Bernard Schmid berichtet aus Frankreich
Frankreichs (extreme) Rechte nach der Präsidentschafts- und vor der Parlamentswahl: Rechts wählte Sarkozy. Was wird aus Jean-Marie Le Pen und seinem Erbe?
06/07
trend
onlinezeitungJean-Marie Le Pen, der seit über 50 Jahren in der französischen Politik unterwegs ist (im Januar 1956 wurde er Abgeordneter für die kleinbürgerliche, steuerfeindliche und antisemitisch grundierte Protestbewegung der ‚Poujadisten’), gehört zu einer Generation, die noch klassische Kultur angelernt hat. Am Abend des 22. April, dem ersten der beiden Wahlsonntage der französischen Präsidentschaftswahl, zitierte er vor seinen Getreuen aus dem Deuteronium, dem fünften Buch Moses’. Er wählte die Szene, in denen der 120jährige Moses sich gewahr wird, dass er selbst das Gelobte Land nicht mehr schauen wird, wohin er seit Jahrzehnten mit seinem Volk unterwegs ist. „Du wirst diesen Jordan nicht überqueren“, sagt ihm sein Gott.
„An diesem Abend hat Le Pen verstanden, dass er es nicht schaffen wird. Dass er nicht in den Elysée-Palast eintreten wird“ übersetzt das von rechtsextremen Intellektuellen gemachte Hochglanzmagazin Le Choc du mois in seiner jüngst erschienenen Ausgabe (die Mai-Nummer, aber des Heft erschien erst um den 20. Mai herum) für seine Leser. Es stellt sich also, fügt die Monatszeitschrift hinzu, nunmehr ernsthaft die Nachfolgefrage an der Spitze des Front National. Im Grunde stelle sie sich seit fünf Jahren, obwohl sie bislang in der rechtsextremen Partei tabuisiert worden sei, da den alternden Chef ein Zornesanfall packe, sobald das Reizthema „Das Alter des Kapitäns“ angesprochen werde. Im Juni dieses Jahres wird er 79.
Seit 1984 war seine Partei fast kontinuierlich – langsam, aber stetig – aufgestiegen. Jedenfalls hatten seine prozentualen Stimmanteile bei Präsidentschaftswahlen bisher von Mal zu Mal zugenommen. Auch wenn diese, wie der Choc du mois hinzufügt, in absoluten Zahlen ausgedrückt, regelmäbig einem gleich bleibenden Anteil von 11 Prozent der in die Wählerlisten eingetragenen Stimmberechtigten entsprochen haben. Denn auch die Wahlenthaltung war in der Vergangenheit immer wieder gewachsen, während sie in diesem Jahr – unter anderem ein Ergebnis der starken Polarisierung „pro oder kontra Nicolas Sarkozy“ – erstmals stark angestiegen ist.
Im Soge des Nicolas Sarkozy?
Zum ersten Mal ist die Stimmenzahl des alternden rechtsextremen Politikers gleichzeitig real zurückgegangen. Sein diesjähriger Prozentanteil, circa 10,5 Prozent der abgegeben Stimmen, entspricht nur noch 8,6 Prozent der eingetragenen Wahlberechtigten. Oder in absoluten Zahlen ausgedrückt: Von 4,8 Millionen Stimmen im ersten Durchgang der Präsidentschaftswahl von vor fünf Jahren blieben ihm, in diesem April, noch 3,8 Millionen. Wohin sind die ausbleibenden Stimmen gewandert?
Die Antwort lässt keinen Zweifel offen. Eine Million früherer Wähler Le Pens entschieden sich in diesem Jahr schon im ersten Durchgang der Präsidentschaftswahl am 22. April für den rechtsbürgerlichen Kandidaten Nicolas Sarkozy. Von den verbleibenden Wählern (und Wählerinnen) Le Pens gingen in der zweiten Runde, der entscheidenden Stichwahl, dann – trotz entgegenlautenden Willens ihres vormaligen Kandidaten - nochmals zwei Drittel, also knapp drei Millionen, zu Sarkozy über. Dieser hatte mit seinen Versprechen, die „nationale Identität“ zu schützen und „die Ideen des Mai 1968 so schnell wie möglich zu liquidieren“, einige ideologische Duftmarken gesetzt, die offenkundig anziehend wirkten. Sarkozy ist dabei freilich kein Faschist, sondern verkörpert eine Mixtur aus autoritärem Populismus in der Innen-, Polizei- sowie Sicherheitspolitik und wirtschaftsliberalem Programm der „Weltöffnung“ (im Namen der „Erfordernisse der Globalisierung“), aus einem Appell an die Leistungsträger und ihre Individualität (sowie ihr Arbeitsethos) einerseits und starkem Staat andererseits, aus Beschwörung der „nationalen Identität“ und Neoliberalismus mitsamt einigen multikulturellen Salatblättern als Garnitur obendrauf. Kurzum, eine Art Mischung aus frühem Ronald Reagan, einer Dosis Jörg Haider (freilich klar ohne dessen Antisemitismus: Nicolas Sarkozy ist weitaus eher betonter Philosemit), einer ordentlichen Prise Silvio Berlusconi und ein bisschen Charles de Gaulle. Letzterer war historischer Antifaschist und beharrte aubenpolitisch auf einer spürbaren Unabhängigkeit gegenüber den US-Amerikanern und ihrer Vormachtstellung. Für Nicolas Sarkozy, und seine Generation von Politikern der bürgerlichen Rechten, hat alles beide an Bedeutung verloren.
Auf ein paar Widersprüche kommt es, im Übrigen, bei diesem Profil nicht an. Ab seinen Reden vom 11. März in Caen und vom 13. März 2007 in Besançon beschwor Nicolas Sarkozy immer wieder die bedrohte nationale Identität als Schutzwall gegen den „Zerfall des sozialen Zusammenhalts“ und gegen die Verwerfungen der „Globalisierung“. Derselbe Kandidat, der wie kein zweiter für eine Entfesselung der Marktkräfte auf wirtschaftlicher Ebene und für eine neue Achse Washington-Paris eintritt, beschwor die Gefahren eines „seelenlosen Kapitalismus“ und malte die Gefahr einer „Uniformierung der Welt“ durch die „Dominanz der englischen Sprache“ in finstersten Farben aus. In seiner Rede von Besançon, in der Sarkozy sich gegen reale und imaginäre Angriffe verteidigte und sich selbst als Opfer der Political Correctness -- der an einem Tabu zu rütteln gewagt habe – präsentierte, benutzte er nicht weniger als 28 mal die Worte „Identität“, „nationale Identität“ und „identitär“. Teilweise schon im ersten, spätestens aber im zweiten Wahlgang zog die Masche: Reihenweise gingen die Le Pen-Wähler dem geschickten Fischer ins Netz. (Und nun gibt es für ebendiese bedrohte „nationale Identität“ ja sogar ein eigenes Ministerium, nachdem Sarkozy Präsident geworden ist: Sein neuer Minister Brice Hortefeux ist, laut offizieller Amtsbezeichnung, für „Zuwanderung, Integration, nationale Identität“ zuständig.)
Jean-Marie Le Pen hatte noch gegensteuern, und seine Anhängerschaft gegen den „Sog“ hin zu Nicolas Sarkozy immunisieren wollen. Der „harte Kern“ der Parteigänger des Front National hat den Appell, den Le Pen vor circa 4.000 bis maximal 5.000 Teilnehmern an seinem jährlichen „Marsch für die Nationalheilige Jeanne d’Arc“ (ZUR DIESJÄHRIGEN AUSGABE VGL. BEISTEHENDE FOTOS) vor der Pariser Oper erlieb, sicherlich unterstützt und befolgt. Ihnen ist der Hass auf Nicolas Sarkozy, den „Schwindler“ und „politischen Hochstapler“, der ihnen die Stimmen weggenommen hat, der in ihren Augen ein „Ausländer“ und gar noch „Jude“ ist[1], anzusehen und –hören. Aber das Gros der „einfachen“ Wähler, des Massenpublikums der rechtsextremen Partei lieb sich davon nicht beeindrucken. In Scharen liefen sie zu dem Kandidaten über, der ihnen Autorität, „nationale Identität“, harte Strafen für Übeltäter oder einen positiven Arbeits- und Leistungsbezug versprach – und dabei im Unterschied zu Jean-Marie Le Pen auch reale Chancen hatte, das höchste Staatsamt zu übernehmen.
Jean-Marie Le Pens Aufruf zur Stimmenthaltung
Es hatte durchaus einen realen soziologischen Hintergrund, wenn Jean-Marie Le Pen im Hinblick auf den zurückliegenden ersten Durchgang der franzöisischen Präsidentschaftswahl in seiner Rede zum 1. Mai 2007 vor der Pariser Oper ausrief: „Wie immer waren es die einfachsten Leute, die Bedürftigsten, die am treuesten gewesen sind. Jene, die wissen, dass es das Vaterland ist, das den Armen bleibt, wenn sie gar nichts mehr haben, und die wissen, dass wir die wahren Patrioten, die wahren Verteidiger des Vaterlands sind. Ich bin der erste Kandidat (Anm.: vom Stimmenanteil her) unter den Arbeitern, und ich bin stolz darauf.“
Die letzte zitierte Aussage war freilich in diesem Jahr glatt gelogen: Jean-Marie Le Pen erhielt im April 2007, je nach Angaben, 13 bis 15 Prozent der Stimmen aus der Arbeiterschaft (ebenso viele wie unter den Kleingewerbetreiben) und war damit dort bei weitem nicht der bestplatzierte Kandidat. Überdurschnittlich hoch lag sein Anteil allerdings unter den Zeitarbeitern, mit 24 Prozent[2]: Allem Anschein nach schlägt sich die alltäglich erlebte wirtschaftliche und soziale Unsicherheit dieser besonders prekarisierten Lohnabhängigengruppen tatsächlich in einem relativ hohen Mabe in einem ideologisierten „Sicherheitsbedürfnis“ nieder. Aber generell betrachtet, hatte Le Pen in den sozialen Unterklassen dieses Jahr nicht so sonderlich hoch abgeschnitten. Anders hatte es tatsächlich noch bei der Präsidentschaftswahl vom 23. April 1995 ausgesehen: Damals lag Jean-Marie Le Pen, mit über 20 Prozent der abgegeben gültigen Stimmen aus der Arbeiterschaft, in dieser sozialen Gruppe im ersten Wahlgang auf Platz Eins – freilich vor dem Hintergrund einer enorm starken Stimmenthaltung in den Arbeiterhaushalten. Im Frühjahr 2007 lag unterdessen (bei einer Rekordwahlbeteiligung, die insbesondere eine Konsequenz der Polarisierung „pro oder kontra Sarkozy“ in einem Grobteil der Wählerschaft war) die Quote der Wahlteilnahme auch in den Unterklassen auf hohem Niveau. Damit ging der prozentuale Anteil Jean-Marie Le Pens automatisch zurück; hinzu kam dann noch dessen generelles Absinken, da der rechtsextreme Kandidat auch in absoluten Wählerzahlen gemessen zwischen 2002 und 2007 an Stimmen verloren hat.
In absoluten Zahlen ausgedrückt, hat Jean-Marie Le Pen am 22. April dieses Jahres 3,8 Millionen Wähler angezogen. Das sind gut eine Million weniger als beim ersten Durchgang, und anderthalb Millionen Stimmen weniger als im zweiten Durchgang der Wahl von 2002. Damals hatte Jean-Marie Le Pen 4,77 Millionen Wähler in der ersten Runde (zuzüglich 660.000 für seinen rechtsextremen Konkurrenten Bruno Mégret) und 5,45 Millionen im zweiten Wahlgang. Dies entsprach damals einem Stimmenanteil von jeweils 16,8 bzw. 17,8 Prozent.
Der rechtskatholische Politiker und nationalkonservative Graf Philippe de Villiers, Chef der Kleinpartei Mouvement pour la France (MPF, „Bewegung für Frankreich“), erhielt seinerseits in diesem Jahr 2,2 Prozent der Stimmen und gut 800.000 Stimmen. Seine Stimmen wären wohl, hätte de Villiers nicht antreten können, gut zur Hälfte an Le Pen und zu rund einem Drittel an Nicolas Sarkozy gegangen. Er war vor fünf Jahren nicht angetreten. Aber 1995 hatte Philippe de Villiers bereits einmal zur französischen Präsidentschaftswahl kandidiert und damals einen Anteil von 4,74 Prozent sowie 1,4 Millionen Stimmen erzielt. Sein diesjähriges Ergebnis ist ein klarer Misserfolg. Ihm war es im Vorfeld der Wahl nicht gelungen, einen eigenständigen Platz zwischen Jean-Marie Le Pen auf der einen Seite, und den Konservativen unter Nicolas Sarkozy auf der anderen Seite zu behaupten.
Waren seine Angaben zu seinem eigenen Abschneiden in der Arbeiterschaft also unzutreffend und übertrieben, so hatte Le Pen doch Recht, was die generelle Tendenz betrifft: Je wohlhabender seine früher Wählerschaft war, desto eher fühlte sie sich (grob gesprochen) in diesem Jahr schon in der ersten Runde der Präsidentschaftswahl zum konservativen Kandidaten Nicolas Sarkozy hingezogen.
In derselben Ansprache forderte Jean-Marie Le Pen seine Anhänger dazu auf, sich im zweiten Wahlgang fünf Tage später „in grober Zahl der Stimme zu enthalten“ (s’abstenir massivement). Die Wähler des FN-Kandidaten sollten weder Sarkozy noch seine Gegenkandidatin Ségolène Royal unterstützen, sondern ihre Mobilisierung für die Parlamentswahlen im Juni 2007 „reservieren“ und dann für die Kandidaten der rechtsextremen Partei stimmen. Die Cheftochter Marine Le Pen ihrerseits kündigte drei Tage vor der Stichwahl zwischen Sarkozy und Royal öffentlich an, dass sich nach ihrer Vorhersage „50 Prozent der Wähler Le Pens am Sonntag der Stimme enthalten werden“. Hingegen würden rund 20 Prozent unter ihnen für Ségolène Royal stimmen, und „die Übrigen“ – also circa 30 Proznet – wohl für Nicolas Sarkozy. Dies war auch eine Form des Feilschens, da die Ankündigung Marine Le Pens im Prinzip für die beiden groben Kandidaten die Möglichkeit offen lieb, durch politische Stellungnahmen noch einen bestimmten Prozentsatz der Wählerinnen und Wähler der rechtsextremen Partei anzuziehen.
Eine exakte Prognose hatte Marine Le Pen unterdessen nicht abgegeben: Real votierten am 06. Mai dann rund zwei Drittel der Wähler Jean-Marie Le Pens aus dem ersten Wahlgang für Nicolas Sarkozy. Rund ein Fünftel enthielt sich der Stimme, der Rest entschied sich für die sozialdemokratische Bewerberin Ségolène Royal[3]. Trifft diese Berechnung zu, dann tendierte die Wählerschaft Le Pens aus der ersten Runde der Präsidentschaftswahl nicht in höherem Mabe zur Stimmenthaltung als die Wählerschaft anderer Kandidatinnen und Kandidaten, die in der zweiten Runde nicht mehr vertreten waren. Unter den Wählerinnen und Wählern des christdemokratischen Zentrumspolitikers François Bayrou vom 22. April enthielten sich ebenfalls rund ein Fünftel in der Stichwahl der Stimme, während sich jeweils rund 40 Prozent unter ihnen auf die beiden übriggebliebenen Bewerber um das höchste Staatsamt aufteilten. Und von den Wählerinnen und Wähler der unterschiedlichen Linkskräfte auberhalb der französischen Sozialdemokratie (KP, Grüne, Globalisierungskritiker, Trotzkisten), die im ersten Wahlgang zusammen 10 Prozent der Stimmen holten, enthielten sich 20 Prozent in der Stichwahl, während 71 Prozent unter ihnen Ségolène Royal wählten. Sofern diese Zahlen zumindest tendenziell die Wirklichkeit richtig wiederspiegeln, dann hat die Le Pen-Wählerschaft also in der Stichwahl von 2007 ein ähnliches Wahlverhalten an den Tag gelegt wie die übrigen politischen Spektren, die nicht mehr mit „ihren“ Kandidaten in der zweiten Runde vertreten waren. Jean-Marie Le Pens Appell an seine Anhänger vom 1. Mai fruchtete demnach, zumindest unter den „einfachen“ Wählern, nicht.
Dieser Aufruf war aber auch ein Versuch, die auseinander divergierenden Tendenzen innerhalb des FN auf den kleinsten gemeinsamen Nenner zu bringen. Denn aus diesem Anlass wurden schnell unterschiedliche Bestrebungen innerhalb der extremen Rechten im weiteren Sinne, aber auch – sogar – innerhalb des Parteiapparats des Front National spürbar.
So riefen die örtlichen Führer der Partei in Neukaledonien, dem französischen „Überseeterritorium“ im Westpazifik – de facto eine Restkolonie, über deren Unabhängigkeit im Jahr 2014 abgestimmt werden soll, und die eine gemischte Bevölkerung aus weiben Zuwanderern aus Europa und einer altansässigen melanesischen Einwohnerschaft aufweist – unzweideutig zur Stimmabgabe für Nicolas Sarkozy in der Stichwahl auf. Ihre Begründung lautete, Sarkozy habe „im Gegensatz zur Ségolène Royal klar zur Beibehaltung Neukaledoiniens als Bestandteil Frankreichs“, also gegen eine spätere Unabhängigkeit, Stellung genommen - in den Worten des FN-Vorsitzenden auf der Insel, Guy George[4]. Im übrigen nahm mindestens ein regionaler Kader des FN, André Troise, ehemaliger Regionalparlamentarier in Montpellier, am 29. April an der Wahlkampf-Abschlussveranstaltung Nicolas Sarkozy in der Pariser Bercy-Halle teil. Die linksliberale Tageszeitung Libération ergänzt in ihrem Bericht aus Paris-Bercy, wo Sarkozy in einer Kampfrede versprach, „die Ideen des Mai 1968“ endlich „zu liquidieren“, dazu: „Am morgigen Tag (dem 1. Mai) wird er zusammen mit Le Pen an dessen alljährlicher Parade für Jeanne d’Arc teilnehmen. In seiner Region rührt er seit Anfang der Woche intensiv die Werbetrommel für den UMP-Kandidaten“ im zweiten Wahlgang[5]. Dabei mag es sich freilich um eine individuelle Initiative gehandelt haben, die dem Chef möglicherweise missfiel.
Tatsache ist, dass ein Aufruf Le Pens, für Nicolas Sarkozy zu stimmen, der ohne sichtbare „Gegenleistung“ des konservativen Kandidaten erfolgt wäre, den harten Kern seiner Partei mutmablich ebenso zerrissen hätte wie ein denkbarer[6] provokatorischer Aufruf zur Stimmabgabe für Ségolène Royal. Insofern war die Aufforderung, zwischen den beiden Kandidaten die Enthaltung zu wählen, der sicherste Ausweg für ihn.
Die Stimmenwanderungen im zweiten Wahlgang
Auch im zweiten Wahlgang 2007, ähnlich wie im ersten, sind stärkere regionale Disparitäten hinsichtlich des Verhaltens der Le Pen-Wähler festzustellen.
Die Übergänge von Stimmen Le Pens aus dem ersten Wahlgang zu Nicolas Sarkozy in der zweiten Runde sind dort besonders stark, wo die FN-Wählerschaft historisch von der konservativen Rechten kam. Dies trifft insbesondere für das Elsass und die südfranzösische Region PACA zu, wo einerseits die Stimmenanteile des FN-Kandidaten in der Vergangenheit hoch waren, und wo andererseits der konservative Kandidat im Jahr 2007 einen fast erdrutschförmigen Wahlsieg erntet. So erhält Nicolas Sarkozy in der Stichwahl 65,6 Prozent der Stimmen im Elsass, und über 61,8 Prozent in der Region PACA. Im zweiten Falle konstatiert die Pariser Abendzeitung Le Monde in ihrer Auswertung der Wahlergebnisse: „Im zweiten Wahlgang bestätigt der UMP-Kandidat seinen Erfolg auf spektakuläre Weise, indem er gegenüber der ersten Runde um fast 25 Prozentpunkte zulegt, dank der massiven Zufuhr der Stimmen von Jean-Marie Le Pen, Philippe de Villiers und François Bayrou. Nirgendwo sonst ist ihm (Anm.: Sarkozy) auf derart glänzende Weise die Übernahme der FN-Wählerschaft gelungen.“[7]
Hingegen sieht es auch im zweiten Wahlgang wiederum in jenen Regionen anders aus, wo die FN-Wählerschaft vor dem Aufstieg Jean-Marie Le Pens nicht immer rechts gewählt hat. In der Picardie, wo historisch früher eher die Linke stark war, bevor der FN in den 1990er Jahren einen Durchbruch erlebte und in diesem Jahrzehnt seine Position nochmals ausbauen konnte, gewinnt Nicolas Sarkozy in diesem Jahr mit 54,4 Prozent der Stimmen. Le Monde notiert, dass „die Aufrufe Jean-Marie Le Pens zur Enthaltung in dieser Region anscheinend nicht befolgt worden sind.“ Hingegen schreibt dieselbe Zeitung über das ehemalige Industrierevier Nord-Pas-de-Calais, und insbesondere über dessen zweiten Bezirk, das Département Pas-de-Calais: „Es ist festzustellen, dass die hohen (Anm.: Prozent-)Ergebnisse Ségolène Royals im Pas-de-Calais oft mit einer überdurchschnittlichen Wahlenthaltung einhergehen, vor allem in den Städten, wo der Front National gute Ergebnisse erhielt. Die Aufrufe Jean-Marie Le Pens (...) sind anscheinend in diesem Bezirk eher gut befolgt worden.“ Im Pas-de-Calais liegt Ségolène Royal insgesamt mit einem prozentualen Stimmenanteil von 52,0 Prozent vorne.
Richtungskampf innerhalb der extremen Rechten
In den Reihen des Front National, und darüber hinaus der extremen Rechten allgemein, hat schon seit dem Abend des ersten Wahlgangs ein heftiger politisch-ideologischer Schlagabtausch begonnen. Dabei steht mehr auf dem Spiel als allein die taktische Frage der Stimmabgabe für Nicolas Sarkozy, oder ihrer Verweigerung.
Die Wochenzeitung Minute, die eine Scharnierfunktion zwischen dem Front National und Fraktionen der konservativen Rechten einnimmt, berichtet in ihrer Ausgabe vom 25. April 2007 über eine Wahlfeier, bei der die Fäuste flogen. Am Abend des ersten der beiden Wahlsonntage, dem 22. April, hatte die FN-Parteispitze den Veranstaltungssaal Salle de l’Equinox (Saal der Sonnenwende) am Südrand von Paris im 15. Bezirk angemietet, der sich für die paar Hundert Anwesenden als wesentlich zu grob erweisen sollte. Dort kam es dann zu heftigen Reibereien - aus Anlass des Besuchs des „Komikers“ Dieudonné M’bala M’bala. Der frühere Antirassist, der in den letzten Jahren zum Berufsprovokateur und Meister der politischen Konfusion geworden ist, hatte bereits am 11. November 2006 an Le Pens „Präsidentschaftskonvent“ in der Pariser Vorstadt Le Bourget teilgenommen. Am 18. Dezember desselben Jahres hatte ein wesentlicher Teil der FN-Führung (darunter Generalsekretär Bruno Gollnisch und die Chef-Gattin Jany Le Pen) am Abschlussschauspiel seiner damaligen Tournée im Pariser Konzerthaus Le Zénith vorbeigeschaut und Prominentenplätze im Saal eingenommen. Nicht jedoch Jean-Marie Le Pen selbst, einerseits um nicht negative Reaktionen in seiner Partei hervorzurufen, wo nicht alle Dieudonné schätzen, und andererseits, um nicht aufgrund von Kontakten zu dem schwarzen französischen Antisemiten eine zu grobe Angriffsfläche in den bürgerlichen Medien zu bieten[8]. In den folgenden Monaten hatte Dieudonné mal behauptet, im ersten Wahlgang den parteilosen Linkspopulisten und Globalisierungskritiker José Bové zu unterstützen, dann wieder, in der Stichwahl für die Sozialdemokratin Ségolène Royal zu stimmen – von beiden Kandidaten holte er sich jedoch eine heftige Abfuhr, und sie schlugen jegliche Unterstützung von seiner Seite aus[9].
Faktisch unterstützte Dieudonné, dessen persönlicher Freund Alain Soral seit anderthalb Jahren Jean-Marie und Marine Le Pen berät und der am 06. Februar 2007 offiziell in den Wahlkampfstab des FN-Kandidaten aufgenommen wurde, Le Pen. Aber bei den Teilnehmern des Wahlabends am 22. April sahen nicht alle gern sein Kommen. Rund 30 rechtsextreme Hooligans des Pariser Fubballclubs PSG Paris-Saint Germain (PSG) stürzten sich in der Halle auf ihn, um ihn physisch zu malträtieren. In ihren Augen ist Dieudonné nicht in erster Linie der taktische Bündnispartner – der es in den Augen mancher rechtsextremer Kader erlaubt, politische Konfusion tief hinein in die Reihen der Einwanderungsbevölkerung zu tragen -, sondern der afrikanischstämmige „Mischling“, der in der französischen Politik nichts zu suchen hat. Daraufhin musste der DPS, der FN-eigene Ordnerdienst, dem Schwarzen zu Hilfe eilen. Minute berichtet zur Hälfte amüsiert und zur Hälfte befremdet darüber, wie „einer der historischen Chefs des GUD“ (Anm.: des Groupe Union-Défense, also einer rechtsextremen studentischen Schlägertruppe, die von den 1970er Jahren bis in die 1990er Jahre an der Pariser Jurafakultät Assis ihr Unwesen trieb) Dieudonné vor den andringenden Angreifern schützte: Eine solche Szene hätte man sich früher nicht denken lassen. Der Reporter der rechtsextremen Wochenzeitung berichtet aber auch darüber, wie die DPS-Mitglieder in ihrer Uniform sich zum Kommen von Dieudonné äuberten: „Er hat uns zu viele Stimmen verlieren lassen“, mit diesen Worten wird etwa einer von ihnen zitiert. Worauf freilich ein anderer antwortet: „Er hat uns vielleicht ebenso viele gewinnen lassen, wer weib...“
„Die Gründe für den Flop“
An anderer Stelle, in einem langen Artikel unter dem Titel „Die Ursachen für den Flop Le Pens“, analysiert Minute in derselben Ausgabe die Gründe für den Rückgang an Stimmen. Die rechtsextreme Zeitung betrachtet so, im Nachhinein, die u.a. mit dem Namen des Schriftstellers und Wahlkampfberaters Alain Soral verbundenen Versuche der politisch-ideologischen Spurenverwischung und so genannten Entdiabolisierung als schädlich. „Eine Reihe von Signalen an die Franzosen ausländischer Herkunft“, schreibt Minute, „von dem Besuch Dieudonnés beim Präsidentschaftskonvent im Herbst bis zum Abstecher Le Pens in Argentueil im April (Anm.: siehe dazu Näheres in unserem vorigen Kapitel), haben dazu beigetragen, einen Teil seiner Wählerschaft zu desorientieren: diese ‚gebürtigen Herkunftsfranzosen’ (Français de souche), denen er möglicherweise den Eindruck vermittelt hat, dass er nicht nicht mehr dieselbe Aufmerksamkeit widmet wie f früher.“
Sicherlich trifft es zu, dass ein Teil der früheren FN-Wähler, vort allem ihr bürgerlichster und konservativster Teil aus den traditionellen Mittelklassen, sich in diesem neuen Profil des Front National kaum wiedererkannt hat. In ihren Augen wirkte dieser Versuch, das Bild eines diffusen rechten Rebellentums zu sein und nicht mehr so klar markiert zu wirken wie früher (etwa im Hinblick auf den Rassismus), höchstwahrscheinlich „unseriös“. Ihm zogen sie das solide konservative Programm und Profil dann im Zweifelsfall vor.
Die politischen Brüche quer durch die extreme Rechte widerspiegeln sich auch in den unterschiedlichen Haltungen zur Wahlempfehlung für die Stichwahl, um die herum es in den Reihen der extremen Rechten zu einer kurzen Kontroverse kam.
Welche Haltung zu den Konservativen? Nationalrevolutionäre versus Ultrakatholiken
Bernard Antony, der ehemalige Chef des katholisch-fundamentalistischen Parteiflügels – der zwar seit Anfang 2006 keine Mitgliedsbeiträge an den FN mehr abführt, ihm aber nach einem abgebrochenen Annäherungsversuch mit Philippe de Villiers nach wie vor nahe steht - rief zu einem frühen Zeitpunkt zu einer Stimmabgabe gegen Ségolène Royal auf. Im Wortlauf rief er „meine Freunde“ dazu auf, „gemäb ihrer politischen Intuition zu stimmen, aber in jedem Falle niemals für die Marxistin Ségolène Royal.“ Dies lieb, nachdem die Wahl der rechtssozialdemokratischen Kandidatin ausgeschlossen worden war, noch das Ungültigstimmen – die abgegebenen ungültigen Stimmen werden in Frankreich in den Endergebnissen aufgelistet - oder die Wahl Nicolas Sarkozys offen.
Seinerseits hat der frühere Nationalrevolutionär und jetzige rechtsnationale Wirtschaftsliberale Jean-Gilles Malliarakis, der einstmals den Mouvement nationaliste-révolutionnaire bis zu dessen Spaltung im Jahr 1991 anführte und sich danach (per Umweg über den Front National) an den französischen Thatcheristen Alain Madelin annäherte, klar Nicolas Sarkozy unterstützt. Malliariakis, der eine Sendung auf Radio Courtoisie – einem Sender im 16. Pariser Arrondissement, wo diverse Strömungen der konservativen und der extremen Rechten zusammenwirken - leitet, begrübte „diese aubergewöhnliche, historische Mehrheit von 61 Prozent der Stimmen“, die er aus dem Zusammenzählen der Stimmen Jean-Marie Le Pens, Nicolas Sarkozys und des Christdemokraten François Bayrou im ersten Wahlgang erhielt. Diese breite rechte Mehrheit, so Malliarakis, müsse jetzt „erlauben, wahrhaftig und ungehindert schon ab Sommer (2007) die Reformen durchzuführen, die das Land benötigt.“ Er fügte hinzu: „Um den Willen des Volkes, Frankreich voranzubringen, zu bekräftigen, und um morgen die UMP dazu zu zwingen, ihren Versprechen einer Umwälzung treu zu bleiben, dürfen so wenig rechte Stimmen wie möglich und am besten keine rechte Stimme im zweiten Wahlgang fehlen.“
Im Gegensatz dazu betonte die „nationalrevolutionäre“ Strömung, die (in manchen Aspekten besonders stark dem historischen Faschismus nacheifernd) die soziale, ja „antikapitalistische“ Demagogie betont, ihren Willen zu einem Bruch mit der konservativen und wirtschaftsliberalen Rechten. Christian Bouchet, ein alter Aktivist dieser Strömung - der jedoch aufgrund seiner Persönlichkeit und seines Estorik-Hobbys unter seinen früheren Weggefährten eher isoliert ist – und Betreiber der Webpage „Vox NR“, verteidigt so einerseits die Präsenz von Dieudonné bei der extremen Rechten: „Was seinen Abstecher in der Salle Equinox betrifft: Er hatte dort nichts zu gewinnen, er war dort und hat sich damit eher als Ehrenmann erwiesen als viele Ex-Nationale, die auf ihre weibe Hautfarbe stolz sind, aber sich durch ihre politische Anpassung kompromittiert haben.“ Andererseits fügt er im Hinblick auf die Wahlabsichten hinzu: „...die Spieber der ‚nationalen Rechten’ reihen sich schon jetzt wie ein Mann hinter dem Zwerg aus Neuilly (Anm.: d.h. Nicolas Sarkozy) ein. (...) Gestern ‚Nationalisten für Le Pen’ und morgen ‚Nationalisten für Ségolène’, das hat sehr wohl eine Logik: Jene der Kennzeichung des Feindes. Und man kann hoffen, dass etwas Positives dabei herauskommt, nämlich die Neugründung eines Front National, der von seinen reaktionären, liberalen und rechtsgerichteten Elementen gesäubert ist, die sich im Augenblick durch ihre Wahlentscheidungen verraten.“
Einer ähnlichen Logik folgend, möchte auch der rassenbiologische Ideologe und Anführer des Zirkels Terre et peuple (Volk und Erde), dessen Kennzeichen das Edelweib ist, Pierre Vial lieber zur Wahl der „sozialistischen“ Kandidatin Ségolène Royal aufrufen. Dieser ehemalige FN- und spätere MNR-Kader hat die Partei Bruno Mégrets, den niedergehenden MNR (Mouvement national-républicain), schon Ende 2001 aufgrund dessen Tendenz zum aubenpolitischen Atlantizismus enttäuscht wieder verlassen. Nach dem 11. September hatte Mégret eine pro-US-amerikanische und auch pro-israelische Wende in seiner internationalen Orientierung markiert (seine Truppe führte bei einer Demonstration in Paris die Fahnen beider Nationen mit), um alle Kräfte auf die Propagierung der These vom „Hauptfeind Islam“ zu konzentrieren. Eine Ausrichtung, die nicht durch alle Kader seiner Partei geteilt wurde, und insbesondere bei Pierre Vial schon früh Brechreiz verursachte. Allerdings teilen Mégret und Vial nach wie vor eine grundlegende ideologische Gemeinsamkeit: die Interpretation aubenpolitischer Konstallationen nach „rassisch“-ethnischen Kriterien. Mégret vertrat im Herbst 2001 die Auffassung, die USA seien eine Nation (überwiegend) „europäischer Herkunft“, die im Krieg mit dem Islam, also mit barbarischen Dritte Welk-Völkern liege, und deshalb könne man getrost Partei ergreifen. Vial hingegen propagiert bzw. ‚prognostiziert’ den weltweiten „Rassenkrieg“, lehnt aber eine Unterstützung für die USA als „Melting Pot-Nation“ und Völkermischmasch sowie für Israel als jüdische Nation ab. Aus Vials Sicht sollte Europa die christlichen und jüdischen Bezüge aus seiner Geschichte überwinden und an seine „wahren zivilisationellen Wurzeln“ anknüpfen, also an die Kultur der keltischen und germanischen heidnischen „Waldvölker“ (die es ihm zufolge den „semitischen Wüstenvölkern“, Juden und Arabern, auf die letzlich die Ursprünge aller drei monotheistischen Religionen zurückzuführen seien, entgegen zu setzen gilt).
Am 11. März 2007 sab Pierre Vial in Lyon – in dessen Nachbarstadt Villeurbanne er noch immer (zur Zeit parteilos) im Kommunalparlament sitzt – bei der Grobveranstaltung Jean-Marie Le Pens mit auf der Tribüne. Ähnlich wie der ebenfalls eingeladene Bruno Mégret und andere Vertreter rechtsextremer Strömungen, die zum Teil oder (inzwischen) ganz auberhalb des FN stehen, durfte er mit seiner Anwesenheit glänzen, hatte jedoch kein Rederecht. Allein Jean-Marie Le Pen durfte sprechen. Neben Mégret und Vial waren auch der rechtsnationale Thatcherist Claude Reichmann von der nationalliberalen Gruppierung ‚La Révolution bleue’ sowie der katholische Fundamentalist Bernard Antony dorthin eingeladen worden. Letztgenannter hatte aber die Anreise aus der Nähe von Toulouse, wo er residiert, bis nach Lyon verweigert, falls er dort kein Rederecht eingeräumt bekomme. Die Ansammlung rechtsextremer Kader auf der Bühne sollte die Wiederannäherung zwischen den unterschiedlichen Strömungen der (ideologisch heterogenen) extremen Rechten symbolisieren. Dereinst, vor der Spaltung der Partei zum Jahreswechsel 1998/99, waren alle diese Strömungen innerhalb des FN versammelt gewesen. Dieses Jahr kam es zwar zu einer neuen Annäherung zwischen ihnen, aber keinesfalls zu einer organisatorischen „Wiedervereinigung“. Und sogar die blobe Annäherung an die Mégret-Strömung wurde durch den Club der innerparteilichen „Modernisierer“ um Marine Le Pen blockiert, da sie eine Stärkung der Altkader-Fraktion innerhalb ihrer Partei fürchten; Minute beklagt es in ihrer Auswertung der Wahl ausdrücklich und in relativ scharfen Worte, da dadurch wichtige Kräfte ungenutzt geblieben seien.
Zurück zur Frage der Positionierung vor dem zweiten Wahlgang. Pierre Vial, der also nun hinreichend vorgestellt sein dürfte, argumentierte dabei in ähnlicher Richtung wie der ‚Nationalrevolutionär’ Christian Bouchet. Originalton Vial: „Ich werde nicht so naiv sein zu vergesen, dass in der Umgebung Ségolène Royals Leute sitzen, die unsere Feinde sind wie Julien Dray (Anm.: sozialdemokratischer Funktionär, 1985 Mitgründer von SOS Racisme). Aber bei Sarkozy ist es noch schlimmer, auch Simone Veil ist eine Symbolfigur. (Anm.: Liberale Politikerin und jüdische Auschwitz-Überlebende, 1974 als Ministerin für die Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs in den ersten 10 Wochen verantwortlich und häufiges Ziel antisemitisch motivierter Attacken durch die extreme Rechte, die sie oftmals eines „vorsätzlichen Genozids am französischen Volk mittels Abtreibung“ zieh; 2007 unterstützte Veil die Kandidatur Nicolas Sarkozys.) Zweifellos werden Wähler Jean-Marie Le Pens im zweiten Wahlgang in die Falle gehen - einige sind schon im ersten Wahlgang hineingeflogen -, weil Sarkozy von der nationalen Identität spricht und eine Regierung mit harter Hand verspricht. Im Gegensatz zu den Hanswürsten d er (bürgerlichen) Rechten wissen wir, die wir ein politisches Bewusstsein besitzen, dass Sarkozy der Mann der Anpassung Frankreichs an die Achse Washington-Tel Aviv ist. Wir wissen auch, und vor allem, dass er die ‚positive Diskriminierung’ für Minderheiten einführen will, das bedeutet - man muss stets daran erinnern -, dass er auf allen Gebieten Leuten den Vorzug einräumen will, die, egal was in ihren Ausweispapieren steht, Eindringlinge sind und bleiben und auf gar keinen Fall zu unserem Volk gehören können. Deshalb werde ich, ohne Zögern und Bedauern, für Ségolène Royal stimmen.“
Dies ist selbstverständlich nicht der Ausdruck irgendeiner Form von politischer Zuneigung für die sozialdemokratische Kandidatin. Sondern hinter diesen Worten steht der pure Wunsch, den Graben zwischen der rechtsextremen „Bewegung“ und der konservativen Rechten so tief wie möglich auszuheben. Tiefer jedenfalls, als Jean-Marie Le Pen dies offenkundig wünscht. Denn der Chef des FN hatte nicht nur die von dieser Seite gewünschte provokatorische Wahlempfehlung für Royal abgelehnt, sondern auch in einem Interview mit der Gratistageszeitung 20 minutes vom 13. April 2007 erklärt: „Im Falle einer schweren nationalen Krise könnte der FN an einer Regierung der nationalen Einheit teilnehmen.“ Präziser wurde er in jenen Worten, die am selben Tag durch die Pariser Abendzeitung Le Monde zitiert werden: „Er (Le Pen) öffnet nichtsdestotrotz Türen, indem er erklärt, dass ‚bei Themen wie der Schulpolitik, der Steuersenkung, oder der Rentenreform mögliche Gemeinsamkeiten und Übereinstimmungen’ zwischen UMP und FN bestünden. Obwohl er kurz zuvor gegen die ‚europa- und zuwanderungsfanatischen Kandidaten’ gewettert hatte.
Was die angesprochenen Punkte betrifft, so lieben sich bei einzelnen der angeschnittenen Themen im Wahlkampf tatsächlich Überscheidungen bis in die Wortwahl hinein feststellen. Beispielsweise die Bildungspolitik betreffend: Infolge des 1968er Kulturbruchs, tönte Nicolas Sarkozy am 29. April 2007 im Pariser Bercy-Palast, habe man überall „den Eindruck erweckt, dass der Schüler dem Lehrer ebenbürtig ist“, man stelle keine Anforderungen mehr, Zensuren und Leistung seien entwertet. Diese Passage dürfte Jean-Marie Le Pen, dessen Schulkritik in eine ähnliche Richtung läuft, gefallen haben. Die Formulierung vom Schüler, den man auf dieselbe Stufe wie den Lehrer habe heben wollen – Sarkozy benutzte sie bereits zuvor während der Wahlkampagne -, taucht bei Le Pen fast wortgleich in seiner Wahlkampfrede in Paris vom 15. April 2007 auf.
Auch in ihrem Verhältnis zu Arbeit und Leistung nähern sich die Vorstellungen des UMP- und des FN-Kandidaten einander teilweise an. Beide treten für eine Verlängerung der Wochen- und der Lebensarbeitszeit, im Namen der „Selbstbestimmung der Arbeitenden“ – die dadurch mehr Geld verdienen könnten -, und eine Aufhebung der gesetzlichen Obergrenze für die durchschnittliche jährliche Arbeitszeit ein. Arbeitsethos und Leistungsträgertum erscheinen bei beiden als positiv gesetzter Selbstzweck.
„Alles auber Sarkozy“
Jean-Marie Le Pen steht nicht so weit entfernt vom national-konservativen Flügel der bürgerlichen Rechten, wie dies insbesondere für die „Nationalrevolutionäre“ (französisch nationalistes-révolutionnaires) gilt. Dennoch tritt auch er aktuell gegen jegliche politische Unterstützung aus seinem Lager, erst für den konservativen Kandidaten, und jetzt für den frisch gewählten Präsidenten Nicolas Sarkozy ein. Sei es aufgrund der Verweigerung eines Bündnisses mit ihm seitens der konservativen Rechten, die ihn derzeit überhaupt nicht benötigt (und im Moment gar keinen Mehrheitsbeschaffer braucht), sei es auf tieferen Gründen.
Der Chef des FN ging dabei aber auch nicht gar so weit, wie manche Vertreter des ‚nationalrevolutionären’ Flügels von ihm gewünscht hätten bzw. gefordert haben. Beispielsweise der alte NR-Aktivist Michel Schneider, der in den 1980er Jahren zunächst dem FN angehörte und dort dem (selbst halb aus der nationalrevolutionären Ecke stammenden) Generalsekretär Jean-Pierre Stirbois nahe stand. Stirbois ist im November 1988 tödlich verunglückt. Nach einem Zwischenspiel als „Militärexperte“, das einige undurchsichtige Kontakte in nachrichtendienstlichen Kreisen beinhaltete, tauchte Schneider zu Anfang der 1990er Jahre wieder auf und animierte eine Zeitschrift unter dem Titel Nationalisme et République. Im vorigen Jahr nun machte der langjährige Aktivist, der sein Verhältnis zum Front National als eine Art ‚kritische Solidarität’ definierte, erneut von sich reden. Ab Herbst 2006 zog die von ihm begründete und unterhaltene Homepage < toutsaufsarkozy.com > (Alles auber Sarkozy.com) die Aufmerksamkeit einiger aufmerksamer Nutzer des Internet und Kenner der extremen Rechten auf sich. (Vgl. zum Hintergrund dieser Webpage auch den fundierten Artikel von Jean-Yves Camus, der als Gastbeitrag in Libération vom 21. 05. 2007 publiziert wurde.) Dort wiederholte er fortlaufend, dass Nicolas Sarkozy „die Unterwerfung Frankreichs unter das israelisch-amerikanische Imperium“ und unter „die Achse des Hasses“ repräsentiere.
Rund 48 Stunden vor der zweiten Runde der französischen Präsidentschaftswahl, am Freitag Nachmittag vor dem entscheidenden Wahlsonntag, kündigte die oben zitierte Homepage die Veröffentlichung eines Interviews mit Jean-Marie Le Pen für „diesen Freitag Abend“ an. Darin, so benachrichtigte Michel Schneider seine (potenziellen) Leser/innen, informiere der Chef des Front National darüber, dass er „persönlich“ zur Wahl Ségolène Royals gegen den konservativen Kandidaten schreiten werde. Doch das in Aussicht gestellte Interview erschien nie. Am Montag danach las man auf der Homepage an der fraglichen Stelle, es habe „aus diversen Gründen, und insbesondere, weil es nicht gegengelesen“ (also nicht autorisiert) worden sei, nicht publiziert werden können. Das war eine faustdicke Lüge, und die ganze Sache war von Anfang an ein Fake gewesen: Das behauptete Interview hatte es nämlich in Wirklichkeit nie gegeben. Michel Schneider hielt sich übrigens am selben Ort auch nicht mit (nunmehr explizit vorgetragener) Kritik an Jean-Marie Le Pen zurück, und schrieb, der Chef des FN „hätte nicht nur für Ségolène Royal stimmen, sondern es seinen Wählern ankündigen“ sollen. Dass er es nicht getan habe, sei ein „grober Verrat“. Der Hintermann der Webpage hatte also, kurz vor der Wahl, lediglich die „moralische Autorität“ Le Pens (aus der Sicht von Anhängern der extremen Rechten) nutzen wollen, um seine eigene Position zu propagieren.
Die Wochenzeitung ‚Minute’, die beharrlich an ihrer Scharnierrolle zwischen dem FN und dem rechten Flügel von Sarkozys Regierungspartei UMP festhält, griff deshalb in ihrer Ausgabe vom 09. Mai die Webpage an. Unter der Überschrift „Das falsche Interview von Le Pen“ kommentierte sie kurz und bündig, es gehöre „zu jenen Tiefschlägen, die die französischen Wahlkämpfe würzen, und an denen der jetzige übrigens eher arm war“.
Vor den Parlamentswahlen: “Retraditionalisierung” des politischen Profils des FN
In die Parlamentswahlen vom 10. und 17. Juni möchte der FN nun mit einem „traditionelleren“ Profil ziehen. Die Wahlkampfführung übernahm der FN-Generaldelegierte Bruno Gollnisch, der innerparteilich gegen die „Modernisierer“ um die Cheftochter Marine Le Pen opponiert – nachdem Letztere mit der „strategischen Leitung“ des Präsidentschaftswahlkampfs betraut worden war. Ersten Angaben zufolge möchte der FN dieses Mal vor allem „klassische“ Themen bedienen und Wahlkampf für die „Inländerbevorzugung“ (Préférence nationale) bei Arbeitsplätzen und Sozialleistungen, für eine erschwerte Einbürgerung von in Frankreich geborenen Zuwandererkindern, für die „Abschiebung straffälliger Einwanderer“ und gegen einen türkischen EU-Beitritt machen. Marine Le Pen wird wie 2002 im früheren Bergbaurevier Pas-de-Calais antreten, in Lens, wo der FN die sozialen Unterklassen zu agitieren versucht.
Die Kehrseite der Medaille: Wenn die rechtsextreme Partei, wie vorauszusehen ist, bei den Parlamentswahlen erneut gebeutelt wird und - weil ihre Stammwähler in diesem Jahr „nützlich wählen“ – Stimmen an die regirenden Konservativen verliert, dann werden beide innerparteilichen Lager gleichermaen für die Niederlagen verantwortlich sein. Im Moment steht der Block der „Modernisierer“ unter Marine Le Pen im Kreuzfeuer innerparteilicher Anklagen. Aber da der „traditionelle“ Flügel um Gollnisch nun für die kommenden Wahlen im Juni das Ruder übernimmt, wird wieder Gleichstand hergestellt werden, und die Kritiken werden auf beide Strömungen verteilt sein.
Das verspricht spannende Aussichten für den nächsten Parteikongress, der auf den 17/18. November 2007 in Bordeaux angesetzt worden ist. Dort sollte ursprünglich die Nachfolgefrage geregelt werden – falls Jean-Marie Le Pen nicht nochmals für seine eigene Nachfolge antritt. Dies hat er am vorigen Donnerstag (24. Mai) explizit angekündigt. Und sogar eine Präsidentschaftskandidatur für 2012 nicht ausgeschlossen: In jenem Jahr sei immerhin der 600. Geburtstag der Nationalheiligen Jeanne d’Arc... Aber aufgeschobene Fragen sind dadurch nicht gelöst.
Anmerkungen
[1] Aufgrund seines ungarischen Vaters sowie seiner griechisch-jüdischen Grobeltern mütterlicherseits hatte Jean-Marie Le Pen in der Schlussphase des Wahlkampfs Nicolas Sarkozy als „Kandidaten aus der Zuwanderung“ bezeichnet, obwohl er im Pariser Nobelvorort Neuilly-sur-Seine geboren, aufgewachsen und am Wahltag noch immer wohnhaft ist.
[2] Angaben nach der französischen Wirtschaftstageszeitung La Tribune, Ausgabe vom 23. April 2007.
[3] Die näheren Zahlenangaben variieren. Der Fernsehsender TF1 beziffert am Wahlabend die Anzahl der Le Pen-Wähler aus dem ersten Wahlgang, die in der Stichwahl für Sarkozy votiert hatten, auf der Grundlage von Befragungen durch Meinungsforschungsinstitute am Ausgang der Wahlergebnisse (die normalerweise relativ genaue Ergebnisse liefern) auf 66 Prozent. Die Tageszeitung L’Humanité gibt ihren Anteil in ihrer Ausgabe vom 09. Mai 2007mit „63 bis 66 Prozent“ an, hingegen Libération vom 08. Mai mit „nur“ 55 Prozent.
Die Anzahl der Le Pen-Wähler vom 22. April, die sich zwei Sonntage später der Stimme enthielten, beziffert TF1 auf 19 Prozent, L’Humanité auf „19 bis 25 Prozent“, hingegen Libération auf 36 Prozent. Es bleiben, je nach vorausgehender Rechnung, zwischen 09 und 15 Prozent, die für Ségolène Royal votierten.
[4] Zitiert nach Le Monde vom 04. Mai 2007.
[5] Vgl. Libération vom 30. April 2007.
[6] Denkbar insofern, als Jean-Marie Le Pen tatsächlich in den 1990er Jahren wiederholt zur Wahl sozialistischer oder anderer linker Parlamentskandidaten aufrief, um die bündnisunwillige bürgerliche Rechte abzustrafen. Dies war etwa im Frühjahr 1996 bei „Nachwahlen“ für einzelne freigewordene Parlamentssitze der Fall, zugunsten einer sozialdemokratischen Kandidatur im Bezirk Orne (Normandie), aber aber auch zugunsten des KP-Bürgermeisters im südfranzösischen Sète, François Liberti. Eine Besonderheit liegt im letzteren Falle freilich darin, dass Liberti nicht nur Parteikommunist ist, sondern auch ein ehemaliger Algerienfranzose, dessen Sichtweise auf die französische Kolonialvergangenheit in Nordafrika sich durchaus von jener seiner Parteifreunde unterscheidet. Insofern mag neben der kalkulierten „Provokation“, die im Aufruf Jean-Marie Le Pens zur Stimmabgabe „für einen Kommunisten“ und gegen die konservativliberale Rechte (um letztere zu strafen) lag, auch eine gewisse Solidarität unter „algerienfranzösischen“ Wählern eine Rolle gespielt haben. Allerdings ergaben zum damaligen Zeitpunkt Umfragen, dass frankreichweit nur 14 Prozent der Wählerinnen und Wähler des Front National diese besondere Wahltaktik Le Pens billigten.
[7] Beilage zum Ausgang des zweiten Wahlgangs, Le Monde vom 08. Mai 2007.
[8] Freilich antwortete Jean-Marie Le Pen am 19. Dezember 2006 im Fernsehsender BFM rundheraus auf die Frage, was er an Dieudonné lustig finde, ob es dessen Antisemitismus sei: „Ja. Man muss über alles lachen dürfen. Die besten Judenwitze machen schlieblich oft Juden selbst.“
[9] Bei Royals Grobveranstaltung am Abend des 1. Mai 2007 im Pariser Charléty-Stadion wurde er durch die Ordner hinausgeworfen.
Editorische Anmerkungen
Den Artikel erhielten wir von Autor am 1.6.07 zur Veröffentlichung.
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