Peter Trotzig Kommentare zum Zeitgeschehen

Über die Schaffung und den Erhalt von Lohnarbeitsplätzen
06/07

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Über Das gleiche Interesse zwischen Lohnarbeit und Kapital schwindet auch da, wo es sich angeblich am deutlichsten äußert

Neulich sah ich die SWR-Sendung „Lohnsklaven – Was ist die Arbeit heute noch wert.“ Richtig hätte die Frage lauten müssen „Was ist die Ware Arbeitskraft heute noch Wert.“ Doch zunächst einmal egal. Die Redakteure der Sendung zeigten nicht nur deutlich, dass heute der Preis für die Ware Arbeitskraft unter ihren Wert gedrückt wird, sondern auch wie das passiert ... durch die viel gelobte Freiheit der Unternehmertätigkeit und die daraus entspringende Konkurrenz.

Man schätzt, dass heute bereits zwischen 1 und 2 Mill. „Erwerbstätige“ sich mit Löhnen begnügen müssen, die unterhalb der Reproduktionskosten für die Ware Arbeitskraft liegen. Tendenz steigend. Es sind Armutslöhne von 3, 4 oder 5 Euro die Stunde, von denen man unter aktuellen gesellschaftlichen Bedingungen nicht oder kaum leben kann. Teilweise werden diese Löhne sogar in Tariflöhnen von den Gewerkschaften abgesegnet. Es soll mittlerweile ca. 200 solcher Tarifvereinbarungen geben.

Wenn Gewerkschaften so etwas mitmachen, dann zeigt das, dass sie nicht die viel beschworene „soziale Gegenmacht“ sind, sondern ganz dreist dem Kapital dabei behilflich werden, extreme Ausbeutungsverhältnisse durchzusetzen. Der entschuldigende Hinweis, man sei halt zu schwach, um das zu verhindern (niedriger Organisationsgrad) macht die Sache nicht besser, steht aber in der Tradition sozialdemokratischen Selbstverständnisses. Würden die bestimmenden Organe der Gewerkschaften es ernst meinen mit der „sozialen Gegenmacht“, dann würden sie solchen Tariflöhnen, einem solchen elenden „Klassenkompromiss“, niemals ihre Zustimmung geben. „Nicht mit unseren Unterschriften! Nicht in unserem Namen!“ würde es dann heißen und zu breitem Widerstand aufgerufen. Es geht ihnen aber mehr um die Bewahrung ihres Einflusses, als um die „soziale Gegenmacht“. Um auch weiterhin als „Sozialpartner“ der Unternehmerverbände akzeptiert zu werden, den unvermeidlichen Kampf zwischen Lohnarbeit und Kapital zu vermeiden, wird nahezu jede Schweinerei mit gemacht.

Die Gewerkschaften fordern einen gesetzlichen Mindestlohn von 7,50 Euro die Stunde. Wenn man sich schon zu schwach fühlt, Tariflöhne gegen Branchenkapitalisten durchzusetzen, von denen mensch leben kann, wie kann man sich dann stark genug fühlen, eine gesetzliche Regelung gegen die ganze Kapitalistenklasse durchzusetzen? Oder geht es vielleicht doch nur darum, sich nicht für zuständig zu erklären und die Massage rüber zu bringen: „Da kann man halt nichts machen!“

Abgesehen davon, dass dieser Lohn zu gering ist, handelt es sich dabei um eine politische Forderung, die unter den aktuellen politischen Voraussetzungen nur von der Klasse der Lohnabhängigen durchgesetzt werden könnte. Dazu wäre eine entsprechende politische Mobilisierung durch die Organisationen des DGB bis hin zu politischen Streiks nötig. Nichts in dieser Richtung passiert, weil die Gewerkschaften jeden politischen Kampf ablehnen. Auch das gute alte Tradition der deutschen Sozialdemokratie! Sie beugen sich jeder Entscheidung des Parlamentes und der Regierung. Das letzte politische Wort soll immer die Stimmabgabe alle 4 Jahre bleiben, damit politisch ja nichts anbrennen kann in dieser feinen bürgerlichen Demokratie. Aus diesem Grunde wird es nicht einmal einen gesetzlichen Mindestlohn von 7,50 Euro die Stunde geben, geschweige denn einen von 10 Euro, wie er von Linken gefordert wird.

Die Hartzgesetze, von Sozialdemokraten geplant und durchgesetzt, sind ein entscheidendes Instrument, um Hungerlöhne durchzusetzen. Wer dagegen Entscheidendes nichts tun will, wird auch keinen gesetzlichen Mindestlohn durchsetzen. Die Gewerkschaften als Organisation waren in der Bewegung gegen Hartz IV eine Marginalie, sie sind es auch im Kampf um einen gesetzlichen Mindestlohn. 

Der gesetzliche Mindestlohn, so tönt es von Funktionären der Arbeitgeberverbände, von CDU und FDP im Chor, bedrohe und vernichte Arbeitsplätze. Da haben sie zweifellos Recht! Ja, manche Klitsche und manches „gesunde“ Unternehmen würde in Folge des allgemeinen, durch das Kapital selbst erzeugten Drucks auf die Profirate wohl dicht machen, wenn sie keine menschliche Arbeitskraft zu Hungerlöhnen ausbeuten könnten. Also fielen auch die durch dieses Kapital „betriebenen“ Lohnarbeitsplätze weg. Eine Katastrophe für die Geldanlage in den erwähnten Betrieben wäre das zweifellos. Der gesetzliche Mindestlohn bedroht die Renditen von Geldanlagen, die nur dann hoch genug sind, wenn das Geld Arbeitskräfte zu Hungerlöhnen „beschäftigt“.

Das Kapital vernichtet aber Lohnarbeitsplätze auch ganz ohne gesetzlichen Mindestlohn. Es vernichtet diese Lohnarbeitsplätze mit jeder ausgedehnten Neuanlage von Kapital, die menschliche Arbeitskraft durch angewandte Technologie überflüssig macht. Es vernichtet sie mit jedem erneuten Versuch, die Kosten weiter zu senken und dem durch Rationalisierungsinvestitionen erzeugten Fall der Profitrate entgegen zu wirken. Alles jubelt über niedrige, „konsumentenfreundliche“ Preise und niemanden interessiert es, welchen sozialen Preis, die unmittelbaren ProduzentInnen dafür zu zahlen haben. Den „konsumentenfreundlichen Preisen“ entsprechen „produzentenfeindliche Preise“. Beides resultiert aus dem Fortschritt menschlicher Arbeitsproduktivität in seiner kapitalistischen Form (Erhöhung der organischen Zusammensetzung des Kapitals, progressive Produktion von Arbeitslosigkeit und letztlich Hungerlöhne). Der ökonomische Zusammenhang zwischen allgemein niedrigen Preisen und niedrigen Preisen für die Ware Arbeitskraft wird verdunkelt. (Kapital verlangt seine „Schnäppchen“ auch auf dem „Arbeitsmarkt“!) Die Spur der sozialen Verwüstung, die das Kapital erzeugt, verweist auf sein eigenes „Schuhwerk“. Die Spur soll verwischt werden, und derjenige der sie erzeugt hat, unsichtbar bleiben.

Die Apostel der Kapitalverwertung wenden sich gegen einen gesetzlichen Mindestlohn, von dem Mensch leben kann und propagieren gleichzeitig den Kombilohn, damit unter veränderten Bedingungen beides möglich bleibt: die profitable Verwertung von Kapital und Geldeinkommen auf Seiten der Lohnabhängigen, von denen sie leben und damit auch (lohn)arbeiten können. Der Staat soll aus Steuereinnahmen, die mehr und mehr nur von Lohneinkommen bezogen werden, die Subventionierung des unter schwacher Profitrate leidenden Kapitals betreiben. So wird der nicht selten in Betrieben ausgesprochene Satz wahr, wonach die Lohnabhängigen ihre Geld gleich selbst mitbringen sollen, damit sie arbeiten dürfen. Kombilohn, egal in welcher Form, bedeutet, dass der Verteilungskampf zwischen Lohnarbeit und Kapital ersetzt werden soll durch den Kampf der Lohnabhängigen unter einander. Der Kampf soll entbrennen zwischen jenen, die Lohnarbeitsplätze zu einem Reproduktionslohn „bestizen“ und jenen, die solche Lohnarbeitsplätze nicht haben. Eine saubere Strategie von teile und herrsche! 

Die erfolgreiche Sozialpartnerschaft zwischen Lohnarbeit und Kapital funktionierte in der Rekonstruktionsphase des Kapitals nach dem 2. Weltkrieg bis zur Weltwirtschaftskrise 1974/75. Seit dieser Zeit wird sie Stück für Stück demontiert, nicht durch die aufbegehrenden Lohnabhängigen, sondern durch die Sachwalter des Kapitals. Nicht nur der Bedeutungsgehalt des Wortes „Reform“ hat sich seit dieser Zeit geändert und ist zu einer Drohung geworden. Auch die sonstigen ebenso ökonomisch-frommen wie sozialen Phrasen werden mit neuen Inhalten „angereichert“.

Das gemeinsame Interesse von Lohnarbeit und Kapital an der Schaffung und Erhaltung von Arbeitsplätzen erweist sich allmählich als grundlegendes „Missverständnis“ zwischen den beiden Kontrahenten. Formulieren Lohnabhängige ihr Interesse an Lohnarbeitsplätzen, dann verbinden sie damit Löhne, von denen mensch leben kann. Formulieren die Sachwalter das Kapitals ihr Interesse an Lohnarbeitsplätzen, dann meinten sie schon immer Lohnarbeitsplätze, die ihnen Profit produzieren. Solange ihnen auch Lohnarbeitsplätze ausreichend Profit produzierten, deren Löhne zugleich den Lohnabhängigen ihre Reproduktion ermöglichte, konnte die Sozialpartnerschaft funktionieren. Jetzt aber verlangen „ökonomisches Wachstum“, Wachstum des Profits, immer stärker Löhne, die unter dem Wert der Ware Arbeitskraft, spricht unter ihren Reproduktionskosten, liegen.

Massenarbeitslosigkeit und Hungerlöhne sind jene beiden Elemente gesellschaftlicher Erfahrung, die den Glauben an Existenzsicherung durch Lohnarbeit untergraben werden. Sie sind zugleich ein Erfahrungshintergrund, der der radikalen Kritik am System der Lohnarbeit empirische Plausibilität verleiht und damit die Suche nach Möglichkeiten einer Überwindung des Kapitalverhältnisses befördert. 

Für einen gesetzlichen Mindestlohn von 10 Euro die Stunde!

Editorische Anmerkungen

Peter Trotzig schreibt ab der Nr. 1-05 in unregelmäßigen Abständen seine Kommentare zum Zeitgeschehen.