Parlamentswahl in Algerien
Absolute Mehrheit für ... Segolene Royal

von Bernard Schmid
06/07

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Die jüngsten Wahlen und die Debatten, die ihnen vorausgingen, wurden durch die algerische Bevölkerung mit lebhaftem Interesse verfolgt. Allerorten waren die Fernsehgeräte eingeschaltet und die Satellitenschüsseln ausgerichtet, wenn die Rede auf die Präsidentschaftswahl – in Frankreich kam. Endlich Kontroversen, endlich eine Richtungsentscheidung! So wurde es jedenfalls in Algerien wahrgenommen. Anlässlich des groben Fernsehduells zwischen den beiden Hauptkandidaten, Nicolas Sarkozy und Ségolène Royal, waren in manchem Stadtteil der Hauptstadt Algier die Straben wie leergefegt. Hätte man hier abgestimmt, dann hätte Ségolène Royal allerdings mit einer satten Mehrheit rechnen können. Auf der anderen Seite des Mittelmeers kam es unterdessen anders.

 Wahlen? Algerien? Ach ja, da war noch etwas: Am 17. Mai 2007 wurde das algerische Parlament neu gewählt, nach Ablauf  der fünfjährigen Legislaturperiode. War da wirklich etwas gewesen?  Glühende Leidenschaften hat es nicht entfesselt, um es einmal zurückhaltend auszudrücken. Rund 18 Millionen waren wahlberechtigt, nur sechs Millionen gingen zur Wahl. Genauer waren es laut Zahlen des Innenministeriums 6,7 Millionen, von denen aber eine volle Million ungültige Stimmen abgaben. Auch dies ist mutmablich ein Zeichen des Abscheus gegenüber den Parteien und Kandidaten - erlaubt es aber den formell an der Abstimmung Teilnehmenden immerhin, den Stempel „Hat gewählt“ im Ausweis mitzunehmen. Wer weib, wozu man den noch mal gebrauchen könnte. Wird doch unter Umständen von den Antragstellern für eine Sozialwohnung oder eine behördliche Leistung verlangt, dass sie ihn vorweisen können.

Alles so ruhig hier... Oder: Stell Dir vor, es waren Wahlen, und fast niemand ging hin 

Auch nach offiziellen Angaben beträgt die Teilnahmequote nur 35 Prozent (gegenüber bei der letzten Wahl 2002: 46 Prozent), bei denen aber die ungültig Stimmenden mitgerechnet sind; in der Hauptstadt Algier gar nur 18 Prozent. Selbst Kritiker, die in jüngerer Vergangenheit die Auffassung vertraten, die amtlichen Angaben zur Beteiligung an Wahlen und  Abstimmungen seien oftmals frisiert – insbesondere  die 80 Prozent, die angeblich beim Referendum über die „nationale Aussöhung“  vom September 2005 abstimmten, gelten als hemmungslos aufgebauscht – zeigen sich dieses Mal zurückhaltend. „Damit dürften wir der Realität schon nahe kommen“ meint etwa der linke Aktivist Mohammed, alias Momo. Die Staatsmacht gab sich nicht einmal übertriebene Mühe, das gähnende Desinteresse der Gesellschaft zu kaschieren. Innenminister Yazid Zerhouni erklärte etwa (vgl. http://actualite.el-annabi.com/article.php3?id_article=5531), der Glaubwürdigkeit des neu gewählten Unterhauses des Parlaments schade dies nicht, schlieblich gebe es ja auch anderswo auf der Welt eine niedrige Wahlbeteiligung. Ende der Diskussion.

Wer bei den Leuten nachfragte, warum die Wahl ihrer Abgeordneten sie nicht vor die Tür locken könne, erhielt regelmäbig zur Antwort: „Alles Diebe, alles Banditen.“ Politiker im algerischen System werden systematisch verdächtigt, nur an einer – fetten – Selbstversorgung  interessiert  zu sein.

‚Fin de règne’ in Algier?  

So sieht eine Gesellschaft aus, die keine Hoffnung auf politische Veränderung mehr hat. Dass 45 Jahre nach einer unter hohen Opfern erkämpften Unabhängigkeit von der französischen Kolonialmacht so manche Algerier in ihrem Kopf „zur Hälfte in Frankreich“ (wohin viele  Familien manche ihrer Mitglieder als Auswanderer gehen sahen) leben, wie manche Beobachter feststellen, ist ein Symptom für eine Bevölkerung ohne Selbstbewusstsein. (Vgl. auch http://hebdo.nouvelobs.com/

Man erhofft sich im Grunde nichts mehr vom Staat (in seiner lokalen Ausgabe), obwohl man doch zugleich alles von ihm erwartet, da Selbstverwaltung oder strukturierte  Selbstorganisation nicht mal in Ansätzen funktionieren – durch  27 Jahren autoritären Einparteienstaats im Namen des Antikolonialismus  ebenso plattgewalzt wie danach durch ein Jahrzehnt des  Bürgerkriegs, Terrors und Gegenterrors, während dem für viele Einwohner das pure Überleben im Vordergrund stand. Hass auf (sehr real) korrupte  Politiker und Selbstbediener gedeiht vor diesem Hintergrund ebenso  prächtig wie die – doch ziemlich  verbreiteten - Verschwörungstheorien, wonach die Staatsmacht auch die Massaker der islamistischen Guerilla- bzw. Terrorgruppen, die unter dem Label der GIA (‚Bewaffnete islamische Gruppen’, 1993 bis 2004) agierten, selbst organisiert habe. Das ist zwar, aus der Nähe betrachtet, purer Unfug. Aber einerseits traut man den regierenden Politikern auch noch das Allerschlimmste und so ziemlich jedes Übel auf dieser Welt zu, andererseits aber hält man sie für quasi allmächtig und hinter allem stehend. Das stützt sich auf reale Erfahrungen (Druck der politischen Polizei im Einparteienstaat, Manipulation politischer Kräfte vor allem zu Anfang des Mehrparteienregimes), liefert aber zugleich politische „Erklärungen“, die, vorsichtig ausgedrückt, oft ein bisschen zu kurz ausfallen. Es hinterlässt aber, alles in allem, eine traumatisierte Bevölkerung. Mit ihrer Obrigkeit kommunziert diese überwiegend nicht, indem sie bewusst Forderungen aufstellt und Druck für deren Erfüllung (oder zur Abwehr von Verschlechterungen) ausübt – sondern mit einer Mixtur aus bleierner politischer Resignation und heute hier, morgen dort spontan ausbrechendem Riot. Diese Riots bilden in Algerien ein wahrhaftes Massenphänomen. An diesem Ort bringen sie den Mangel an   bezahlbarem Wohnraum, an jenem das Fehlen von Jobs oder chronisches Ausbleiben von Trinkwasser in der Leitung zum Ausdruck. Dann knallt es drei Tage lang richtig heftig, und hinterher läuft sich alles total auseinander. 

Zuvor sind mehrere politische Utopien in Algerien gescheitert, und das hinterlässt unweigerlich Spuren im politischen Bewusstsein  („der Massen“). Zuerst gingen der „spezifische Sozialismus“ der Nationalen Befreiungsfront, die in den Jahren von 1962 bis 1989 allein regierte, und sein Versuch einer  autozentrierten Entwicklung  und Industrialisierung vor  die  Hunde. Daraufhin ist die reaktionäre Utopie der  Islamisten in den Bürgerkriegsjahren der Neunziger blutig zerplatzt. Später setzten viele ihre Hoffnungen auf den „starken Mann“. Der erstmals im April 1999 gewählte Präsident Abdelaziz Bouteflika versprach, mit starker Hand und viel politischem Voluntarismus die festgefahrene Situation aufzubrechen. Das Leben hat sich aber seitdem für die meisten Algerier  kaum verbessert. Überdies herrscht eine Atmosphäre des  fin de règne, wie man früher die zu Ende gehende Herrschaftsperiode eines alternden Monarchen nannte, in der sich die Dinge träge dahin schleppten. Bouteflika ist allem Anschein nach schwer krank, ohne dass nähere Angaben dazu vorlägen. Ende 2005 verbrachte er zwei Monate  in einem Pariser Krankenhaus, offiziell nur aufgrund  eines Magengeschwürs, und im darauffolgenden Jahr musste er nochmals aus medizinischen Gründen dringend ausgeflogen werden. Heute scheint  er von der Krankheit gezeichnet. 

Prekarität ohne Explosion 

Die ökonomische und soziale Situation des überwiegenden Teils der Gesellschaft ist prekär, ohne aber dass eine solche Verschlechterung zu beobachten wäre, dass sie zur Explosion treiben könnte. Aufgrund des  stark gestiegenen Rohölpreise sind die Staatskassen prall gefüllt: 70 Milliarden US-Dollar Devisenreserven, das ist eine seit Jahrzehnten völlig ungekannte Situation. Die Finanzierung des Staatshaushalts beruht unterdessen auf der Fiktion eines Rohölpreises von 19 Dollar    pro Barrel, während er  in Wirklichkeit aber weit darüber liegt. Die Gelder werden also im laufenden Budget der  Regierung nicht verwendet, sondern auf die hohe Kante gelegt.

Das ist nicht  ausschlieblich unvernünftig, da  Algerien  - das 97 Prozent seiner  Einkünfte  allein aus Erdöl und Erdgas bezieht, nachdem die Strategien zur Industrialisierung und  zum Ausbruch aus seiner bisherigen Rolle im Rahmen der internationalen Arbeitsteilung  gescheitert  sind - aufgrund  seiner hohen Abhängigkeit von Importen ökonomisch höchst krisenanfällig ist. Aber die Mehrheit der Bevölkerung hat, ebenfalls zu Recht, das Gefühl, dass der vom Staat abgeschöpfte Reichtum bei ihr nicht ankommt. Denn einen Grobteil davon schöpfen halbmafiöse Netzwerke ab, die vor allem vom Import – also der Verteilung des Warenüberschusses der europäischen oder  ostasiatischen Industrie – und nicht  von eigener Warenproduktion leben. In ihr mischen sich Elemente der algerischen einheimischen Bourgeoisie und der Staatsbürokratie, die zusammen die herrschende Oligarchie formen.  

Dennoch hat der algerische Staat zur Zeit die Mittel, sich in  gewissen Grenzen den sozialen Frieden zu erkaufen. So wurden zahllose faule Kredite vergeben, die etwa die Eröffnung  zahlreicher Fast Food-Restaurants und  ähnlicher Geschäfte erlaubt haben. Ein Grobteil davon  geht zwar kurz- oder spätestens mittelfristig Pleite, und die dafür aufgenommenen Kredite werden wohl kaum zurückgezahlt werden können. Aber ein Teil der Jugend ist damit zumindest kurzfristig  in Arbeit, oft als Mini-Unternehmer tätig oder auch abhängig beschäftigt. Die Arbeitslosenquote ist offiziell von 30 Prozent im Jahr 2000 auf noch 12 Prozent im vorigen Jahr gesunken. Auch wenn die Arbeiteraktivitäten im engeren Sinne – jedenfalls  in der boomenden Bauindustrie -  durch   chinesische Lohnabhängige  verrichtet werden, da die Bauaufträge an chinesische Firmen vergeben wurden, die ihre Belegschaft gleich  mitbringen und in Arbeitsplatznähe in Containern hausen lassen. 

Dabei wurde die Arbeitslosenstatistik zwar auch frisiert, und diese Angaben verdecken eine enorme Prekarität und höchst ungesicherte Zukunftsperspektiven. Aber dass mehr Geld als noch vor einigen Jahren zirkuliert und sich bei vielen jungen Leuten – auf äuberst niedrigem materiellem Lebensniveau – eine Businessmen-Mentalität  herausgebildet hat, ist eine greifbare Realität. Der  Binnenkonsum  der algerischen Haushalte betrug im Jahr 2001 noch 1.800 Milliarden Dinar (18 Milliarden Euro), 2005 hingegen 2.500 Milliarden Dinar. Auch wenn man diese Zahlen um die Inflationsrate bereinigt, widerspiegeln sie doch die Tatsache, dass tatsächlich mehr Geld im Umlauf ist.  

Religion is back? 

Eine solche Mischung aus fehlender Zukunftssicherheit, sich ausbreitender Business- und Selfmademan-Mentalität bei fehlender  materieller Absicherung – viele der kurzfristig zu Geld gekommenen Jungunternehmer leben mit ihren Eltern und  Geschwistern in überfüllten Zwei-Zimmer-Wohnungen  - ruft in anderen Teilen der Gesellschaft  Gefühle  der Verunsicherung  und Haltlosigkeit hervor. Dies lässt sich sozialpsychologisch erklären, zumal die alten Familienstrukturen zum Teil nicht mehr funktionieren -  um zu heiraten, wie die traditionelle Gesellschaft es fordert, benötigt man eine Einkommensperspektive und  eine Wohnung -, aber viele vor allem junge Frauen sich zugleich ein Leben auberhalb davon nicht erlauben können oder wollen. Etwa aus Furcht vor ungewollter Schwangerschaft  oder, mangels „Jungfräulichkeit“, fehlender Heiratsmöglichkeit. Vor einigen Jahren traten diese Widersprüche noch nicht so klar hervor, da alle Algerier gleichermaben vom Terrorismus der neunziger Jahre und  der damit verknüpften Todesangst betroffen schienen. Deshalb dominierten noch der Überlebenswille und  der Anschein, dass alle  -    notgedrungen - miteinander solidarisch seien. Heute ist dies einer Ellenbogenmentalität und, für viele, dem Eindruck einer Leere gewichen. 

Diese Lücke füllt mehr und mehr die Religion aus. Nicht im Sinne des politischen Islam, also verknüpft mit der Perspektive eines Gottestaates und der Hoffnung auf Lösung gesellschaftlicher Probleme durch Einführung  der Scharia: Diese Utopie ist, für den gröbten Teil der Gesellschaft, vorüber. Sondern im Sinne einer Ausbreitung konservativ-pietistischer Frömmigkeit und der zunehmenden Befolgung   religiöser  Regeln im  Alltag, ohne dass in  der Regel eine Verbindung zur Politik hergestellt  würde. In den frühen neunziger Jahren hatte es sich noch umgekehrt verhalten: Viele Bürger stimmten für die radikalen Islamisten, aufgrund ihrer – wenngleich reaktionären – sozialen Utopie   oder auch  um das bestehende Regime abzustrafen, aber ohne dass diese Wähler notwendig alle religiösen Verhaltensregeln im Alltag  respektier hätten. Damals  dominierte die  politische  Utopie, heute die Religion im engeren Sinne.   

Kleine Brötchen für Bäcker mit göttlicher Lizenz  

Auch die Organisationen des politischen Islam backen heute eher kleine Brötchen,  jedenfalls die meisten unter ihnen. Da sind die „moderaten“ Regierungsislamisten der Partei Hamas-MSP, die seit 1999 im Kabinett vertreten ist:  Ihre Rolle zwingt sie de facto dazu, nach Lösungen für aktuelle Aufgaben auberhalb politisch-religiöser  Wunderrezepte, nach technokratischen Antworten auf  reale Frage zu suchen. Ihr Parteichef Boudjerra Soltani widmete etwa  jüngst seine letzte  Grobveranstaltung im ostalgerischen Skikda den  Fragen der  Industrieunfälle und  der Umweltverschmutzung – in Skikda war es zu Explosionen bei der Erdölverarbeitung gekommen  - und sprach sich für die Verlagerung des Industriegebiets auberhalb der Stadt aus. Ein Massenpublikum lässt sich damit nicht  auf ähnliche Weise  leidenschaftlich fesseln,  wie wenn man ihm eine wundersame Problemlösung im künftigen Gottesstaat verspricht. Die Regierungsislamisten  spielen heute im algerischen politischen  System eine Rolle,  die grob mit jener der  CSU in Deutschland  verglichen werden kann. 

Da sind auch  die Reste der oppositionellen Islamisten,   der  1992 verbotenen   „Islamischen Rettungsfront“  (Fis).  Manche ihrer  Repräsentanten  dürfen    seit   einigen Monaten  auch wieder   ganz   offiziell   in Algerien Politik machen. Eine mitreibende Dynamik haben auch sie nicht hervorzurufen  vermocht. Bei den jüngsten Parlamentswahlen hat  die  Regierung den Repentis  (Reuigen), also den ehemals bewaffneten Islamisten, die  im Rahmen der diversen Amnestieregelungen von 1999 bis 2006 das staatliche Angebot angenommen und die Waffen niedergelegt hatten, die Kandidatur  verboten. Die radikalen Islamisten waren damit  vom Rennen ausgeschlossen. Der ehemalige Chef der „Islamischen Rettungsarmee“ AIS, Madani Mezrag, der eine erfolgreiche Konversion  zum Geschäftsmann  hinter sich hat und  von Zeit zu Zeit seine Nase  in die Politik steckt,  rief unterdessen zur Wahl der „Nationalen  Befreiungsfront“ (FLN) auf. Also der früheren Einheitspartei, die zwar inzwischen  ihr staatssozialistisch-antiimperialistisches Gesellschaftsmodell von vor 1989 aufgegeben hat, aber noch immer – oder nach einigen Jahren Pause und innerer Kriser  erneut – das Rückgrat des  politischen Machtapparats  bildet.  

FLN: Wir war’n die stärkste der Partei’n... 

Der   konservative,    teils  national-religiös eingefärbte  FLN  unter  Premierminister Abdelaziz Belkhadem ist heute die stärkste  der  drei Parteien der Regierungskoalition,  neben seinem von bürgerlichen  Karrieristen   getragenen Spaltprodukt  RND (Nationale demokratische Sammlung) und  den „moderaten Islamisten“ von Hamas-MSP. Da es dem FLN offenbar nicht gelungen ist, seine in  Jahzehnten herausgebildeten klientelistischen  Netzwerke – die vor  allem in der algerischen  Provinz noch existieren  - zu mobilisieren, verlor er  jedoch 63 Sitze im Parlament  und behält noch 136 Abgeordnete bei. Doch  nach  wie  vor bleibt  er stärkste Partei.   

Von seinem Rückschlag  profitieren die Regierungspartner  vom  RND, aber auch die Regierungsislamisten   von Hamas-MSP:  Beide  gewinnen ein  gutes  Dutzend Sitze hinzu. Letztere profitieren  aber auch vom Rückgang der ebenfalls „moderat-islamistischen“, jedoch nicht der Regierung angehörenden „Nationalen Reformbewegung“ (MRN oder Es-Islah, „Reform“). Ihr Chef Abdellah Djaballah hatte, aufgrund von Formmängeln, nicht  kandidieren können und hatte daraufhin seine Anhänger zum Wahlboykott aufgerufen. Dennoch gab es Listen unter   dem Namen von El-Islah, die aber von Djaballah als  „Usurpatoren“ und  „Karrieristen“ attackiert  wurden und  nur drei Sitze erhielten.  

Der olle FFS 

Ach ja, war da nicht noch was? Der FFS (Front des forces sociales), eine relativ alte politische Partei mit zeitweiliger regionaler Massenbasis in der Kabylei (Berberregion östlich von Algier), hatte seinerseits zum Boykott dieser Wahl aufgerufen. Die Presse, die dem sozialdemokratisch-grünen Lager in Westeuropa nahe steht, wie die Pariser ‚Libération’ und die Berliner ‚taz’ bezeichneten ihn deshalb jüngst als „gröbte Oppositionspartei in Algerien“ und führten die Wahlmüdigkeit der Bevölkerung und geringe Wahlbeteiligung u.a. darauf zurück, dass der FFS bei den Wahlen für die Abwesenheit optiert hatte.  

In Wirklichkeit haben beide Phänomene nichts oder kaum etwas miteinander zu tun, denn im Falle seiner Beteiligung wäre der FFS selbst mit (von örtlichen Hochburgen abgesehen) wohl überwiegend mit Nichtachtung gestraft worden. Alle Parteien, die bei den Wahlen mitmachten, waren potenziell diskrediert. Der FFS selbst bildet ein doppeltes Phänomen: Er verfügt über eine regional-ethnische (berberische) Basis, die mit europäischen Links-Rechts-Kategorien nicht gemessen werden kann und keine spezifische Klassennatur hat, und fährt dabei zugleich einen sozialdemokratisch klingenden Diskurs. Letzterer hat aber nichts mit einer aus den algerischen Realitäten heraus entwickelten Politik zu tun. Vielmehr ist der FFS jene örtliche Kraft, auf die die europäische Sozialdemokratie seit mehreren Jahren ihre volle Unterstützung setzt. Ihr Parteichef Hocine Aït Ahmed lebt seit 15 Jahren nicht in Nordafrika, sondern im schweizerischen Lausanne, wo es ja auch schön ist – und schwarwänzelt zwischen  europäischen Parteisitzen und  Zeitungsredaktionen hin und her. Insofern ist der FFS, zumindest und jedenfalls an seiner Spitze, inzwischen auch zum Gutteil ein Auswuchs der europäischen politische Klasse. Und es sind die Widersprüche, die notwendig durch eine Funktionsweise mit einem – per Fax „regierenden“ – Parteivorsitzenden in Lausanne und Kadern „vor Ort“ mit eigenen politischen Ambitionen hervorgerufen werden, die den FFS seit nunmehr zwei bis drei Jahren in eine schwere innere Krise gestürzt haben. Hierin liegt wohl der wirkliche Grund seines Fernbleibens von den Wahlen.    

Und links? 

Links traten zwei Parteien an. Die bekanntere, aber heutzutage – nun  ja - weniger progressive  unter  ihnen ist der PT (Arbeiterpartei) von Louisa Hanoune. Diese ehemals trotzkistische Formation tritt heute  vorwiegend nationalistisch auf, kritisiert zwar das internationale Kapital und die wirtschafftsliberalen „Reformen“, hält sich aber seit einiger  Zeit  mit Kritik an der algerischen Oligarchie auffällig zurück. Im Wahlkampf  erklärte Louisa Hanoune auch  noch  ihre  Unterstützung für Präsident Bouteflika und seinen Kurs. Da der PT aber zu  den wenigen Kräften gehört, die überhaupt konkret die sozialen Fragen aufgreifen, erhielt er  ähnlich wie schon 2002 einen Achtungserfolg. Erneut erhielt er rund fünf Prozent  der Stimmen, aber mit  26 Sitzen sechs Mandate mehr als  beim vorigen Mal. Weiter links steht  der kleine PST  (Sozialistische  Arbeiterpartei), der eher undogmatisch-trotzkistisch  ist, aber der  dieses  Mal auch  andere Linke  - marxistische Intellektuelle, ehemalige Parteikommunisten, Journalisten, Gewerkschafter – sammeln konnte.  Seine Listen waren in ungefähr der  Hälfte des Staatsgebiets vertreten  und erhielten dort, wo sie antraten, 2 Prozent der Stimmen, aber keinen Sitz. Der  PT von Louisa Hanoune hatte zuvor eine Hasskampagne gegen die linke Konkurrenz betrieben und sie mal beschuldigt,  von Israel  unterstützt,  und  mal,  von  der   Europäischen Union bezahlt zu  werden.  

Generell zahlt  sich ein Antritt  zu  den Wahlen mit einem sozial widerständlerischen Profilt derzeit nicht sehr aus, da der Teil der Gesellschaft, den dies  ansprechen  könnte, ohnehin nicht wählen gegangen ist. Dennoch ist es zum ersten Mal seit Jahren gelungen, wieder eine linke Stimme bei  den Studierenden oder Arbeitenden erklingen zu lassen, und  im Wahlkampf  kamen auch Hunderte  von Leuten zu den entsprechenden Veranstaltungen. Bürgerliche Kandidaten übernahmen sogar einige der  Slogans der  Sozialisten zu sozialen Fragen, nachdem sie gewissen Anklang  gefunden  hatten.  Ob daraus längerfristig irgend etwas  erwächst,  oder ob  die   allgemeine politische  Apathie  auch  weiterhin  überwiegt , bleibt abzuwarten.   

Djihadisten: Wählen kann nur Sünde sein 

Auf ihre Art für Zuspitzung sorgten ihrerseits die verbliebenen bewaffneten Islamisten, die sich seit Jahresanfang  in „Al-Qaïda  im Lande des islamischen Maghreb“ umbenannt haben. Sie versuchten die Bevölkerung  in einem Aufruf mit dem Argument  zu  agitieren, diese Wahlen seien „eine Komödie“ und völlig nutzlos. Davon war freilich die  grobe Mehrheit ohnehin überzeugt,  ohne  deswegen   irgendwelche Sympathien für die Terrororganisation zu empfinden, die bei zwei Bombenanschlägen in Algier am  11. April nach aktuellen  Angaben 30  Personen tötete und  220  verletzt  hat.  

Ferner  bedrohte der Ableger von Al-Qaïda im Maghreb das  Publikum: Wählen sei „eine Sünde“,  die  ihre gerechte Strafe  nach sich ziehe. In den Tagen vor der Wahl versuchte die Untergrundgruppe, die Spannung ansteigen zu lassen. In einem Stadtteil der ostalgerischen Metropole Constantine explodierte wenige Stunden vor Eröffnung der   Stimmlokale  eine  Bombe, die eine Person tötete und zwei verletzte. Umgekehrt versuchte die Regierung, dies als Argument zu nutzen,  um  die Bevölkerung  zum Gang an die Urnen  zu  bewegen. Wählen sei ein Akt des  Widerstands,  und eine hohe Wahlbeteiligung widerspiegele „ein Referendum  gegen  den Terrorismus“, behauptete  Innenminister Zerhouni, eine Formulierung  von  Louisa Hanoune aufgreifend. 

In der Vergangenheit hat dies einmal durchaus funktioniert: Bei der ersten  Präsidentschaftswahl  nach dem  Ausbruch  des  Bürgerkriegs,   am 16. November 1995, ging ein  Grobteil der  algerischen Bevölkerung tatsächlich wählen. Stundenlang  standen die  Menschen  Schlange, ob in  Algerien oder auch französischem Boden  -  wo  eine  Million   Wahlberechtigte leben  und  mehrere Sitze im algerischen Parlament   vergeben  werden -, nachdem auch damals die bewaffneten Islamisten den „sündigen“ Wählern mit Konsequenzen  gedroht hatten. Die damalige Wahl war tatsächlich eine Volksabstimmung gegen den Terrorismus,  und die Menschen stimmten gegen den  bewaffneten Untergrund. Und nicht wirklich  für den daraufhin – aufgrund  mutmablich  manipulierter  Ergebnisse - zum Präsidenten gewählten General Liamine Zéroual, der in der Folgezeit für drei Jahre als Staatsoberhaupt amtierte, bis er Ende 1998 aufgrund von Streitigkeiten  innerhalb der Oligarchie zurücktrat. 

In diesem Jahr ging die Rechnung nicht  auf.  Obwohl  die grobe Mehrzahl die Gewalt des Al Qaïda-nahen Untergrunds klar ablehnt und  Hunderttausende  nach  den Attentaten von Algier an Demonstrationen gegen ihn teilnahmen, lieb sich niemand dadurch an  die Urnen  bewegen. Genauso wenig jedoch, darüber  sind  sich sämtliche Beobachter vor Ort einig, waren die Drohungen des Al Qaïda-Ablegers ein  Motiv dafür, die  Leute  von der Stimmabgabe abzuhalten: Sie wurden weitestgehend mit Gleichgültigkeit aufgenommen. 

Ein Hauptgrund dafür  -  neben der  verbreiteten politischen Apathie -  ist, dass die bewaffneten  Islamisten  heute, anders als  1995, offenkundig völlig auberstande sind, die Machtfrage in Algerien  zu stellen. Damals war das nicht so klar. Heute können die bewaffneten  Islamistengruppen  zwar noch immer Nachwuchs rekrutieren.  Aber  Algier ist für sie ein beliebiger Kampfschauplatz  in  einem weltweiten Kräftemessen zwischen „Gut“  und  „Böse“, ebenso wie Bangkok oder London. Sie können die realen Widersprüche der algerischen Gesellschaft nicht für sich nutzen, um eine Massenbasis zurückzugewinnen. Geschweige denn, dass sie ernsthaft daran denken  könnten, das algerische  Regime zu kippen. Einen Krieg niedriger Intensität gibt es unterdessen, er wird auch weiterhin stattfinden. 21 Menschen -  islamistische Kombattanten, Soldaten oder Polizisten und Zivilisten zusammengefasst   - kamen im Januar diesses Jahres in  Algerien durch politische Gewalt zu Tode. 18 waren es im Februar, 45 im März und im April waren es, die beiden gröberen Anschläge in Algier mit eingerechnet, insgesamt 81 Tote – unter ihnen 28 islamistische Kämpfer. Von Anfang Mai und bis zur Monatsmitte nochmals rund zwanzig Tote hinzu; ferner entfesselte die Armee rund um den Wahltermin (17. Mai) im Raum Algier und im Nordosten des  Landes   eine Groboffensive  gegen die Stellungen von „Al-Qaïda im Maghreb“, der laut offiziellen Verlautbarungen angeblich rund 80 Al Qaïda-Kombattanten zum Opfer fielen. 

Auf  die Ergebnisse der Wahlen hatte dies keinerlei Einfluss, und  die meisten Algerier nehmen es inzwischen – „abgebrüht“  von der extremen Gewalt der  Bürgerkriegsjahre – mit einem Achselzucken zur Kenntnis. 

 

Editorische Anmerkungen

Den Artikel erhielten wir von Autor am 1.6.07 zur Veröffentlichung.

Vgl. zur vorausgehenen Parlamentswahl in Algerien vom 30. Mai 2002:
http://www.nadir.org/nadir/periodika/jungle_world/_2002/24/17b.htm