Ein anderer Blick auf den "8. Mai"

Leseauszug aus "die anderen"

Neuaufbau oder Wiederaufbau?

von Klaus-Dieter Brügmann u.a.
06/05

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Eine große Zahl der Menschen hatte nach dem 3. Mai zunächst keine Zeit, sich Gedanken über die Zukunft ihres Staatswesens zu machen. Leben meine Angehörigen noch? Wie sieht es in meiner Wohnung aus? Wo bekomme ich etwas zu essen? Das stand jetzt für viele im Mittelpunkt.

Grete Dreibrodt berichtet: „Meine Schwägerin war am 5. Mai von Horst nach Marburg gefahren, mit dem Rad natürlich. Sie kam aber nicht wieder. Deshalb fuhr ich am 6. Mai selbst mit dem Rad los - mit einer Menge Gepäck. Die Seevebrücke war gesprengt, stand im Wasser. Ich mußte erst das Fahrrad und dann Stück für Stück das Gepäck über einen schmalen Steg tragen. Auf der Chaussee kommt mir plötzlich mein Sohn Heinz entgegen. Sein erstes Wort: ,So, jetzt suchen wir unseren Vati!' Schon in Horst habe ich mich bei dem britischen Kommandanten erkundigt, was mit den Gefangenen in Celle, wo ja auch mein Mann war, geschehen ist. Ich bekam die Auskunft, daß Celle nicht bombardiert wurde, und daß die Gefangenen befreit worden sind. Da war ich zunächst beruhigt. Daß die Nazis die Gefangenen einen Tag vor der Besetzung abtransportiert hatten, wußte ich ja damals noch nicht."



Herausgegeben von

Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes - Bund der Antifaschisten (VVN-BdA) Landesverband Hamburg

In diesem Jahr ist die 8. - völlig überarbeitete - Auflage  erschienen.

Die britischen Truppen hatten inzwischen in Harburg am Eißendorfer Pferdeweg eine Kommandantur eingerichtet.

Das Verhältnis zur britischen Besatzungsmacht gestaltete sich hier und da recht unterschiedlich, je nach der gesellschaftlichen Stellung, die man im Nazi-Reich innehatte. Otto A. Friedrich berichtet, wie Phoenix-Direktor Schäfer den Beginn der heuen Ära erlebte: „In den ersten Tagen danach wurde das Werk von Truppen besetzt und alle leitenden Leute von Kommissionen verhört. Es ließe sich wohl eine Satire darüber schreiben, wie Schäfer, nach allem, was hinter ihm lag, nun in einem britischen Heereslastwagen aus seinem zertrümmerten Hause zum Verhör durch uniformierte Männer der ausländischen Gummi-Industrie abgeholt wurde; aber ihm eignete der nötige Humor, und bald war das Vertrauensverhältnis hergestellt." Als kurze Zeit später 18 Angehörige des Managements entlassen werden sollten, wandte sich Dr. Schäfer persönlich an die britische Militärregierung in Bad Oeynhausen und drohte, die Produktion einzustellen. Er verschaffte auch solchen Personen leitende Posten, die bereits aus anderen Betrieben hinausgeflogen waren.(*) Die Militärbehörden sagten zu allem Ja. Bei Otto A. Friedrich liest sich das so: „Diese charaktervolle Haltung (d.h. Schäfers Drohung, die Produktion einzustellen, d. V.) beeindruckte die Engländer, und die Leute blieben. Ja, es gelang Schäfer und mir, die wir während des ersten Wiederaufbaus allein den Vorstand bildeten, hervorragenden Männern, die ihre Stellung in anderen Werken verloren hatten, in unserem Hause eine neue Entwicklung zu bieten."

Zu den Antifaschisten entwickelte sich das Verhältnis manchmal nicht so problemlos. Widerstandskämpfer der Bästlein-Jacob-Abshagen-Gruppe aus Hamburg berichten, daß einige ihrer von den Nazis eingesperrten Kameraden erst Ende Mai von der Besatzungsmacht aus dem Hamburger Untersuchungsgefängnis freigelassen wurden. Mehrere Verhandlungen waren dazu im Hauptquartier der Engländer nötig. Arthur Matschke, der bei diesen Gesprächen zugegen war und dabei auch über ihre Arbeit im Widerstand berichtet hatte, erzählt, wie einer der britischen Offiziere zu einem anderen sagte: ,That's oder our next Opponent!' (Das ist unser nächster Gegner!)" Was sollte jetzt mit den Nazis geschehen? Die Antifaschisten waren sich einig, daß die Nazis für ihre Verbrechen bestraft werden mußten. Dabei dachten viele naturgemäß zu nächst an den Nazi in ihrer eigenen Nachbarschaft, von dem sie zusammengeschlagen  bei der Gestapo denunziert wurden. Willy Voß aus Wilhelmsburg schildert eine sol ehe Situation: „Wir fühlten uns jetzt frei. Haben zusammen mit Kollegen, die wie ich unter den Nazis verhaftet waren, die Straßen inspiziert. Überall Trümmer und Schutt. Für uns war klar: Den Schutt müssen die Nazis wegschaufeln. Wir haben dann auch Schaufelaktionen veranstaltet. Wir hatten ja waschkörbeweise Unterlagen über die Nazis. Wir haben sie alle geholt, besonders die 150-prozentigen, auch die Geschäftsleute. Diese Schaufelaktionen wurden aber bald abgebrochen, weil die Geschäftsleute bald wieder gute Verbindungen zu den neuen Herren hergestellt hatten. Die kleinen Nazis, besonders die Arbeiter, haben dann mit Recht gefragt: Wieso müssen nur wir schaufeln, die großen nicht?"

Das Gebot der Stunde war jetzt, die Nazis aus dem politischen Leben unwiderruflich auszuschalten, die Hauptschuldigen herauszufinden und zu bestrafen und ein neues Staatswesen aufzubauen, das die Wiederkehr einer faschistischen Diktatur ein für allemal ausschloß. Hierzu hatten die Sozialdemokraten, Kommunisten, Christen und alle anderen Gegner Hitlers, die in die Emigration, die Konzentrationslager und in den Widerstand getrieben worden waren, zum Teil festumrissene Vorstellungen entwickelt. Sie trugen jetzt nach der Zerschlagung der Hitler-Diktatur ihre Früchte.

In den ersten Dokumenten der sich formierenden demokratischen Parteien wird einhellig von der Schuld maßgeblicher Kreise der Großindustrie an der Errichtung der Nazi-Diktatur gesprochen. In den Programmen dieser Parteien - von der KPD bis zum „Ahle-ner Programm" der CDU - fanden sich daher in dieser Zeit Forderungen, die Schlüsselindustrien in Gemeineigentum zu überführen. SPD und KPD bekannten sich in Erklärungen zu einer engen Zusammenarbeit, wenn nicht sogar zu einer Vereinigung dieser beiden Parteien - aus der Erkenntnis heraus, daß die Zerrissenheit der Arbeiterbewegung ein  wesentlicher Grund dafür war, daß die Nazi-Diktatur nicht verhindert wurde.

Bereits zwei Tage nach der Besetzung Hamburgs durch britische Truppen und drei Tage vor der bedingungslosen Kapitulation der Nazi-Wehrmacht trafen sich vor dem Hamburger Gewerkschaftshaus Arbeiter und Angestellte, die früher in den Freien Gewerkschaften, der SPD und KPD organisiert waren. Ziel war der Wiederaufbau der Gewerkschaftsarbeit Zwei Tage später wurde die Tätigkeit dieser „Sozialistischen Freien Gewerkschaft" von der Militärregierung erlaubt.

In den „Richtlinien" dieser Gewerkschaft, dem ersten Dokument gewerkschaftlich-politischer Tätigkeit in Hamburg nach der Niederlage der Naziherrschaft, liest man u.a.:

  • Verstaatlichung der wirtschaftlichen Schlüsselstellungen... Überführung des Großgrundbesitzes und Baulandes in öffentliches Eigentum
  • Förderung des Genossenschaftswesens in Industrie, Landwirtschaft und Handel
  • Ausrottung der Nazis, ihrer Ideologie und des Militarismus
  • Bestrafung aller Kriegsverbrechen
  • Friedenspolitik
  • Erziehung der Jugend zu den Idealen der Völkerverständigung, Menschenwürde und persönliche Freiheit."

*) Darunter befand sich u.a. Dr. Walter Stegemann, während des Krieges in führender Position bei Rhenania-Ossag, NSDAP-Mitglied (laut Hamburger Volkszeitung, 3.12.1947).
 

Editorische Anmerkungen

Der Text ist ein Auszug aus: Klaus-Dieter Brügmann, Margarete Dreibrodt, Hans- Joachim Meyer, Otto Nehring, DIE ANDEREN, Widerstand und Verfolgung in Harburg und Wilhelmsburg. Hrg. v. VVN - Bund der Antifaschisten Landesverband Hamburg, Hamburg 1981, S. 205ff

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