Proletarität aufheben.
Zur situationistischen Kritik und linken Verblendung

von Biene Baumeister, Zwi Negator
06/06

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»Wir erleben in unserer Epoche mit, wie die Karten im Klassenkampf neu ausgegeben werden – was sicherlich weder dessen Abschaffung noch dessen genaue Fortsetzung nach dem alten Schema bedeutet. Gleichfalls erleben wir statt der Abschaffung der Nationen einen ›new deal‹ des Nationalismus im Rahmen einer über die Nationen hinausgreifenden Gliederung«. (SI, 1958)

Um die situationistische Klassentheorie zu skizzieren, konzentrieren wir uns hier auf ihren Proletariatsbegriff. »Die kritische Theorie« der SI vergleichen wir dabei nur implizit mit der Frankfurter, die wir aus Raumgründen hier nicht kontrastiv charakterisieren können. (Siehe dazu ausführlicher explizit die beiden Aufsätze »Situationistische Revolutionstheorie« – Communistische Aktualität und linke Verblendung sowie Proletarität – Kunst – Sprache. Situationistische Rekonstruktion und Aufhebung in dem Band: Stephan Grigat u. a. (Hg.): Spektakel - Kunst - Gesellschaft. Guy Debord und die Situationistische Internationale, der im Herbst 2005 im Verbrecher Verlag erscheint.) 

Was war die Situationistische Internationale?

Was Ende der 1940er und 1950er Jahre von Paris, Brüssel, Amsterdam und Skandinavien ausgehend zunächst in der Lettristischen, später in der Situationistischen Internationalen (1957-1972) Gestalt annahm, ist hervorgegangen aus den Immigrations-»Kreuzungen« in Paris (1933: Emigration von Walter Benjamin nach Paris), den Erfahrungen der französischen Résistance und aus der Lettristischen Bewegung, einer anti-künstlerischen, rebellischen Initiative (Zeitschrift: Potlatch 1952-1957) von jungen urbanen »Déraciné_es« (Entwurzelten), sowie seitens erfahrener europäischer Avantgardekünstler_innen der Linken. Bis zu ihrer Selbstzerschlagung 1972 bestand die SI aus nicht mehr als 70 Genoss_innen, davon gerade mal 7 Frauen.

Angetreten war die SI zunächst, die getrennten Sphären von Kunst und Politik zu überwinden und die Totalität des entfremdenden kapitalistischen Alltagslebens zu bekämpfen, unter anderem vermittelsverschiedenster Formen von Schrift bis Comics. Ihre experimentellen und spielerischen Techniken bestanden speziell in der Entwendung, Zweckentfremdung und Plagiierung vorgefundener Formen von Kultur, vor allem der Werbung. Die SI versuchte v.a. durch Wort und Geste zur Zerstörung des stumpfsinnigen Warenalltags beizutragen, insbesondere gegen die herrschende Architektur des kapitalistischen Urbanismus anzutreten. Dazu entwickelte sie ein experimentelles Stützpunkteprogramm, zu dessen Erschließung die sogenannten »Dérives«, das heißt ein Umherschweifen in großen Städten, und das Konzept der »Psychogeographie« die Schlüsselrolle spielten, da sie eine allen zugängliche »Konstruktion von Situationen« ermöglichen sollten. Was Marx einmal als »die Situation, die jede Umkehr unmöglich macht«, bezeichnet hat, nämlich die communistisch-proletarische Revolution, inspirierte nicht nur die Namensgebung der SI, sondern stellte den strategischen Bezugspunkt für die gesamte Theorie und Praxis dieser »Experimentatoren- und Theoretikergruppe« – wie sie sich selbst bezeichnete – dar. Im Laufe ihrer Entwicklung ging es ihr mehr und mehr um eine neue Form der revolutionären Theoriebildung, eine Kritik der modernsten Proletarität (nicht ohne sich allerdings ihrer vorherigen kunstavantgardistischen Ansatzpunkte und Techniken zu bedienen).

In den westlichen Gesellschaften schien schon damals Revolution unvorstellbar, war diese doch in mehr oder weniger abstoßenden »rohen« Formen vermeintlich in den »Ostblock« und in die anti- und postkolonialen Nationalstaatsrevolutionen der – damals so genannten – »unterentwickelten Länder« ausgewandert.

Insgesamt waren die Lettrist_innen und später die Situationst_innen in ihrer »Praxis der Theorie« auf der Suche nach den Möglichkeitsbedingungen der Revolution. Sie waren dabei natürlich nicht die einzigen. Doch ihre Originalität bestand darin, alle bisherigen Versuche und deren Mittel und Organisationsformen radikal in Frage zu stellen. Sie bezeichneten sich selbst weniger als »Avantgarde« denn als »enfants perdus«, das heißt als »verlorener Haufen« im militärischen Sinne aber auch darüber hinaus, weil nach den Niederlagen der klassischen Arbeiterbewegung und ihrer Organisationsformen kein »Hauptheer« mehr auszumachen war. Deshalb versuchte die SI gezielt die Organisationsfrage aus den Verknöcherungen fremdbestimmter »Repräsentation« und der Trennung von Theorie und Praxis freizusprengen. Angewidert war sie einerseits vom theoriefeindlichen voluntaristischen Spontaneismus und andererseits von der attentistischen und rein kontemplativ oder instrumentell-pragmatisch betriebenen Kritik der verschiedenen linken Parteien und Sekten.

Das Ensemble von Konzepten zur »Konstruktion von Situationen« kulminierte in ihrem Leitspruch: »Die Revolution ist aufs neue zu erfinden – das ist alles!« Nach jahrelangem, relativ isoliertem aber zugleich zunehmend publizitätswirksamen Experimentieren und Intervenieren wurde die SI schließlich zur Impulsgeberin des Mai 1968, der in Frankreich im Kern eine Bewegung von Besetzungen war, die sich zunächst auf Universitäten, dann auf die wichtigsten Produktionsanlagen, Büros sowie andere Institutionen und schliesslich die Schlüsselzonen der französischen Wirtschaft erstreckte. In dieser eskalierenden Situation wurde auch offiziell die Rolle der handvoll SI-Aktivist_innen, die sich mit anderen aktiven Revolutionär_innen im »Komitee zur Aufrechterhaltung der Besetzungen« zusammengeschlossen hatten, beim Weitertreiben dieser proletarischen Bewegung hin auf eine direkte Bemächtigung der ganzen Gesellschaft durch eine »generalisierte Selbstverwaltung« der Arbeiter_innenbevölkerung als bemerkenswert empfunden.

Nach dem Rollback dieser Bewegung durch Staatsgewalt, Gewerkschafts- und auch linke Parteiapparate ging die Geschichte der SI in ihre letzte Phase über. Einerseits griff die diffuse neue revolutionäre Stimmung in Europa vor allem auf Italien über (Besetzungsstreiks, Jugendbewegungen usw.), so dass die SI sich auf ihrer Konferenz in Venedig 1969 konzentriert auf eine revolutionäre Situation in Italien einstellte. Andererseits erfolgte eine innere Lähmung und daraufhin 1972 die Selbstauflösung der SI, die etwa so begründet wurde: Erstens sollte der passiven Anschauung der SI als einer inzwischen zur »Legende« gewordenen Chimäre der organisatorische Boden unter den Füßen weggezogen werden. Zweitens schätzte die SI ohnehin inzwischen die weltweit um sich greifende »proletarische Subversion« optimistisch ein: »Künftig sind die Situationisten überall, und ihre Aufgabe ist überall.«

Der aus den versteinerten Verhältnissen nach dem 2. Weltkrieg, aus ihrer Latenz hervorbrechende manifest proletarische Charakter der Bewegung zwischen ca. 1968 und spätestens 1977 in Europa ist heute fast vollständig entrückt und verdunkelt. Das Proletariat scheint heute nicht viel mehr als ein Gespenst zu sein, und selbst die Rede vom »revolutionären Proletariat« scheint nicht mehr als ein Spektakel, so wie Jacques Derrida das Wort »Gespenst« (franz. spectre) in der Bedeutung von auflösender Spektralität erklärt: als ein aus-den-Fugen-Geratensein von etwas, das lange Zeit eine Welt und eine Ordnung verkörperte.

Längst gilt: die spektakuläre Warengesellschaft hat gründlich gelernt, auf die proletarische Kritik in den 1960er und 70er Jahren zu reagieren, indem sie, etwa mittels spezialisierter Führungskräfte und Trendscouts, in zerstückelter Form Momente der proletarischen Subversion im Allgemeinen und der situationistischen Kritik im Besonderen in sich aufnahm. Die kapitalistische Kulturindustrie und sogar neue kapitalistische Selbstausbeutungsformen (»autogestion« und »teamwork«) haben haben sich darüber modernisiert, und die situationistische Kritik wurde rekuperiert, wie die SI einen derartigen Integrationsprozess zu nennen pflegte. Seit dem Scheitern ihres ersten Ansturms im westlichen hochentwickelten consumer capitalism nach dem Mai 1968 wäre die proletarische Kritik und Selbstkritik nunmehr gezwungen, sich neu zu formieren.

Die »situationistische Revolutionstheorie« kann somit als ein historisches Beispiel für die Tragödie der bisherigen geschichtlich halbwegs bewussten proletarischen Kämpfe gelten, eine Tragödie, die im widersprüchlichen Entstehen und anschließenden Scheitern, vor allem im Verdrängen bzw. Deformieren der Rudimente proletarischer Subversion und in der Enteignung von Geschichtsbewusstsein besteht. Dies zu konstatieren kann aber für das Projekt einer kollektiven Kritik nur Grund sein, sich nicht der allseitigen Amnesie hinzugeben, sie vielmehr aufzukündigen und jetzt erst recht den Begriff Proletariat und »Klasse selber so nah zu betrachten, daß er festgehalten wird und verändert zugleich« (Adorno).

Kritik der »Proletarisierung der Welt«

Was kann Proletarisierungskritik heißen, wenn sie nicht ein regressiver romantischer Antikapitalismus sein soll? Die SI hat wie Wenige ihrer Zeit versucht, die Marxsche Analyse der modernen Proletarität zu aktualisieren..Damals wie heute gilt die Kategorie »Proletariat« offiziell als obsolet. So hielt Adorno schon der akademischen Zunft listig entgegen: »Soziologen aber sehen der grimmigen Scherzfrage sich gegenüber: Wo ist das Proletariat?« Zeitgleich zu jenem »Soziologenstreit« in der BRD verwies die SI »das soziologisch-journalistische Dogma vom Verschwinden des Proletariats« lapidar mit der Frage: »Wir sind alle proletarisiert oder haben gute Aussichten es zu werden ... Welche Partei hat das Ende des Proletariats in ihrem Programm?« Der mit der kapitalistischen Produktionsweise einhergehende Prozess der Klassenteilung besteht in seiner modernsten Form, dem Spektakel, der SI zufolge in nichts anderem als der endgültigen »Proletarisierung der Welt«. Die SI bezeichnet mit dem Ausdruck »Spektakel« einen – gegenüber dem klassischen Industriekapitalismus – seit Ende der 1920er Jahre einsetzenden und spätestens nach dem Zweiten Weltkrieg global hegemonial durchgesetzten neuen Zustand allgemein-warenproduzierender Gesellschaften, das heißt des modernsten Kapitalismus. Das Spektakel ist ein durch Bilder vermitteltes gesellschaftliches Verhältnis zwischen Personen, wobei durch die Versachlichung und Verbildlichung das gesellschaftliche Verhältnis als Beziehung zwischen Menschen und zwischen Klassen verborgen wird. Basal und letztendlich ist das Spektakel als getrennte Produktion und Produktion von Trennungen zwischen den Menschen zu charakterisieren, und in diesem Sinne die »Proletarisierung der Welt« als die Trennung der Produzent_innen von ihren gesellschaftlichen Lebensbedingungen und die Subsumtion der Individuen unter die kapitalistischen Teilungen der gesellschaftlichen Arbeit, unter die Norm ihrer Charaktermasken und konkurrierenden role models.

Das Proletariat bezeichnet (klassisch vgl. MEW 23:S.642 -- und hier knüpft auch die SI direkt an) ökonomiekritisch die Gesellschaftsklasse der Lohnabhängigen: diejenigen, die zwar mit anderen Gesellschaftsklassen und -schichten als freie und gleiche Rechtssubjekte (Staatsbürger_innen, Warenbesitzer_innen und Privatleute) gelten, aufgrund ihrer Eigentumslosigkeit gegenüber den gesellschaftlichen Produktionsmitteln aber, da gezwungen ihre Arbeitskraft zu verkaufen, de facto die vom Kapital ausgebeutete, weil unbezahlte Mehrarbeit liefernde Gesellschaftsklasse sind: in der Form von Mehrwert über den zur Ersetzung ihres Lohns hinaus produzierten Wert produzieren sie -- und zwar sie allein (als weltweit kapitalproduktive Gesamtarbeiter_in) -- das Kapital.Mit diesem Produktionsverhältnis reproduzieren sie erweitert zugleich ihren Lohnabhängigkeits-Status, also ihr Klassen-Sein mit. Da sie lediglich ihre Arbeitskraft als Ware besitzen und als atomisierte Menge vereinzelter miteinander konkurrierender Individuen auch sonst unmittelbar keine Möglichkeit haben, die ihnen nicht gehörenden gesellschaftlichen Produktions- und Lebensbedingungen, »die gesellschaftliche Raum-Zeit« (SI) zu bestimmen, sind die Proletarisierten zunächst ein gesellschaftliches, machtfaktisches Nichts, bloßes Produkt bzw. Objekt eines gesellschaftlichen Negationsprozesses (»Mit der Verwertung der Sachenwelt geht die Entwertung der Menschenwelt einher.« -- so Marx zum modernen Entfremdungssyndrom in der psychomentalen Dimension). Denn diese lohnarbeitenden und warenkonsumierenden Staatsbürgermonaden sind eben bloße gegeneinander konkurrierende vereinzelte Einzelne, die ihrer gesellschaftlichen Reichtumsproduktion als einer fremden Macht unmittelbar ohnmächtig gegenüberstehen und ausgeliefert sind, so dass die SI auch für den consumer capitalism ihrer Zeit minimalistisch hart feststellen kann: »Gemäß der zur Zeit im Entwurf begriffenen Wirklichkeit kann man diejenigen als Proletarier betrachten, denen es ganz und gar unmöglich ist, die gesellschaftliche Raum-Zeit zu verändern, die die Gesellschaft ihnen zum Konsum zuteilt (auf den verschiedenen Stufen des erlaubten Überflusses und Aufstiegs). Die Herrschenden sind diejenigen, die diese Raum-Zeit organisieren bzw. genug Spielraum für eine persönliche Wahl haben (auch z.B. wegen des wichtigen Fortbestandes alter Formen des Privateigentums).«

Durch das Kapitalverhältnis werden die Individuen allerdings als disponible »Masse« zur Klasse an sich, negativ, als eine zunächst unbestimmte Proletarität gemacht, d.h. zur Klasse aller, die vom Eigentum an den gesellschaftlichen Produktionsbedingungen ausgeschlossen sind und die gegeneinander um den Verkauf ihrer Arbeitskraft an jene Eigentümer_innen konkurrieren müssen.

An die seit Marx längst bekannten Bestimmungen des Begriffs »Proletariat« ist hier deshalb zu erinnern, weil allgemein – gerade auch im linken Common Sense – die ökonomiekritische harte Kategorie des Proletariats ständig mit ihren historisch permanent wechselnden Phänotypen (vor allem: »der Blaumann«, und dagegengesetzt: »die Führungskraft«) identifiziert wird und so schon zu Zeiten der SI festzuhalten war: »Der Zweck der hier nachvollzogenen Scheidelinie zwischen denen, die die Raum-Zeit organisieren (sowie den ihnen unmittelbar dienenden Agenten) und denen, die diese Organisation erleiden müssen, ist es, der kunstvoll gesponnenen Kompliziertheit der Funktionen- und Lohnhierarchien zwei deutlich festgelegte Pole zu geben, da jene Hierarchien vermuten lassen sollen, dass es an beiden Enden einer äußerst dehnbar gewordenen sozialen Kurve kaum mehr wirkliche Proletarier oder wirkliche Eigentümer gibt.« (SI)

Auf vier der vielen Momente des Negationsprozesses, aus welchen die spektakuläre »Proletarisierung der Welt« hervorgeht, soll hier kurz eingegangen werden:

1) Hervorzuheben ist die Negation der Zeit zur freien Entfaltung, die Marx disponible Zeit nennt, als welche er vor allem die Zeit zur Entwicklung des gesellschaftlichen Individuums und der individuellen Fähigkeiten nennt. Diese Möglichkeit ist von der spektakulären »Freizeit«, als kontemplativer Konsumzeit, beschlagnahmt. In dem Maße wie die Lohnabhängigen darin auch noch zur »Aktivität« stimuliert werden (»Bewegt euch!«, »Fit for Fun« usw.), spricht die SI sogar von »der Arbeit an der Freizeit«.

2) Der Prozess, bei dem der arbeitende lebendige Mensch zum Objekt und Anhängsel der kapitalistisch formbestimmten Produktionsinstrumente, Technologie und wissenschaftlichen Organisationsapparate subsumiert wird, ein Prozess, der sich in der industriellen Fabrik noch in einer materiell-despotischen Form durchsetzt, greift im Spektakel in libidinös-verinnerlichter verbildlichter Form auf nahezu alle Lebensbereiche über. Zumal es ohnehin keine »Reproduktionssphäre« gibt (dies ist allerdings verkehrter Schein), sondern das ganze Alltags(über)leben der Lohnabhängigen objektiv in seiner Totalität ökonomisch-funktional der Reproduktion-fürs-Kapital dient, gerade auch die »privateste« individuelle Reproduktion.

3) Durch die verdinglichende Besetzung der menschlichen Bedürfnisstruktur (die niemals normativ vorbestimmt ist sondern ein basal »polymorph« strukturierter völlig offener Prozess) vermittels der Bilderzirkulation werden selbst die »radikalen Bedürfnisse« (Marx) in das individuell und gesellschaftlich Unbewusste verdrängt. Dieses Begehren, das auf die Residuen und Reserven unverkürzter menschlicher Möglichkeiten abzielt und damit notwendigerweise auf die Überwindung der bestehenden, in Konkurrenz, Partikulärität und Entfremdung festgefahrenen Verhältnisse drängt, diese Begierden und Leidenschaften werden in den spektakulären Formen der totalen Warengesellschaft nur gebrochen entäußert: Sie werden nur passiv-kontemplativ konsumiert, als Bilder von einem zwar möglichen aber nichtgelebten Leben und einem entwirklichten Erlebten (Beraubung der eigenen und gesellschaftlichen Geschichte). Dieser Fetischismus der spektakulären Warenproduktion verhüllt den Menschen die objektive Möglichkeit, ihre Geschichte bewusst und aktiv zu gestalten, sie zu einer menschlichen Geschichte zu machen und darin ihre Bedürfnisse gesellschaftlich selbst zu bestimmen (Für die SI gab es auch keine »richtigen« oder »falschen Bedürfnisse«, wie etwa für ihren Zeitgenossen H. Marcuse).

4) Die Proletarisierten sind vom historischen Bewusstsein der Klassenkämpfe enteignet. Die herrschende Geschichtsschreibung ist Geschichtsschreibung-der-Sieger, welche die Klassenkämpfe als treibendes Moment der Geschichtsentwicklung verhüllt, wie »einfühlend« auch immer man diese bewertet. »Alle Geschichte heißt Geschichte von Klassenkämpfen, weil es immer dasselbe war, Vorgeschichte.« (Adorno) Das historisch-gesellschaftliche Bewusstsein der proletarischen Anläufe und ihrer bisherigen Niederlagen dagegen ist in das gesellschaftliche Unbewusste verdrängt. Gerade jene Niederlagen hält die SI jedoch »für aufschlussreicher als die sogenannten Siege«.

Wie kann nun dieser Enteignungs- und Verdrängungsprozess umgekehrt werden? Marx stellte einmal lapidar fest, »die Arbeiterklasse ist revolutionär oder sie ist nichts«. Die revolutionstheoretische Frage, welche die SI neu stellte und zu lösen versuchte, an der sie aber letztendlich auch nicht hinreichend weiterkam, lautet in der Spannung dieser Polarität: Wie kann aus dem gesellschaftlichen Nichtssein »dieKlasse des Bewusstseins« werden? Der erste Bewusstseinsschritt war ihrer Auffassung nach die Erkenntnis, dass die Proletarisierten »zwar keine Macht über den Gebrauch ihres Lebens haben«, aber dass sie das zumindest »wissen« (SI). Bei diesem »Wissen« handelt es sich nicht um theoretisch-reflexives Wissen, sondern um die eigene Einsicht in die unmittelbare Ohnmacht.

In dieser Negativität können die Lohnabhängigen nur durch die Subversion und Destruktion ihrer gesellschaftlichen Enteignung und Ausbeutung aus Objekten zu Subjekten werden. Das Proletariat wird deshalb als »die negative Seite des Gegensatzes, seine Unruhe in sich, das aufgelöste und sich auflösende Privateigentum« an den gesellschaftlichen Lebensbedingungen begriffen. »Revolutionär« schließlich ist, so die SI, »eine Bewegung, die die Organisation dieser Raum-Zeit sowie die künftigen Entscheidungsformen ihrer permanenten Neuorganisation radikal umgestaltet (und nicht eine Bewegung, die nur die Rechtsform des Eigentums oder die soziale Herkunft der Herrschenden verändert).«

Die Spannung von der gewöhnlichen ohnmächtigen Lebenssituation der vereinzelten Einzelnen im kapitalistischen Alltag hin zu der angestrebten klassenlosen und staatenlosen »Befreiung der menschlichen Geschichte« (SI) ist eine Spannung zwischen zwei historischen Situationen, in der sich die Proletarisierten in den geschichtlichen Kämpfen immer wieder neu befinden, solange die kapitalistischen Verhältnisse nicht überwunden sind. Hier gilt es auch immer wieder, aktiv sich vom individualisierten Überleben als bloße Klasse an sich zum Organisierungsgrad der Klasse für sich selbst heranzuarbeiten, d.h. sich »im geschichtlichen Kampf ... die Herausbildung der proletarischen Klasse als Subjekt« (SI) zum Zweck und Ziel zu setzen und durch die Konstruktion einer Kette von Situationen mit Willen und Bewusstsein »sich erst den revolutionären Ausgangspunkt zu schaffen, die Situation, die Verhältnisse, die Bedingungen, unter denen allein die moderne Revolution ernsthaft wird.« (Marx)

Eben weil die Formierung »der Proletarier die destruktive Partei « darstellt, wie Marx schon nüchtern kategorial hervorhob, »die aus dem Boden der modernen Gesellschaft naturwüchsig sich bildet«, ist dieser Prozess keinesfalls deterministisch progressiv, er kann jederzeit wieder ins Regressive umschlagen. Nicht nur der bürgerliche Zivilisationsprozess hat seine barbarische Schattenseite, auch nach den ersten proletarischen Revolutionsanläufen musste schon Marx hundert Jahre vor der SI feststellen: »Aber die gemütlichen delusions und der fast kindliche Enthusiasmus, mit dem wir ... die Revolutionsära begrüßten, sind zum Teufel. ... Zudem wissen wir jetzt, welche Rolle die Dummheit in Revolutionen spielt und wie sie von Lumpen exploitiert werden.«

Die »Wiederkehr des Verdrängten« (SI) in der Klassenambivalenz

Die SI hat einen neuen Versuch gestartet, diese Klassenkämpfe, ihren chaotisch-katastrophischen Verlauf, wieder ans Tageslicht zu bringen, ihre untergründige Geschichte offen zu legen, um aus den Gründen des bisherigen Scheiterns der proletarischen Anläufe praktische Schlüsse zu ziehen. Die Ausgangssituation als Partikel einer Masse lohnabhängiger Individuen – und sonst nichts – teilten die Situationist_innen mit dem Proletariat. Sie sahen sich selbst bloß als Element der Klasse und vertraten mit dem Ziel der Überwindung der Proletarität ihr Selbstinteresse. »Das Kapital hat für diese Masse eine gemeinsame Situation, gemeinsame Interessen geschaffen«, so schon Marx. Doch die Spektakeltheorie konnte weitgehend aufzeigen, wie dieses »Gemeinsame« immer wieder in den spektakulären Selbstbildern als organisatorisch-bürokratische »Repräsentation« und »revolutionäre« Ideologie aufgelaufen, getäuscht, abgelenkt, aufgerieben, aufgeopfert und spiegelbildlich ins konterrevolutionäre Gegenteil verkehrt worden ist.

Das Ende einer Welt und das Ende der Geschichte der alten Revolutionsepochen hatte die SI grausam-gründlich ausgesprochen, und sie setzte sogar auf die revolutionäre Beschleunigung einer Katastrophen-Kettenreaktion. Nur reflektierte sie dies nicht historisch-materialistisch in letzter Konsequenz. Angesichts des vernichtend-grausamen Resultats des geschichtlichen »Fortschritts« setzte ihr Blick in den Abgrund der Niederlage dann doch aus. Die SI konnte nur deshalb mit dem Katastrophischen in der Geschichte spielen, weil sie die Katastrophe (hebräisch: Shoah) des 20. Jh. und der bisherigen Gattungsgeschichte ausblendete. Die »Chiffre Auschwitz« (Adorno) bezeichnet nicht irgendeine historische Katastrophe unter den zahlreichen anderen der Geschichte, sondern den Untergang der historischen Möglichkeit, dass als menschliche Gattungsgeschichte angesichts dieses ihres Bruchs »es ›so weiter‹ geht« (W. Benjamin); ebenso bezeichnet sie den fälligen Untergang aller Vorstellungen der revolutionären Arbeiterbewegung von bruchlosem Weitermachen nach ihrem historischen Versagen. Sie verlangt die bewusste Stillstellung der menschlichen (Vor-)Geschichte, die sie auf die barbarischste und zugleich modernste Weise schon ist.

Doch der Linkskommunismus – und mit ihm auch noch die SI – nahm nur die epochale Niederlage der alten Arbeiterbewegung wahr und arbeitete die Ambivalenz nicht heraus, die im Zusammenhang mit dem totalen Versagen des Proletariats gegenüber dem eliminatorischen Antisemitismus in Gestalt des NS-deutschen Volksstaats katastrophal zutage trat. Sie setzte den Akzent nur abstrakt auf die Möglichkeit und Notwendigkeit der Klasse des Bewusstseins und weigerte sich, über das jeder Zeit mögliche Umschlagen vom »progressiven Pack« (Marx) in »regressives Pack«, in den virtuellen, mörderischen Mob des proletarisierten »Volks« mit seinen gebündelten Idiosynkrasien überhaupt zu sprechen.

Die SI verkannte damit, was Adorno im Angesicht der beginnenden Shoah diagnostiziert hatte: die gigantische epochale Verschiebung, die mit der ab 1933 in Deutschland gelingenden antisemitischen Verdunkelung und Verdrängung des Proletariats als dem »Gegenpunkt zur Konzentration der Macht« (Adorno 1940) und seiner Ersetzung durch »den Weltfeind Judentum« als den Gegenpunkt und das Vernichtungsobjekt der kapitalistisch-proletarisch verklammerten »Volksgemeinschaft« zustande gebracht worden war. Damit übersah die SI auch die doppelte Abspaltung: a) Ein Teil des Weltproletariats spaltete sich von diesem konterrevolutionär ab, nämlich als die »deutsche Revolution« des NS: im Bild der »Prolet-Arier« (vgl. Franz Neumann: Behemoth). b) Durch die Unterwerfung unter die Identität »der gute deutsche Arbeiter«, »der anständige deutsche Bürger« und »die aktiven Volksgenossen« als Selbstbild spalteten sie sozialpsychologisch das Bild vom revolutionären Proletariat aus sich selber endgültig ab (Subversion, Revolution, Kosmopolitismus, Marxismus, Intellektualität, kritische Zersetzung des Bestehenden – kurz: Negativität) und projizierten es als Wahnbild auf »die Juden«, um es – überblendet mit dem Wahnbild von den »Geldmenschen«, »dem Finanzjudentum« und der abstrakten Arbeit sowie aller »Nichtarbeit«, also der Vorstellung von der Bourgeoisie und der ganzen unbegriffenen Widersprüchlichkeit des Kapitalismus – in Gestalt der als »jüdisch« selektierten Menschen physisch zu vernichten. Das massenmörderisch-spektakuläre massenpsychotische Welt-Bild vom »Weltjudentum« war stets »antikapitalistisch und antimarxistisch« überdeterminiert. Auch der Hass aller »nationalen« Sozialismen gegen allen Cosmopolitismus ist davon unablösbar.

Die situationistische Kritik der »Gesellschaft des Spektakels« hätte zwar mit ihrem Analyseinstrumentarium aus diesem Bann »des Verhängnisses« im bisherigen Resultat der Gattungsgeschichte einen Ausweg aufzeigen können. Die SI selbst entwickelte dieses Instrumentarium zwar (äußerst rudimentär) in Hinblick auf »den Faschismus« im Allgemeinen, aber gar nicht in Bezug auf die deutschen Zustände im Besonderen, wie sie im NS und im eliminatorischen Antisemitismus gipfelten.

Als aktualisierendes Forschungsprogramm wäre die Spektakeltheorie der SI – nicht gegen die Kritische Theorie Adornos, sondern als deren überlebensfähiger »siamesischer Zwilling« und »Wiederkehr des Verdrängten« – in einer kollektiven Kritik aufzugreifen, zu retten und weiterzuentwickeln für die Reflexion dessen, was die Situationist_innen selber noch ausblendeten: die katastrophale Verschiebung innerhalb des verkehrten »identischen Subjekt-Objekt« Lohnarbeit-und-Kapital in den fetischistischen Gestaltungen der modernsten antisemitischen Alltagsreligion. Im Selbstbild der »aktiven« Volksgemeinschaftlichkeit konnte – und kann jederzeit wieder – die revolutionäre Proletarität, das Negative zum Bestehenden, als Feindbild abgespalten und »eliminiert« werden. Dies ist aber kein geschichtsfatalistisches »Verhängnis« der resultativen Wirklichkeit nach (dann hätte Hitler doch recht behalten), sondern auflösbar der materiellen und psychosozialen Möglichkeit nach – allerdings einzig und allein durch so etwas wie »die Klasse des Bewusstseins«, und durch keine andere Macht dieser Welt.

Um sich vom Pol und Sog der Vermobbung und Abspaltungen in der gegenseitigen Konkurrenz weg zu bewegen hin zur Selbstorganisierung als »die Klasse des Bewusstseins«, gälte es dann die situationistische Konstruktion der »lesenden und Dialektik lernenden« Arbeiter_innen aufzugreifen. »Lesen« in der situationistischen Bedeutung von umfassender Selbsttätigkeit bei der Dechiffrierung und Realisierung der »Träume«, »Gesten des revolutionären Begehrens« im modernen Proletariat, den Kulturobjektivationen seines »Traumschlafs« (Benjamin) heißt in situationistischer Perspektive experimentelles und assoziiertes Aufbrechen des kapitalistischen Alltags und Aufhebung der Kunst als getrennter Sphäre und Sphäre der Trennung. »Lesen« beinhaltet damit die sinnlich-evokative und performative Vermittlungsarbeit, die mit der theoretisch-begrifflichen einhergehen muss, und daraus resultierend die Freisetzung der ästhetischen »Welt produktiver Triebe und Anlagen« (Marx) in den gesellschaftlichen Individuen. Assoziieren sich diese auf welthistorischem, cosmopolitischem Terrain, hören sie auf ihre Proletarität weiter zu verdrängen und »national« bzw. rassistisch-projektiv von sich selbst abzuspalten. Indem sich die Situationist_innen von vornherein als »Internationale« innerhalb des prozessierenden Weltproletariats organisierten (niemals als »Partei« mit »dem Klassenstandpunkt« plus nationalen Wimpel im Schrein), sowie durch ihre global angelegte »Stützpunkte«-Konzeption (die zuweilen in ihrem spielerischen Als-ob vor dem Kokettieren mit Größenwahn nicht zurückschreckte: »Technik des Weltcoups«), bezogen sie sich jedenfalls direkt auf die erste InternationaleArbeiterAssociation. Deren Leistung hatte Marx darin zusammengefasst, »die Gesamtarbeiterklasse zu einem Bunde zu vereinigen und zum ersten Mal den herrschenden Klassen und ihren Regierungen die cosmopolitische Macht des Proletariats fühlbar zu machen«. Nur dann kann es ihnen auch möglich sein, von den spektakulären Fixierungen im Bild einer bloßen Mob-Multitude sich zu lösen und sich als geschichtsmächtige Gesellschaftsindividuen neu zu erfinden.

Die Kategorie »Proletariat« ist somit nicht mehr und nicht weniger als ein Ort der Auseinandersetzung. Diesen prozessierenden Ort -- »nur dort, wo sich der Dialog bewaffnet hat« (Debord: Die Gesellschaft des Spektakels, Schlussthese) -- gilt es zunächst grausam-gründlich zu re-konstruieren, »neu zu erfinden«, um in diesem strategischen Spiel als »Klasse des Bewusstseins« alle spektakulären Bilder und die offizielle Sprache von »der Klasse« zu dechiffrieren, um sie zu destruieren. Das Dilemma, die »Spaltung« der kritischen Theorie für den Communismus bleibt bis heute äußerst schmerzhaft offen: das Unvermögen, jeweils das Verdrängte, die emanzipative Möglichkeit eines revolutionären Proletariats einerseits und die barbarische Möglichkeit von »Auschwitz und ähnlichem« andererseits, historisch in Hinblick auf »Erlösung« des Menschengeschlechts von der Klassengesellschaft (W. Benjamin über die Aufhebung der messianischen Zeitvorstellung ab Marx) als seine eigene Aufhebungsarbeit zusammenzudenken. Die Konstruktion von Situationen sollte diese theoretische Aufgabe für jede_n Proletarisierte_n praktisch greifbar machen.

Editorische Anmerkungen

Der Aufsatz ist in DISKUS - Frankfurter StudentInnen Zeitung - erschienen. Wir spiegelten von dort.