungen
Den Artikel erhielten wir von Autor am
9.6.07 zur Veröffentlichung.
Das Frankreich der Reaktion. Neofaschismus
und modernisierter Konservatismus von Bernhard Schmid
wird bei Pahl-Rugenstein demnächst als Taschenbuch
erscheinen und in jeden gut sortierten linken Buchhandlung zu
haben sein.
BERNHARD SCHMID, 35,
hauptberuflich Jurist, arbeitet im Nebenberuf als freier
Journalist, lebt und arbeitet seit 12 Jahren in Paris