Ökonomenlexikon
Varga, Eugen

von
Manfred Braun
06/06

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6.11.1879 Nagyteteny (heute zu Budapest) - 7.10.1964 Moskau;

marxistisch-leninistischer Politökonom, der sich aktiv am Kampf der Arbeiterbewegung gegen Imperialismus und Krieg beteiligte und die proletarische Weltanschauung durch die Weiterentwicklung der politischen Ökonomie des Kapitalismus bereicherte. Er war seit seiner Jugend mit der Arbeiterbewegung verbunden und gehörte zum linken Flügel der Ungarischen Sozialdemokratischen Partei, deren Mitglied er 1906 wurde.

Vor dem ersten Weltkrieg veröffentlichte V. Beiträge im theoretischen Organ der deutschen Sozialdemokratie »Neue Zeit« vor allem über die ökonomische Entwicklung und die Lage der Arbeiterklasse in Ungarn sowie über Probleme der Geldtheorie. 1918 wurde er zum Prof. für Politische Ökonomie in Budapest berufen.

Ein Höhepunkt im Leben V.s war seine Tätigkeit während der Ungarischen Räterepublik im Jahre 1919. Er arbeitete zunächst als Volkskommissar für Finanzen, später als Vorsitzender des Obersten Volkswirtschaftsrates.

In seiner Schrift »Die wirtschaftspolitischen Probleme der proletarisehen Diktatur« schätzte V. unmittelbar nach der Niederlage der Volksmacht in Ungarn die Ereignisse kritisch ein und verallgemeinerte die gewonnenen Erfahrungen, um sie für den weiteren Kampf der internationalen Arbeiterklasse nutzbar zu machen.

1920 emigrierte V. nach dem Zusammenbruch der Ungarischen Räterepublik in die Sowjetunion und wurde dort Mitglied der KPdSU. Auf Empfehlung der Kommunistischen Internationale übernahm er die verantwortungsvolle Aufgabe, zur Festlegung von Richtlinien des Klassenkampfes regelmäßig Analysen über die Entwicklung der Weltwirtschaft und der Wirtschaftspolitik in den kapitalistischen Ländern anzufertigen. Deren Ergebnisse publizierte V. vor allem in seinen Vierteljahresberichten der Komintern-Zeitschrift »Wirtschaft und Wirtschaftspolitik« (1922-1939). 1927 übernahm V. die Leitung des neu gegründeten Instituts für Weltwirtschaft und Weltpolitik an der AdW in Moskau, das bis zum Jahre 1947 bestand. Jahrelang wirkte V. auch als Herausgeber der gleichnamigen Zeitschrift in der UdSSR. In der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen entstanden Arbeiten über die »Große Krise« 1929-1933, über die »Depression besonderer Art« und die zyklische Bewegung der kapitalistischen Wirtschaft am Vorabend des zweiten Weltkrieges. Zugleich beschäftigte sich V. eingehend mit den sozialen Prozessen in den wichtigsten kapitalistischen Ländern. Von 1922 bis 1927 wirkte V. als wissenschaftlicher Berater der Handelsvertretung Sowjetrußlands in Deutschland.

1939 wurde V. zum Ordentl. Mitglied der AdW der UdSSR gewählt und gehörte lange Zeit ihrem Präsidium an.

Während des zweiten Weltkrieges erschienen aus seiner Feder zahlreiche Schriften über die Entwicklung der Wirtschaft und Politik in den kriegführenden Staaten. V. beschäftigte sich besonders mit Fragen der Kriegswirtschaft und der inneren politischen Lage im faschistischen Deutschland.

1946 veröffentlichte er als Zusammenfassung seiner einzelnen Studien und als Verallgemeinerung seiner Forschung das Buch »Veränderungen in der Wirtschaft des Kapitalismus im Ergebnis des zweiten Weltkrieges«, dessen Diskussion unter sowjetischen Wirtschaftswissenschaftlern wesentlich zur Definition der zweiten Etappe der allgemeinen Krise des Kapitalismus beitrug.

Als 1956 das neue Institut für Weltwirtschaft und Internationale Beziehungen an der AdW der UdSSR entstand, gehörte V. zu seinen Begründern und aktiven Förderern. V.s Werk umfaßt grundlegende Aufsätze zu methodologischen Fragen in den Arbeiten der Klassiker des Marxismus-Leninismus, zur Lage des Proletariats im Kapitalismus, zur ungleichmäßigen ökonomischen und politischen Entwicklung der imperialistischen Länder und zu neuen Fragen der politischen Ökonomie des Kapitalismus. Auf dem Gebiet der politischen Ökonomie des Sozialismus - vor allem zu Agrarproblemen - hat V. ebenfalls Bedeutendes geleistet. Bleibende Verdienste erwarb sich V. mit seinen Darlegungen zur Theorie und Praxis der allgemeinen Krise des Kapitalismus und zur Krisenproblematik im Kapitalismus. V. analysierte politökonomische Fragen der allgemeiner! Krise des Kapitalismus erstmalig in seiner Schrift »Die Niedergangsperiode des Kapitalismus« (1922). In dieser Monographie erfaßte er die neue Qualität der Existenzbedingungen des Kapitalismus nach dem ersten Weltkrieg und der Oktoberrevolution. Er kommt zu wichtigen Erkenntnissen über deren Auswirkungen auf den Zyklusverlauf.

V. gelangte vor allem auf der : Grundlage seiner Analysen Mitte der 20er Jahre zur These von der relativen Stabilisierung des Kapitalismus. Das ökonomische Kriterium bestand für ihn - neben anderen  Faktoren - in den wieder geschaffenen Bedingungen einer erweiterten Reproduktion. Politisch war für V. die Tatsache maßgebend, daß vor allem in Mitteleuropa keine akut revolutionäre Situation mehr vorhanden war. Gleichzeitig betonte et daß es sich hier um eine Einher von Niedergang und Gegenreaktion des Kapitalismus handelt, in der ersteres dominiert. V. benutzte längere Zeit zur generellen Kennzeichnung dieser neuen Situation des Kapitalismus die verschiedensten Begriffe. Er sprach vom »Verfallstadium des Kapitalismus«, von einet »Periode der ständigen Krise«, von der »ununterbrochenen Krise im Weltmaßstab« oder von der »Krisenperiode des Kapitalismus«. Bei der Analyse der großen Weltwirtschaftskrise 1929 bis 1933 benutzte V. dann immer häufiger den Begriff »allgemeine Krise des Kapitalismus«, der sich schließlich während der 30er Jahre in den kollektiven Einschätzungen der Komintern, in den Analysen der KPdSU und zahlreicher anderer kommunistischer Parteien endgültig durchsetzte.

In seinen Arbeiten hebt V. vor allem folgende ökonomische Merkmale der allgemeinen Krise des Kapitalismus hervor: den chronischen Überfluß an fixem Kapital, das Entstehen einer chronischen (strukturellen, technologischen) Arbeitslosigkeit, das Fehlen eines weltwirtschaftlichen Gleichgewichts bzw. das Entstehen einer chronischen weltwirtschaftlichen Disproportionalität, die chronische Agrarkrise und die tendenziell chronische Verschärfung des Marktproblems. Er kam gerade im Zusammenhang mit der Analyse grundsätzlicher Besonderheiten der Weltwirtschaftskrise . 1929 bis 1933 zu der Schlußfolgerung, daß sich diese Kennzeichen der allgemeinen Krise des Kapitalismus mit den zyklischen Krisen verflechten und damit eine Tendenz zur Deformierung des Krisenzyklus hervorrufen, indem sich die Widersprüche des kapitalistischen Reproduktionsprozesses mehr oder weniger ständig verschärfen. In seiner Schrift »Der Kapitalismus des zwanzigsten Jahrhunderts« sind die Wirkungen der großen Veränderungen des internationalen Kräfteverhältnisses auf die inneren Prozesse und Gesetzmäßigkeiten des Kapitalismus Gegenstand der Betrachtung.

Bedeutendes hat V. auf dem Gebiet der marxistisch-leninistischen Krisentheorie geleistet. Sein großes Verdienst besteht darin, die von —> Marx geäußerten Bemerkungen über die gesetzmäßig zu zyklischen Krisen führenden Widersprüche der kapitalistischen Produktion systematisiert und aufbereitet zu haben. Gestützt auf die Reproduktionsschemata und die Realisationstheorie im zweiten Band des »Kapitals« sowie auf die Darlegungen von Marx über die inneren Widersprüche des Gesetzes vom tendenziellen Fall der Profitrate, zeigt V., wie sich innerhalb des kapitalistischen Reproduktionsprozesses vor allem die Disproportionalität zwischen den beiden Abteilungen und den Zweigen der Gesamtwirtschaft sowie der Widerspruch zwischen Produktion und Markt entfalten. Seit den 20er Jahren stehen im Zentrum von V.s Untersuchungen über die ökonomischen Merkmale der allgemeinen Krise des Kapitalismus vor allem die Veränderungen im Zyklusverlauf, die Tendenz zu verlängerter Dauer und größerer Tiefe der Überproduktionskrisen sowie zur Deformierung der Phasenabfolge.

Eine besondere Rolle spielt bei V.s Einschätzungen die Verschärfung des Marktproblems. Er unterstreicht vor allem zwei Aspekte: das zunehmende Zurückbleiben der Konsumtionskraft der kapitalistischen Gesellschaft hinter dem Produktionswachstum und die chronische Nichtauslastung der Produktionskapazitäten, die die erweiterte Reproduktion des' fixen Kapitals erschwert. Für .beide Aspekte nennt V. als Ursachen: die mit dem Imperialismus beschleunigte historische Tendenz zur relativen Begrenzung der Massenkaufkraft, ihre weitere Verstärkung durch die wachsende Arbeitslosigkeit im Gefolge der kapitalistischen Rationalisierung, eine mit der Modernisierung vorhandener Anlagen einhergehende Verlangsamung der Investitionsgüternachfrage, die monopolistische Preispolitik und Reaktion auf Anzeichen einer Überproduktion sowie die begrenzten Expansionsmöglichkeiten des kapitalistischen Marktes durch das Bestehen der Sowjetunion.

V. erkannte, daß sich die Modifikation im Krisenzyklus unter den Bedingungen der allgemeinen Krise des Kapitalismus konzentriert in einer sich verringernden Möglichkeit der zyklischen Krise zur vollen Erfüllung ihrer Funktion als spontaner, gewaltsamer Regulator des kapitalistischen Reproduktionsprozesses äußert. Dieser methodologische Ansatz ist gerade für die heutige Krisenanalyse von Bedeutung. Er führte V. zu der Überlegung, daß andere, längerfristige Krisenprozesse neben der zyklischen Krise im staatsmonopolistischen Kapitalismus »Krisenfunktionen« übernehmen müssen, dadurch die Kapitalverwertung beeinflussen und den Zyklus weiter modifizieren können. Gerade diese Entwicklungen stellten für V. einen wesentlichen Hintergrund bei seiner Kennzeichnung der Labilität als Gesamtzustand des Kapitalismus während der allgemeinen Krise dar. Außerdem sind V.s Untersuchungen zur Synchronität des Krisenzyklus im kapitalistischen System von besonderem Interesse, bei denen er stets den Zusammenhang zwischen der ungleichmäßigen ökonomischen und politischen Entwicklung der kapitalistischen Länder und dem Verlauf des Krisenzyklus hervorhob.
 

Publikationen:  Das Geld. Seine Herrschaft in Friedenszeiten und sein Zusammenbruch während des Krieges. Budapest 1918, in: Ausgewählte Schriften 1918-1964, Bd. I, Berlin 1979); Die wirtschaftspolitischen Probleme der proletarischen Diktatur, Hamburg 1921. In: Ebenda; Die Krise der kapitalistischen Weltwirtschaft, 2., vermehrte u. umgearb. Aufl., Hamburg 1922. In: Ebenda; Die Lage der Weltwirtschaft und der Gang der Wirtschaftspolitik in den letzten drei Jahren, Hamburg 1922; Die Niedergangsperiode des Kapitalismus, Hamburg 1922. In: Ausgewählte Schriften 1918-1964, Bd. I, Berlin 1979; Aufstieg oder Niedergang des Kapitalismus, Hamburg 1924; Materialien über den Stand der Bauernbewegung in den wichtigsten Ländern, Berlin, Hamburg 1925; Die Wirtschaft der Niedergangsperiode des Kapitalismus nach der Stabilisierung, Hamburg 1928; Die große Krise und ihre politischen Folgen, Moskau, Leningrad 1934. In: Ausgewählte Schriften 1918-1964. Bd. I, Berlin 1979);  20 Jahre Kapitalismus und Sozialismus, Straßburg 1938;  Die kapitalistische Welt vor einer neuen Krise. In: Ausgewählte Schriften, Bd. II, Berlin 1979, Die Veränderungen in der kapitalistischen Wirtschaft im Gefolge des zweiten Weltkrieges, Berlin 1947. Gekürzt in: Ausgewählte Schriften, Bd. II, Berlin 1979);  Die historischen Wurzeln der Besonderheiten des deutschen Imperialismus, Berlin, Leipzig 1946. In: Ebenda.);  Der Kapitalismus des zwanzigsten Jahrhunderts, Berlin 1962), Grundfragen der Ökonomie und Politik im Imperialismus, Berlin 1955, Beiträge zu Problemen der politischen Ökonomie des Kapitalismus. In: Ausgewählte Schriften, Bd. III, Berlin 1979); Ausgewählte Schriften 1918-1964, 3 Bde., Berlin 1979, 2.Aufl., Berlin 1982, mit erw. Bibliographie.

Literatur: J. Kuczynski: Die.Schule Eugen Vargas. In: J. Kuczynski: Studien zu einer Geschichte der Gesellschaftswissenschaften, Bd. 7, Berlin 1977; Vorwort von J. Goldberg. In: Wirtschaft und Wirtschaftspolitik, Konjunktur und Krise in der Analyse der KI, Berlin (West) 1977; Vorwort von H. Heininger/L. Maier zu: E. S. Varga: Ausgewählte Schriften 1918-1964, Bd. I, Berlin 1979; Eugen Varga (1879 bis 1964). In: Wissenschaftliche Beiträge der Karl-Marx-Universität Leipzig. Reihe Wirtschaftswissenschaften, Leipzig 1979; Geschichte der politischen Ökonomie. Grundriß, Berlin 1985.
 

Editorische Anmerkungen

Der Text stammt aus: Krause, Werner; Graupner, Karl-Heinz & Sieber, Rolf (1989). Ökonomenlexikon. Berlin: Dietz. S. 586ff

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