Ein anderer Blick auf den "8. Mai"
Vom Widerstand zur Befreiung

von
Peter Gingold
06/05

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Das folgende sind keine systematischen Aufzeichnungen eines Historikers, sondern die Erinnerungen und Erfahrungen eines engagierten Zeitgenossen.

Anlässlich des 60. Jahrestages der Landung in der Normandie zu der deutsch-französischen Begegnung von Staatspräsident Jacques Chirac und Bundeskanzler Gerhard Schröder am 6.Juni eingeladen, traf ich dort ehemalige Offiziere der Wehrmacht. Als ich ihnen sagte, ich vertrete hier die Deutschen, die an der Seite der Résistance kämpften, sagte einer von ihnen wörtlich: «Da haben sie ja gegen Deutschland gekämpft.» Ich entgegnete, wir haben beigetragen Frankreich von der Hitlerokkupation zu befreien, und zugleich war es für uns ein Kampf für Deutschland, um Deutschland von Hitler und den Krieg zu befreien. Da erwiderte er mir: «Wir wollten ja nicht befreit werden.» Ich hatte vergessen zu fragen, ob er heute noch genau so denkt.

Mir wurde erneut bewusst, dass damals tatsächlich für die große Mehrheit der deutschen Bevölkerung das Ende des Krieges nicht als Befreiung wahrgenommen wurde, sondern als Niederlage, besiegt zu sein, vor allem von den Russen. Der 8. Mai, wer hatte in Deutschland nicht aufgeatmet? Endlich Friede! Aber für wie viele war es die Befreiung? Doch fast nur für die Überlebenden des Widerstandes, der KZ, der Nazikerker, für die im Exil Lebenden. Schließlich für alle, die im aufrechten Gang blieben, sich dem hässlichen Braun nicht anpassten. Für die große Mehrheit der Bevölkerung war es Schmach, den Krieg verloren zu haben. Sie identifizierten sich so sehr mit der Niederlage des Nazireiches, als sei es ihre Niederlage. Darin liegt die eigentliche Tragik. Untergang? 1933 war der Untergang! Dessen war sich doch nur eine winzige Minderheit bewusst.

Ich erinnere mich, als zum 50. Jahrestag des 8. Mai ein ehemaliger Offizier der sowjetischen Armee beschrieb, wie die deutsche Bevölkerung im Unterschied zu der russischen diesen Tag wahrnimmt: «Für uns ist der 8. Mai eine Jungfrau im Frühlingsgewande, für die Deutschen eine trauernde Witwe im schwarzen Kleid.»

Nie werde ich vergessen, wie ich an diesem 8. Mai 1945 mit der Turiner Bevölkerung getanzt habe. An diesem Tag befand ich mich in Norditalien mit den Kameraden der Brigade Garibaldi, der ich seit März 1945 angehörte. Ich kam dorthin, als Frankreich befreit war, jedoch der Krieg weiter ging. Ich war beauftragt, mit italienischen Kameraden über die Alpen in das Piemont zu der Resistenza zu gelangen, um meine Erfahrungen aus der «Travail allemand» – Deutsche Arbeit – in der französischen Résistance dort einzubringen. Im Herbst 1940, gleich nach der Okkupation, hatten wir, zunächst mit einer ganz kleinen Gruppe der «Freien deutschen Jugend» (FDJ), 1936 in Paris gegründet, damit begonnen, Aufklärungsarbeit unter den Angehörigen der deutschen Besatzung zu leisten, zu ihnen Kontakte herzustellen, um Informationen zu beschaffen und, was ganz wichtig war, Soldaten herauszufinden, die gegen Hitler und den Krieg gesinnt sind, um sie zur Unterstützung der Résistance zu gewinnen. Wie hoffnungslos schien unser Unterfangen zu sein, wenn wir primitiv hergestellte Streuzettel mit kurzen Losungen gegen Hitler, gegen den Krieg, und mit der Aufforderung «Begeht keine Verbrechen gegen die französische Bevölkerung» über die Kasernenmauer warfen und in leerstehende Militär-LKW.

Daran musste ich denken in Turin am 8. Mai, längst durch den Aufstand der norditalienischen Bevölkerung befreit, als ich inmitten der jubelnden, tanzenden Menge, unter Mandolinenklängen das «Bella ciao», das «Avanti popolo», das «Bandera rossa» mitgesungen habe. Ich musste an die Kapitulation denken, im Juni 1940 in Frankreich. Ich befand mich in einem der Internierungslager, in die alle in Frankreich lebenden Deutschen kamen, da sich seit September 1939 Frankreich im Kriegzustand mit Deutschland befand. Es war nicht allzu schwer, aus dem Internierungslager in der Gegend von Nîmes herauszukommen. Ich bekam einen Kontakt mit Otto Niebergall in Toulouse. Ein deutscher Kommunist, als ehemaliger Abgeordneter im Saargebiet bekannt. Später war er der Chef der deutschen Gruppe in der Résistance. Es war die schier hoffnungsloseste Situation, in der unsere Begegnung im Juli in Toulouse stattfand. Die Hakenkreuzfahne flatterte auf dem Eiffelturm, in fast allen Hauptstädten Europas, das in Blitzkriegen erobert war. Eine Situation, in der fast alle Staatshäupter der Welt glaubte, sich mit Hitler arrangieren zu müssen, denn sein Endsieg sei sicher.

Aber Otto Niebergall sagte mir, was unsere Aufgabe in diesem jetzt von Deutschen besetzten Land sein müsste. Es wird Widerstand geben, und wir müssen an seiner Seite sein. Wir hätten die Aufgabe, die Besatzersoldaten aufzuklären, unter ihnen antifaschistisch Gesinnte für den Widerstand zu gewinnen. Auf die Dauer werden die Völker die Unterjochung nicht erdulden, sie werden aufstehen.

Mir kam es so vor, als würden wir am Strand eines tobenden Meeres nun versuchen, die Wellen aufzuhalten. Doch wir hatten damit begonnen, mit unserer kleinen Gruppe in Paris. Meine Frau sagte viele Jahre später, sie kann sich heute nicht vorstellen, damals mitgemacht zu haben: das Baby in der Wohnung, das just in den Tagen, als die Wehrmacht in Paris einmarschierte, zur Welt kam. Nicht einmal eine Schreibmaschine besaßen wir, keinen Abziehapparat. Aus einem Spielwarengeschäft beschafften wir uns einen Kinderdruckkasten. Auf Zigarettenpapier und Klebezettelchen stempelten wir kurze Losungen: «Nieder mit Hitler!» «Schluss mit dem Krieg»! Was bewirkten wir schon damals, mit solchen Zettelchen? Sie sind natürlich von den Wehrmachtsangehörigen gefunden und gelesen worden. Wahrscheinlich gab es kaum eine andere Reaktion, als dass sie sich an die Stirn tippten. Mit Hitler, mit dem Krieg Schluss machen? Jetzt wo sie vor dem Endsieg stehen, sie, die nun als Herren von Europa jeder eine herrliche Zukunft hatten! Das war die Situation, als außer einer winzig kleinen Minderheit die deutsche Bevölkerung mit frenetischer Begeisterung hinter dem Führer stand.

Kurz nach dem Überfall auf die Sowjetunion kam ich mit einem Soldaten ins Gespräch, dem ich erläutern musste, wieso ich als «Franzose» so gut deutsch sprach. Er sei ein Bauer und freue sich jetzt schon darauf, ein Gut in der Ukraine oder auf der Krim zu erhalten und er habe dann Russen unter sich, die für ihn arbeiten. Gab es doch kaum Zweifel, auch dieses riesige Land in einigen Monaten im Blitzkrieg zu besiegen.

Aber es änderte sich. Die Rückschläge und Verluste der Wehrmacht an der Ostfront, die Erfolge der sowjetischen Armee gaben den Widerstandsbewegungen in den okkupierten Ländern, die sich überall allmählich entwickelten, einen mächtigen Auftrieb, in dem Maße, in dem der Nimbus der Unbesiegbarkeit der deutschen Armee zerbröckelte, in dem Maße, in dem die Leiden unter den Okkupantenstiefeln zunahmen. In Frankreich besonders, als dieses Land mehr und mehr ausgeplündert wurde. Vor allem, als dann noch jeder im arbeitsfähigen Alter zur Arbeit nach Deutschland verpflichtet wurde, STO – Service travail obligatoire – da zogen es viele vor, ins Gebüsch zu gehen, auf französisch Maquis. Das war der Name für die bewaffneten Widerstandsgruppen in den schwer zugänglichen Gebieten, in den Alpen, den Pyrenäen, im Zentralmassiv, im Jura, den Vogesen, den Cevennen. Die Kämpfer hießen Maquisards. Da entfaltete sich die Résistance zu einer Massenbewegung. Da waren auch wir Deutschen an ihrer Seite nicht mehr eine kleine Gruppe. sondern schon mehrere Hunderte. Unsere Flugblätter und Zeitungen in deutscher Sprache erschienen nun in hoher Auflage, von den illegalen Druckereien der Résistance hergestellt und mit Hilfe der Partisanen auf abenteuerlichen Wegen zu den Angehörigen der Wehrmacht gebracht.

Da erst entstand eine ganz andere objektive Situation, um Soldaten und Offiziere zur Unterstützung der Résistance zu gewinnen. Nun war in ihnen die Angst, dass sie, die «wie Gott in Frankreich» lebten, an die Ostfront verlagert würden, auf die Schlachtfelder, in den Tod. Wenn einer von ihnen jetzt ein Flugblatt von uns in die Hände bekam, wurde er schon nachdenklich. Vielleicht lieferte er es nicht gleich seinen Vorgesetzten ab, sondern versteckte es bei sich. Denn darauf stand auf Deutsch, Französisch und Englisch: «Ausweis – Durch Vorzeigen dieser Zeitung erklärt sich der Träger dem alliierten Soldaten oder Mitglied der französischen Streitkräfte der inneren Front, dem er sich gefangen gibt, als Anhänger der Bewegung Freies Deutschland.»

Unsere Zeitung wurde zum Organ der «Bewegung Freies Deutschland für den Westen». Im Sommer 1943 war sie gegründet worden, eine Zusammenfassung von Hitlergegnern unterschiedlicher sozialer Herkunft und politisch-weltanschaulicher Richtung, darunter manch hoher Offizier. Ihre Hauptlosung war: Geordneter, bewaffneter Rückmarsch hinter die deutsche Reichsgrenze, Hitler stürzen, den Krieg beenden. Falls es wirklich soweit kommen sollte, gab es ein Abkommen mit der militärischen Leitung der Résistance, dieses nicht zu behindern, im Gegenteil, den Rückzug zu unterstützen.

Unsere Zeitungen gelangten auch in die Hände von Generaloberst Cäsar von Hofacker, im Befehlsstab der Wehrmacht in Paris. Von ihm kam der Wunsch nach einem Kontakt mit dem Komitee, mit dessen Losung er einverstanden war. Otto Niebergall führte die Gespräche mit ihm. Er war bereit diese Losung zu verwirklichen. Der Rückmarsch sollte das Signal zum Aufstand der deutschen Bevölkerung gegen Hitler sein. Monate vor dem 20. Juli traf er die Vorbereitungen, auch unabhängig vom 20. Juli und seinem Ausgang. An diesem Tag hatte er in Paris 1 200 Männer der Gestapo und SS verhaftet, am Abend sollte ein Standgericht stattfinden, um die Spitze der Gestapo zu erschießen. Die Gefängnisse sollten für alle politischen Gefangenen geöffnet werden. Vom Fehlschlag des 20. Juli, ließ sich Cäsar von Hofacker nicht beirren. Doch er blieb isoliert, von seinen Mitverschwörern feige im Stich gelassen.

Es war die Situation nach Stalingrad. Was hat es uns an Hoffnung und Kraft gegeben! Insbesondere durchzuhalten, als ich in diesen Wochen in den Händen der Gestapo war, schlimm gefoltert, das Todesurteil sicher. Doch ich konnte entkommen, als es mir gelang die Gestapo in eine Falle zu führen. Die Gewissheit nun: mit dem Aufstand, der Befreiung ging es voran! Mit der Eröffnung der zweiten Front, der Landung der Alliierten in der Normandie ging es dem entgegen. Der Befreiungskampf erfasste alle von den Hitlerarmeen eroberten Länder. Schließlich gehörten der Résistance in ganz Europa Millionen Freiheitskämpfer an, die im Verlauf des Krieges zu einer mächtigen Kraft wurden und eine große Bedeutung für die Antihitlerkoalition hatten, indem sie ihre Front verbreiterten und stabilisierten. Es war das Europa der Résistance, wie es «Le Combat», die illegale Zeitung der französischen Résistance, im Dezember 1943 beschrieben hat: «Vom Nordkap bis zur Pyrenäengrenze, von der Kanalküste bis zum Ägäischen Meer stehen Millionen Menschen, wie verschieden ihre Sitten und ihre Sprache auch sein mögen, in dem selben Kampf gegen denselben Feind, im Kampf der Freiheit gegen die Sklaverei, der Gerechtigkeit gegen das Unrecht, des Rechts gegen Gewalt. Wir sind Zeugen eines Wunders, das aus Blut und Tränen hervorgegangen ist. Es ist das Wunder des Widerstandes.» Zu ihm gehörte ebenbürtig der antifaschistische deutsche Widerstand.

Der direkte militärische Beitrag der Résistance zur Zerschmetterung der Wehrmacht des deutschen Faschismus war enorm. Über eine Million Soldaten und Offiziere der faschistischen Armeen sind außer Gefecht gesetzt worden. 25 000 Militärzüge wurden zum Entgleisen gebracht oder in die Luft gesprengt. Sie zerstörten ein nicht zu übersehendes Militärpotential. Die Truppenbewegungen der Hitlerwehrmacht in der Normandie waren tagelang unterbrochen, als es den Alliierten gelang, einen Landekopf zu erkämpfen. Das hat wesentlich dazu beigetragen, den Landekopf zu erweitern, den relativ schnellen Vormarsch der Alliierten zu ermöglichen. «Die französische Résistance hat mir 20 Divisionen erspart», erklärte später General Eisenhower, Kommandeur der alliierten Streitkräfte der Zweiten Front im Westen. Dies verschafft eine Vorstellung, wie viele Kräfte der Hitlerarmeen gebunden waren, welche Hilfe es für die Streitkräfte der Antihitlerkoalition war. In 17 Ländern entfaltete sich die Befreiungsbewegung. An allen haben auch Deutsche teilgenommen, ihr größter Anteil wohl in der französischen Résistance, in der der Internationalismus lebte. In ihr kämpften Polen, Österreicher, Tschechoslowaken, Spanier, Italiener, Ungarn, Armenier, Rumänen, Jugoslawen, Russen.

Aber wie lange noch bis zur endgültigen Niederlage des Nazireiches? Wie viel Opfer wird es noch kosten? Vor allem als mehr und mehr durchdrang über Auschwitz, die Gaskammern. Mein Bruder, meine Schwester, fast alle meine Verwandten mit Zehntausenden der jüdischen Bevölkerung in Frankreich aus ihren Wohnungen gerissen, ins Sammellager nach Drancy – einem Vorort von Paris – gebracht. Von dort in Viehwaggons nach Osten. Vielleicht auch nach Auschwitz, in die Gaskammer? Kann man sich vorstellen, wie wir die rasche, endgültige Niederlage des Hitlerreiches ersehnten? Was es für uns damals bedeutete, wenn BBC London und Radio Moskau an den Fronten Siege meldeten! Als BBC London, tatsächlich die Meldung brachte: «Im Morgengrauen sind an die französischen Kanalküste amerikanische, englische und kanadische Truppen gelandet und haben erfolgreich mehrere Landeköpfe gebildet» – was war das für ein Aufatmen. Das Kriegende naht! Und dann der Vormarsch der alliierten Truppen in Richtung Paris und die sowjetischen Armeen schon in Polen, der preußischen Grenze sich nähernd. Wir waren gewiss, bald kommt das Signal zum Aufstand! Tatsächlich Mitte August 1944 das Signal, der Aufstand begonnen mit dem Streik der Pariser Polizei. Otto Niebergall hatte Kontakt mit dem Kommandostab des Aufstandes, unterirdisch im Gare Montparnasse. Unser Appell an die Deutschen, sich zu ergeben, ging über Radio Paris. Wir waren etwa 100 Deutsche beim Aufstand in Paris, beauftragt, mit weißer Fahne als Parlamentäre zu den Eingekesselten zu gelangen, um sie zur Aufgabe zu überreden, und um die vorbereiteten Sprengungen zu verhindern. Wir gaben uns als Franzosen und Beauftragte der FFI, der Force Francaise Interieur (Französische Innere Streitkräfte) aus, waren aber auch der Gefahr ausgesetzt, als Deutsche erkannt und erschossen zu werden. Die Offiziere lehnten jegliche Verhandlungen mit uns ab, sie hofften noch auf Unterstützung von deutschen Streitkräfte auf dem Wege nach Paris. Ergeben würden sie sich allenfalls den Amerikanern, nicht den Franzosen.

Tage darauf stand ich inmitten von zwei Millionen glückstrahlenden, sich gegenseitig umarmenden jubelnden Menschen, «Paris libre!», «Paris frei!» Es war das erhabenste Erlebnis in meinem Leben. Hätte es doch auch in Deutschland ein solches Erlebnis gegeben! Lange Zeit hatten wir im Widerstand davon geträumt. Es war unsere Vision, der Krieg könnte so enden, wie der erste Weltkrieg, mit dem Aufstand der deutschen Bevölkerung, so ähnlich wie die Novemberrevolution. Aber es war auch der Alptraum der deutschen Kapitalmächte, der eigentlichen Verursacher und Nutznießer des Nazifaschismus, die ja 1918 vor dem Abgrund standen. So darf dieser Krieg nicht enden!

Wie wäre die gesamte Nachkriegsgeschichte anders verlaufen, wenn der Krieg mit eigner Kraft beendet worden wäre! Das mussten die anderen Völker herbeiführen, das sowjetische Volk hat es allein mit dem Opfer von 25 Millionen seiner Menschen bezahlt. Kein Zorn entlud sich in der deutschen Bevölkerung gegen die Hauptverantwortlichen des grausamsten Krieges in der Weltgeschichte, die so viel an Not und Tod, an Verwüstung und Vernichtung über ganz Europa, wie auch über das eigne Land brachten. Nicht die deutsche Bevölkerung richtete die bestialischen Verbrecher aus ihrer Mitte. Nein es gab gegen sie keine Erbitterung, vielmehr Mitleid mit den Verurteilten in den Kriegsverbrecherprozessen der alliierten Militärgerichte.

Dies erklärt vieles über den reibungslosen Übergang vom Dritten Reich in die Bundesrepublik, in der ehemalige hohe NS-Funktionäre alles werden konnten: Bundespräsident, Bundeskanzler, Ministerpräsident, unter Adenauer der Erste Staatssekretär Dr. Hans Globke, der die juristische Grundlage für die Rassengesetze geliefert hatte. In führenden Stellungen organisierten sie das Verschweigen der Nazivergangenheit. Eine Nachkriegsgeneration wuchs auf, die weder in der Schule noch von ihren Eltern darüber etwas erfahren hatte. Vor allem natürlich nichts über den Widerstand. Wohl viele Jahre später über den 20. Juli, vielleicht noch über die Weiße Rose der Geschwister Scholl. Bis heute vollkommen ausgeblendet der Widerstand der Zehntausenden Frauen und Männer, zumeist aus der Arbeiterbewegung, an dem die Kommunisten den Hauptanteil hatten. Ins Bewusstsein darf das nicht dringen, sonst wäre ja dem Antikommunismus der Boden entzogen. Von dem von Hitler propagierten, mit Antisemitismus verknüpften Antikommunismus war bis auf das Jüdische alles übernommen, es blieb «die bolschewistische Gefahr». Offiziell schämte man sich des Antisemitismus, aber mit der «Gefahr aus dem Osten», war die Restauration, die Wiederaufrüstung begründet.

In meiner Erinnerung lebt die Rückkehr nach Deutschland, in die Trümmerlandschaft meiner Heimatstadt, Frankfurt am Main, gleich nach der Befreiung. Im Unterschied zu den damals Regierenden in der Ostzone gab von hieraus keinen Aufruf an die ins Ausland Vertriebenen und Geflüchteten zurückzukehren. Ich spürte wie ich in meiner Umgebung unwillkommen war. Im Wiedersehen mit den Überlebenden des Widerstandes, aus dem Kommunistischen Jugendverband, aus der Gewerkschaftsjugend, fielen wir uns in die Arme, und konnten uns nicht genug gegenseitig ausfragen, was jeder durchlebt hatte. In der Bevölkerung meiner Umgebung spürte ich Eiseskälte, niemand wurde ich gefragt, was meiner Familie geschah, wie ich überlebte; aber sie erzählten mir, was sie gelitten hatten, wenn wir überhaupt ins Gespräch kamen. Vor allem hörte ich immer wieder, dass sie von nichts gewusst hatten. Das war so symptomatisch in den ersten Jahren der Nachkriegszeit, dieses allgemeine «Nichts gewusst haben» und das Schweigen über die Vergangenheit. Wohl sagte es mir keiner ins Gesicht, aber ich spürte es, sie hätten eher gewünscht dass wir endgültig verschwunden wären, sahen sie doch in den Überlebenden aus den KZ, den Kerkern, aus dem Exil so etwas wie Ankläger, die ein schlechtes Gewissen weckten, wenn es überhaupt eins gab. Galten doch wir ja alle, die auf der anderen Seite kämpften, als Landesverräter.

Aber welch eine Hoffnung, was sich nun verändert hat. Heute kann ich gegenüber der Jugend alles sagen, auch wer in Wirklichkeit Landesverrat beging: Alle, die sich an den Verbrechen des Hitlerregimes beteiligten, die sich willfährig hierfür zu Verfügung stellten. Eigentlich müsste ich sagen, wer keinen Widerstand leistete, beging Landesverrat. Aber soweit will ich nicht gehen. Doch gegenüber den Jugendlichen füge ich hinzu: Deinem Großvater, der in der Hitlerarmee kämpfte, würde ich nie einen Vorwurf machen, war er doch zwangsweise eingezogen. Er war damals jung, hat vielleicht mit Begeisterung gekämpft, wirklich geglaubt, «Volk und Vaterland» gegen den drohenden Feind, den jüdischen Bolschewismus zu verteidigen, sich selbst als Patriot gesehen. Das würde ich ihm nie vorwerfen. Mir hätte dasselbe passieren können, wenn ich anders beeinflusst aufgewachsen wäre. Aber dafür gibt es keine Entschuldigung, wenn er heute, nach sechs Jahrzehnten, nicht weiß, dass er mit seinen damaligen «vaterländischen» Gefühlen für einen verbrecherischen Krieg missbraucht worden ist.

Editorische Anmerkungen

Der Text ist eine Spiegelung von
http://marxblaetter.placerouge.org/2005/05-2-33.html