"Zieht den Trennungsstrich, jede Minute"
Versuch einer gerechten Rezension

Von Ilse Schwipper
06/05
 

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Weltweit kämpften ab den 50ern Jahren bewaffnete Gruppen in Befreiungsbewegungen für Sozialismus, deren Kampf ab Mitte der 60er Jahre ihren Höhepunkt erreichten. Land– und Stadtguerillagruppen entstanden in Europa, unter anderem auch in Deutschland. Die "Rote Armee Fraktion" (RAF) , die "Bewegung 2. Juni" und später die "Revolutionären Zellen" agierten in West-Berlin und West-Deutschland. (Später in dem wiedervereinten Deutschland).

Entstanden sind sie als Antwort auf die Zersplitterung der „Linken“ nach dem Ende der 68er Bewegung, als der „Marsch durch die Institutionen" und Fabriken begann. Maßgeblich für diese Haltung war die Amnestierung von ca. 40 000 Personen (überwiegend StudentInnen) die mit Ermittlungsverfahren wie Landfriedensbruch u.a. konfrontiert waren. Vergessen waren plötzlich all die Diskussionen um die eigene revolutionäre Veränderung um gesellschaftliche Verhältnisse verändern zu können, genau so wie
Militärdiktaturen in Griechenland, Portugal , der Krieg in Vietnam und der CIA-Putsch in Chile.



Christiane Ensslin (Hg.) / Gottfried Ensslin (Hg.)
Gudrun Ensslin "Zieht den Trennungsstrich, jede Minute"
Briefe an ihre Schwester Christiane und ihren Bruder Gottfried aus dem Gefängnis 1972-1973

Vor allem der Vietnamkrieg wurde verdrängt, obwohl täglich die US-Bomber von Ramstein starteten und die Koordination dazu in Heidelberg stattfand. Die RAF hat genau aus
dem Grund in Heidelberg einen Anschlag verübt. Statt der Revolutionierung des Subjekts und die Diskussionen um "DAS PRIVATE IST POLITISCH" nahm ab Ende der 60er Jahre einen breiten Raum ein: die GEWALTFRAGE!

Langer Marsch oder bewaffneter Kampf? Über diese Zeit ist viel geschrieben worden,
interpretiert in Filmen, Radiosendungen, Veranstaltungen, Autobiografien, Biografien und
zuletzt in einer umstrittenen Ausstellung in Berlin zur RAF. In diesem Kontext ist das jetzt erschienene Buch "Zieht den Trennungsstrich, jede Minute" zu sehen. Es geht in diesem Buch um die Briefe von Gudrun Ensslin, die Mitbegründerin der RAF war.

Am 07. Juni 1972 wurde Gudrun Ensslin verhaftet, nachdem Ulrike Meinhof, Andreas Baader und Jan Carl Raspe bereits inhaftiert waren. (Am 18. Oktober1 977 werden alle Tod in den Zellen aufgefunden, nur die später in Stammheim hinzugekommene Irmgard Möller überlebt.)

Um es vorweg zu nehmen, spannend, interessant und erhellend sind die Selbsteinschätzungen der Geschwister in Bezug auf ihre Schwester Gudrun und ihre aus dem Knast geschriebenen Briefe. Vor allem aber die vielen Randbemerkungen und Daten zu Geschichtsereignissen und Personen , die reichlich vorhanden sind, beleben das Buch. Allein deshalb ist es lesenswert.

Die veröffentlichten Briefe sind größten Teils weit nach dem Tod Gudrun Ensslins den Geschwistern  ausgehändigt worden (1982) , andere sind bis heute verschwunden. Die Briefe von Christiane und Gottfried Ensslin fehlen völlig, obwohl diese auf jeden Fall in der Zelle oder bei der Habe von Gudrun Ensslin hätten sein müssen. ( Habe nennen sich alle Sachen von Gefangenen die beschlagnahmt wurden oder aber auch ihre Garderobe.). So bleibt den LeserInnen lediglich der Einblick in Antwortbriefe , die zum großen Teil von Agitation bestimmt sind. Agitation gegen Sozialarbeit an Gefangenen, gewünscht wird von Gudrun die Emanzipation zur politischen Praxis in ihrem Sinne. Allerdings ist es dann aber auch ein Widerspruch, wo es im Befehlston um die Bestellung von Büchern und Bekleidung geht. Bis ins letzte Detail wird vorgeschrieben was es sein soll: Farbe-Größe-Marke.

Gudrun Ensslin ist zwar sehr bewusst, dass sie nur begrenzt agieren kann, wenn sie will, dass die Briefe die AdressatInnen erreichen sollen. Da sie aber in der ersten Zeit nur ausschließlich an ihre Familie schreiben kann, und auch nur von ihnen besucht werden
darf, versucht sie die Geschwister zu agitieren. Nichtsozialarbeit  und solidarisches Verhalten meint in ihre Fußstapfen treten und den Guerillakampf aufnehmen. Nicht zufällig
werden die meisten Briefe von der Beförderung ausgeschlossen, allerdings mit oftmals an den Haaren herbeigezogenen Sicherheitsbedenken. Im Anhang befinden sich gerichtliche Beschlagnahmebegründungen und die Beschwerden dagegen, die ein Licht auf die
paranoide Angst der Repressionsorgane werfen. Terror und Willkür machen deutlich, wozu Isolationsfolter durchgeführt wird. Auch in dieser Hinsicht ist das Buch, gerade für jüngere Menschen, sehr lesenswert. Allerdings gibt es auch Stellen in den Briefen von Gudrun Ensslin, wie auf Seite 79, die einen erschauern lassen. Da wird der analytische Vergleich gezogen zwischen einer schwarzen schrumpeligen Zitrone aus dem gelieferten Knasteinkauf, und der verschrumpelten harten Haut eines Lampenschirms, den Gudrun Ensslin in
Buchenwald sah. Diese Assoziation des beides Vorhandenen und Erlaubten erklärt sich nur aus der Situation der Isolationshaft, in ihr werden Banalitäten (wie die schrumpelige Zitrone) zum Beleg für Faschismus.

Eine wichtige Rolle in ihren Briefen spielt nicht nur die Auseinandersetzung mit dem Proletariat als Klasse eine Rolle, vielmehr sieht sie diese als natürliche Verbündete der Randgruppen der damaligen Gesellschaft. Beide bilden nach ihrer Meinung eine Einheit als
revolutionäres Subjekt. An anderen Stellen greift sie die Situation im Knast auf und vergleicht sie mit der in den Familien – auch in ihrer – und der Gesellschaft allgemein. Deutlich wird an vielen Stellen der Briefe in dem Buch, dass der Blick auf gesellschaftliche Verhältnisse wesentlich schärfer ist, als in der Situation des sich draußen bewegen können.

Um ihre Analysen zu untermauern zitiert sie nicht nur in Briefen an Christiane Ensslin Marx/Engels und Lenin. In der Auseinandersetzung mit ihrem Bruder Gottfried um ein Thesenpapier von einer Projektgruppe Frankfurter Studenten zur Homosexualität aus dem
Wintersemester 72/73 zitiert Gudrun Ensslin ausgerechnet aus der „Heiligen Familie“ von
Engels. (Seiten 127-128). Zitat: Es handelt sich nicht darum, was dieser oder jener Proletarier oder selbst das ganze Proletariat als Ziel sich vorstellt. Es handelt sich darum, was es ist, und was es diesem Sein gemäß geschichtlich zu tun gezwungen sein wird.“

Besonders wichtig ist es Gudrun Ensslin , dass sich ihre Geschwister mit Entfremdung, Verdinglichung, und dem Menschen als Ware auseinandersetzen, weil das die Ergebnisse der kapitalistischen Gesellschaftsordnung sind. In dem Sinne fordert sie ihren Bruder auch auf, die Homosexuellen-Bewegung in die Klasse des Proletariats einzureihen, weil unterdrückte Randgesellschaft im Schattendasein. Ansonsten bliebe die Homosexuellen-Bewegung der Nebenwiderspruch, da es (Zitat Seite 135)…..“ ein Nebenproblem ist, wen er ficken darf also will, das löst er dann mal nebenbei, sei sicher.“

Briefe die sich auf die Haftbedingungen und dem Kampf dagegen beziehen, werden in der Regel beschlagnahmt. Gudrun Ensslin war an fünf Hungerstreiks beteiligt, wobei der Letzte vom 09.08. – 02.09.1977 ein Hunger- und Durststreik war , der abgebrochen wurde. Es folgte am 05.09.77 die Entführung des Arbeitgeberpräsidenten Hans Martin Schleyer durch das  "Kommando Siegfried Hausner".

Genaue biographische Daten zu Gudrun Ensslin befinden  sich ebenso im Anhang, wie Bilder von den Geschwistern und ihr. Bemerkenswert die Bilder aus dem Stammheimer Trakt, aufgenommen mit einer eingeschmuggelten Minox-Kamera vom Sommer 1977. Bleibt nur noch zu erwähnen, dass es auch ein anderes Buch noch gibt. "das info – briefe von gefangenen aus der RAF – aus der diskussion 1973 – 1977 – dokumente.“ Herausgegeben von dem Rechtsanwalt Pieter Bakker Schutt im Neuen Malik-Verlag 1987.
(Kleinschreibung im Original Buchtitel.).

Dabei handelt es sich um Kassiber die unter den Gefangenen hin und her gingen, und einen Einblick geben in die damals politische Auseinandersetzung. ( Kassiber sind Briefe die nicht über die gerichtliche Zensur laufen.). Diese Dokumente setzen dort ein, wo die Briefe von Gudrun Ensslin an ihre Geschwister aufhören.

Editorische Anmerkungen

Der Text wurde uns am 17.6.2005 zur Veröffentlichung überlassen.