Im Vollbesitz seiner Geisteskraft
(„Kinder statt Inder“, als hätten die Inder nicht auch Kinder!) hat
sich Herr Rüttgers nach der gewonnen Landtagswahl vor Kamera und
Mikrofon gestellt und alle Welt wissen lassen, dass nunmehr die CDU
die Partei der Arbeiter sei.
Kann man ihm widersprechen?
Schließlich gewann die CDU in NRW bei den ArbeiterInnen und bei den
Lohnarbeitslosen über 14% hinzu und bei den Angestellten über 9 %.
Die Lohnabhängigen wählten mehrheitlich schwarz. Da hat sich was
getan, schon seit längerem!
Es gab mal Zeiten, da mussten Reaktionäre sich der sozialen
Demagogie bedienen, um von ArbeiterInnen gewählt zu werden. Das
haben sie heute nicht mehr nötig! Der erfolgreichen
marktwirtschaftlichen Vernebelung der Gehirne sei Dank. Herr
Rüttgers samt CDU wurden dafür gewählt, dass sie den Kälbern das
Schlachtmesser zeigten. (Länger arbeiten für weniger Lohn, alle
staatlichen Leistungen auf den Prüfstand mit angestrebten Kürzungen
bis zu 20%, usw. usf.) Die Kälber sind von der unabänderlichen
Notwendigkeit ihrer Schlachtung offenbar ganz und gar überzeugt und
sie finden es gut, wenn man ihnen sagt, wie sie geschlachtet werden
sollen, damit es „allen“ wieder gut geht.
Die neoliberale Offensive trägt
ungeahnte Früchte. Als ihre geistigen Väter um von Hayek sie in den
40iger Jahren bereits planten, tönte die CDU in ihrem Ahlener
Programm von 1947 noch:
„Das kapitalistische
Wirtschaftssystem ist den staatlichen und sozialen Lebensinteressen
des deutschen Volkes nicht gerecht geworden.“
Es müsse eine „Neuordnung von Grund auf erfolgen“.
„Inhalt und Ziel dieser sozialen und wirtschaftlichen Neuordnung
kann nicht mehr das kapitalistische Gewinn- und Machtstreben sein,
sondern nur das Wohlergehen unseres Volkes...
Ziel aller Wirtschaft ist die Bedarfsdeckung des Volkes.“
Tatsächlich?
Für solche scheinbar
antikapitalistischen Erkenntnisse wird heute niemand mehr gewählt.
Das musste Herr Müntefering mit seiner famosen SPD ebenfalls
erfahren. 7 Jahre lang die Sachzwänge der Globalisierung predigen,
sich für keine soziale Schweinerei zu schade sein und dann, nachdem
das drohende Debakel auch der Blindeste erahnen konnte, ein paar
moralinsaure „antikapitalistische“ Sprüche loslassen, das
funktioniert nicht. Die soziale Demagogie versagt ihren Dienst, weil
sie nicht mehr gebraucht wird. Sie wird nicht mehr gebraucht, weil
die Mehrheit der Lohnabhängigen über den Kapitalismus heute kaum
anders denkt als etwa ein Herr Walter oder Herr Ackermann von der
Deutschen Bank. So wie in Sachen Fussball in jeder Eckkneipe lauter
Bundestrainer unterwegs sind, so sind in Sachen
Gesellschaftsentwicklung lauter Chefökonomen unterwegs. Auf
außerordentlich hohem Niveau tönt es gebetsmühlenartig:
„Wir brauchen mehr Wachstum. Wachstum
schafft Arbeitslätze. Investitionen müssen sich wieder lohnen. Die
Belastungen der Unternehmen müssen abgebaut werden. Der privaten
Initiative muss mehr Raum gegeben werden. Das Anspruchsdenken
bezüglich sozialstaatlicher Leistungen muss weg, der Sozialstaat
„umgebaut“ werden usw.“
Alles nickt fleißig, ist begeistert
über soviel Sachverstand, kauft Aktien (solange das Geld reicht) und
verfolgt gespannt die Börsennachrichten. Für die Masse der
Lohnabhängigen hat diese ganze Blödelei nur einen kleinen Haken. Die
aus diesem ökonomischen Sachverstand abgeleiteten Maßnahmen treffen
viele von ihnen hart, sorgen für zunehmende Armut und existenzielle
soziale Unsicherheit. Und so empören sich alle, wenn es sie selbst
betrifft und hoffen darauf, dass es sie nicht trifft. Trifft es sie
nicht, dann fühlen sie sich auch nicht betroffen! Zu sozialem
Widerstand kann diese Empörung nicht führen, solange sie in
marktwirtschaftliche Vernunft eingebettet ist. So ist die Hoffnung
auf den Erfolg des „individuellen Lebensentwurfs“ allemal stärker
als die Erkenntnis des kollektiven Schicksals als Lohnabhängige.
Klassenbewusstsein? Nein danke. Wir
träumen vom Lottogewinn und lassen uns die tollen privaten
Perspektiven eines Systems, dessen Motor die Bereicherung ist, nicht
madig machen. Jeder und jede darf vom individuellen Reichtum
träumen! Die Perspektive radikaler gesellschaftlicher Veränderung
zum Zweck der Herstellung allgemeiner sozialer Sicherheit als Basis
für (im Durchschnitt erfolgreiche) individuelle Lebensentwürfe)
reizt uns wenig. Womöglich können wir dann nicht mehr vom
Lottogewinn träumen. Millionär sein ist doch toll!
Doch, in gewisser Weise ist Herr
Rüttgers zum „Arbeiterführer“ geworden. Es wird noch dauern, bis der
Neoliberlismus seinen Bankrott produziert hat, alle Fragen der
gesellschaftlichen Entwicklung neu aufgeworfen werden und sich die
Erkenntnis breit macht, dass solche „Arbeiterführer“ eher dem
Rattenfänger von Hameln gleichen!
Editorische
Anmerkungen
Peter
Trotzig schreibt ab der Nr. 1-05 in unregelmäßigen Abständen seine
Kommentare zum Zeitgeschehen. Dieser wurde am 4.6.2005 erstellt.
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