Sonntagabend, 22 Uhr: In
den beiden Großstädten Paris und Lyon
schließen endlich auch die Wahllokale, während im übrigen Frankreich
schon
seit zwei Stunden ausgezählt wird. Im Espace Confluences, einem
Programmkino
und Veranstaltungsort, ist heute abend das Hauptquartier des linken
Flügels
der Sozialisten, der zur Ablehnung des EU-Verfassungsvertrags
aufgerufen
hat. Punkt 22 Uhr flimmert das vorläufige Ergebnis über die
Fernsehbildschirme: Über 55 Prozent für das Non. Sofort brechen die
oft
jugendlichen Anhänger in Sprechchöre aus: "Et maintenant, l¹Europe
sociale!"
- Und jetzt das sozialpolitische Europa.
Wenig später beginnt auf der Place de
la Bastille, die radikalere Linke
zusammen zu strömen. Wegen des nasskalten Wetters und der späten
Bekanntgabe
der Ergebnisse bleibt die Menge mit rund 2.000 Menschen
überschaubar, aber
strahlt dennoch Power aus. Zahlreiche Fahnen sind zu sehen: Zwar
auch drei
oder vier französische Tricoloren, die von Anhängern des
linksnationalistischen Ex-Innenministers Jean-Pierre Chevènement
getragen
werden. Aber dominierend ist Rot: Die roten Fahnen mit dem
Schriftzug der
LCR, die rot-schwarzen der libertär-kommunistischen AL (Alternative
libertaire), rote und weiße Banner von Attac. Auch einzelne
Gewerkschaftsfahnen, etwa der Lehrergewerkschaft FSU, und Aufkleber
der CGT
werden sichtbar. Gegen Mitte des Abends stimmt die Versammlung
nein, nicht
die Marseillaise, sondern die Internationale an. Am Mikrophon
wechseln sich
die RednerInnen der verschiedenen Linkskräfte (diesseits der
Sozialdemokratie) ab, im Wesentlichen dieselben wie beim "Kundgebungs-Fest
für das Non" am vorletzten Samstag, 21. Mai in Paris: Annick Coupé
für die
SUD-Gewerkschaften, Yves Salesse von der Fondation Copernic
(Kopernikus-Stiftung), Pauline Salingue als Sprecherin der
Koordination des
OberschülerInnen-Streiks dieses Frühjahrs, KP-Chefin Marie-George
Buffet,
Olivier Besancenot von der LCR, zwei Sprecherinnen der "Coordination
féministe pour le Non".
Gefordert werden eine Initiative für
eine Neuverhandlung eines europäischen
Verfassungsvertrags mit sozialen Rechten und ohne das
wirtschaftsliberale
Kapitel III, das derzeit 330 der 448 Artikel umfasst; der sofortige
Rückzug
der Bolkestein-Richtlinie anstatt ihrer bloßen Umformulierung; der
Rückzug
der am 11. Mai verabschiedeten Arbeitszeit-Richtlinie dr EU, die
wöchentliche Arbeitszeiten bis zu einer Obergrenze von 65 Stunden
zulässt;
die Definition unionsweiter Rechte für die in einem EU-Land
niedergelassenen
Immigranten und die europaweite "Legalisierung" des
Aufenthaltsrechts aller
Sans papiers ("illegalisierter" Einwanderer).
Kein chauvinistisches Nein, keine
"Grande Nation"
Nein, das hier vertretene NON ist
kein nationalistisches, chauvinistisches,
rassistisches NON. Die Le Pens, Vater und Tochter (Jean-Marie und
Marine),
und der rechte Graf Philippe de Villiers melden sich zwar auch in
den
Fernsehstudios zu Wort. Aber keiner ihrer Anhänger lässt sich auf
der Straße
blicken. Am Wochenende war etwa in den bevölkerungsreicheren Pariser
Stadtteilen dem 18., 19. und 20. Arrondissement als den
verbliebenen
"Kleine Leute"-Bezirken der französischen Hauptstadt
festzustellen, dass
die Werbung von Le Pen und de Villiers für das "Nein von Rechts" auf
den
Plakatständern systematisch überklebt worden war. Und zwar von
Verteidigern
des "Nein von links". Vor meiner Haustür überklebt etwa der "Appell
der
200", der durch den linken Think Tank der Kopernikus-Stiftung
lanciert
worden war, alle FN-Plakate. Eine Ecke weiter sind es Plakate der
LCR und
der Fondation Copernic ("Contre la constitution libérale"), unter
denen die
Faschistenplakate unsichtbar werden.
Im Übrigen gehört es zu den guten
Nachrichten dieses Abstimmungssonntags,
dass der Triumph des NON schlussendlich wirklich nicht an den Le
Pen-Anhängern hing. Der rechtsextreme Front National, der zur Zeit
die
schwerste Krise seiner Geschichte durchquert, aufgrund des
absehbaren
altersbedingten Abgangs seines Chefs und Übervaters, liegt derzeit
in der
allgemeinen Gunst der Franzosen bei circa 9 Prozent. (Das wäre 1
Prozent
weniger als bei den letzten Europaparlamentswahlen im Juni 2004).
Der
Abstand zwischen dem NON und dem OUI bei der Abstimmung beträgt aber
zwischen 10 und 11 Prozent. Demnach hätten die Kritiker des
Verfassungsvertrags auch dann noch die Abstimmung gewonnen, wenn am
Sonntag
alle Le Pen-Anhänger durch eine rätselhafte Krankheit befallen
worden wären
und mit einer plötzlichen Lähmung hätten zu Hause bleiben müssen.
Man möge also aufhören, uns mit Le
Pen die Ohren voll zu plärren, wie dies
in zahlreichen bürgerlichen Medien auch am Montag morgen noch
tendenziell
der Fall war. Bis zur letzten Minute hatte der rechte Flügel der
Sozialdemokratie seinen Wahlkampf darauf ausgerichtet: Während
theoretisch
am Tag der Abstimmung selbst jede politische Werbung verboten ist,
hatten
Parteigänger der Mehrheitssozialdemokratie noch in der Nacht oder am
frühen
Sonntag morgen vor Metrostationen und auf Wochenmärkten Handzettel
auf dem
Boden verstreut. Darin wurden "die Linkswähler" eindringlich vor
einer
"Wiederholung des 21. April 2002" gewarnt, also des Wahltriumphs von
Le Pen
bei der letzten Präsidentschaftswahl. Man nenne es die Kunst,
dauernd von
etwas (im konkreten Falle) nicht Ausschlaggebendem zu reden, um vom
wirklich
Ausschlaggebenden der Kritik an der Sozial- und
Wirtschaftspolitik, die
durch den Verfassungsvertrag auf Dauer festgegossen werden sollte
nicht
sprechen zu müssen.
Diese hohe Kunst beherrschten
natürlich auch die deutschen Medien,
beispielsweise die Spätausgabe der ARD-Tagesschau (soweit sie im
Internet zu
verfolgen war), in denen zwar von Le Pen und dem ansonsten in
Deutschland
eher unbekannten de Villiers die Rede war, aber kein Wörtchen vom
Inhalt der
vorwiegend linken Kritik am Verfassungsvertrag zu hören war.
Ach ja, und bitte!, hören wir nicht
mehr länger auf einen groben Unsinn: Die
ständige ironische Beschwörung der "Grande Nation". Dieser Terminus
stammt
aus der Napoléon-Ära und wird seit Jahrzehnten in Frankreich
überhaupt nicht
mehr verwendet. Nicht einmal Jean-Marie Le Pen bemüht den Begriff
von der
"Grande Nation", da er sich damit ausschließlich der Lächerlichkeit
preisgeben würde. Diesen Begriff gibt es derzeit nur im Munde
deutscher
bürgerlicher Ideologen, die damit das Nein der widerspenstigen
Franzosen auf
einen nationalen Partikularismus zurückführen möchten. In
deutschsprachigen
Ländern taucht er im Moment häufig auf, um das Abstimmungsergebnis
vermeintlich zu erklären oder zu kommentieren (der Wiener ’StandardŒ
schreibt beispielsweise: "Das Non der Grande Nation zeugt nicht von
Größe").
Mögen diese Schlaumeier doch bitte ihren Unfug bei sich behalten,
anstatt
die Luft mit ihrem intellektuellen Dünnpfiff zu verpesten. Wer keine
Ahnung
hat, soll lieber schweigen.
Soziale Polarisierung: Ein
Klassenvotum
Und noch eine Sache steht fest: Das
Abstimmungsergebnis vom Sonntag geht auf
eine soziale Polarisierung, auf ein klares Klassenvotum zurück. 81
Prozent
der Industriearbeiter und 79 Prozent der Erwerbslosen stimmten gegen
die
Annahme des Verfassungsvertrag, hingegen votierten vier Fünftel der
höheren
und leitenden Angestellten mit "Ja".
Wenn in der, von ihren "kleinen
Leuten" größerenteils (aufgrund der
Mietpreisentwicklung) "gesäuberten" Hauptstadt Paris 66 Prozent der
WählerInnen mit "Ja" stimmen und in den nördlich angrenzenden
Trabantenstädten weit über 60 Prozent mit "Nein", ist dies ein
deutliches
Signal. So stimmten in der KP-regierten Bezirkshauptstadt des
nördlich an
Paris angrenzen Départements Seine-Saint-Denis, in Bobigny, 72
Prozent mit
Nein. In diese Banlieue-Zone hat Paris in den letzten drei
Jahrzehnten einen
Großteil seiner armen Familien, "kleinen Leute" und Lohnabhängigen ,
die
sich nur hier noch eine Wohnung leisten können, abgeschoben.
Mehrheitlich mit "Ja" stimmten nur
die traditionell durch eine
christdemokratische und "pro-europäische" politische Tradition
geprägten
Regionen Bretagne und Elsass (62,9 Prozent in Strasbourg). Die
dritte von
insgesamt 22 französischen Regionen auf dem Kontinent, die mit
knapper
Mehrheit mit "Ja" stimmte, war die Region Ile-de-France (rund um die
französische Hauptstadt). Aber dies nur dank des mehrheitlichen
Pro-Verfassungsvertrag-Votums der Hauptstadt Paris zählt 2,1
Millionen
Einwohner, der Ballungsraum insgesamt 8 bis 9 Millionen sowie des
bürgerlich-wohlhabenden Nachbarbezirks rund um Versailles. Dagegen
stimmten
die übrigen Vororte und Trabentenstädte von Paris größtenteils mit
deutlichen Mehrheiten für das "Nein" (siehe oben).
Alle anderen der 22 französischen
Regionen auf dem Kontinent stimmten mit
"Non". Anders sieht es in den Überseeterritorien wie den
Antilleninseln und
Guyana aus, wo das "Ja" über 60 Prozent erhielt. Aber diese
Einheiten hängen
wirtschaftlich heute weitgehend von Transferzahlungen der
"Metropole" ab,
und Chirac persönlich hatte ihneen signalisiert, dass sie auf keinen
Fall
falsch abstimmen sollten.
Mit "Oui" stimmten frankreichweit
vorwiegend die bürgerlichen Innenstädte.
Aus ähnlichen Gründen wie Paris stimmte Lyon, wo ebenfalls das
Banlieue-Phänomen existiert, für das "Ja". Dagegen stimmte die
drittgrößte
Stadt des Landes, Marseille, die noch weitaus eher eine
Kleine-Leute-Metropole geblieben ist, zu 63 Prozent mit Nein.
Die letzte französische Stadt mit
über 100.000 Einwohnern, die durch die KP
regiert wird, das nordfranzösische Calais, stimmte mit 74 Prozent
für das
"Non".
Ein "Nein" wogegen?
Sicherlich sind europapolitische
Entscheidungen komplexer Natur, da
unterschiedliche, ja gegensätzliche Motive sich in einer gemeinsamen
Ablehnung oder Zustimmung bündeln können und dies nicht nur in
Frankreich.
Man kann die politische Grundkonstellation als eine Art
Koordinatenkreuz
darstellen: Auf der einen Achse steht "Mehr nationale Souveränität
oder
mehr europäische Integration". Auf dieser Ebene ist die Opposition
von
rechts gegen das supranationale Europa, oder "zu viel" davon,
angesiedelt.
Der CSU-Abgeordnete Peter Gauweiler steht ebenso für eine solcherart
motivierte Ablehnung wie die britische United Kingdom Independance
Party
(UKIP), die bei zu den Gewinnern der letzten Europaparlamentswahlen
zählte,
oder die Franzosen Jean-Marie Le Pen und Philippe de Villiers.
Doch zu einem richtigen
Koordinatenkreuz gehört noch eine zweite Achse, die
quer zur anderen liegt, und auf der steht: "Wirtschaftsliberales
oder
soziales Europa". Es ist diese Dimension, die am Sonntag
abstimmungsentscheidend war. Die Anhänger der Rückkehr zur
nationalstaatlichen Souveränität erschienen im zurückliegenden
Wahlkampf
vorwiegend als Vertreter eines Anachronismus. Sie schlugen vor, in
einen Zug
einzusteigen, der längst nicht mehr auf dem Fahrplan steht: Seit dem
Euro
gibt es keine nationale Währungspolitik mehr, die Osterweiterung der
EU wird
auch durch das Ergebnis des Volksentscheids vom Sonntag nicht
rückgängig
gemacht werden. Tatsächlich drehte sich die Debatte der letzten
Woche kaum
darum, ob man einen Schritt hinter diese Entwicklung zurück machen
möchte -
sondern vor allem darum, was man mit dem politischen Raum jetzt
anfangen
will, der in großen Teilen des Kontinents entstanden ist.
Was der "Verfassung" genannte
Staatsvertrag dazu vorschlug, konnte die
Mehrheit der französischen Wähler nicht befriedigen. Soziale
Probleme und
individuelle politische Rechte sollen weiterhin den Nationalstaaten
überlassen bleiben, und nur der Markt und die Konkurrenz sollten die
Bevölkerungen der EU miteinander verbinden: In seinem Artikel 210-2
schloss
der Verfassungsvertrag explizit eine Angleichung der
sozialpolitischen
Gesetzgebung der verschiedenen EU-Länder aus, eine "Harmonisierung"
auf
diesem Gebiet soll allein einer vermeintlichen spontanen Entwicklung
der
Gesetzgebungen auf jeweils nationaler Ebene überlassen bleiben. Und
bei den
Bürgerrechten bringt der Vertrag denen, die beispielsweise noch
immer kein
Recht auf Ehescheidung oder Abtreibung haben in Polen, Portugal,
Irland
oder Malta keinerlei Fortschritt. Gesellschafts- und Sozialpolitik
im
nationalen Rahmen, überwölbt von einem transnationalen Markt: Nein,
dieses
Europa wollten die Franzosen mehrheitlich nicht.
Jetzt liegt es an uns....!
Und auch andernorts träumen Menschen
von etwas Anderem, wenn sie an
grenzüberschreitende Solidarität denken. Spät in der Wahlnacht rief
der
Österreicher Leo Grabriel vom Austrian Social Forum auf der Place de
la
Bastille aus: "Merci, La France!" Und informierte das versammelte
Publikum
der radikalen Linken darüber, dass am selben Abend spontan Menschen
in Wien,
in Berlin oder in belgischen Städten auf die Straße gingen und vor
die
französischen Botschaften zogen, um das Non zu feiern. Zahlreiche
Linke,
Gewerkschafter und Attac-Menschen aus anderen EU-Ländern waren zuvor
nach
Frankreich gekommen, um zu sagen: "Euer Nein ist unser aller Nein".
Daran gilt es jetzt anzuknüpfen, wenn
das Ereignis vom Sonntag nicht auf
einen kurzatmigen Wahltagstriumph beschränkt bleiben soll. Die
britische
Ratspräsidentschaft der EU im zweiten Halbjahr 2005 wird zweifellos
versuchen, eine andere Lehre aus dem Nein zu ziehen: Zu viel
politische
Integration ist ohnehin schädlich, beschränken wir die Union auf
einen
großen Markt, dann geht es auch ohne "Verfassung". Dem gilt es
entgegen zu
steuern.
Das Votum vom Sonntag ist auch
Ausdruck einer ungebetenen "Einmischung" in
die "große Politik": Die Stimmbeteiligung war vor allem auch in
Arbeiter-
und Unterschichtsbezirken so hoch wie seit 20 Jahren bei fast keiner
Wahl,
und vor allem bei keiner Europaparlamentswahl. Das Europathema
sollte den
vermeintlichen Experten überlassen bleiben, die für Nichtjuristen
schwer
lesbare Verfassungstexte entwerfen oder exegieren können, die
Debatte in den
bürgerlichen Medien monopolisierten und alle Einwände auf den Nenner
des
Rechtspopulismus zu bringen versuchten. Am Sonntag wurden sie Lügen
gestraft. Aber diese Einmischung muss andauern, und nicht nur in
Frankreich.
Die Ausgangsbedingungen für soziale Widerstände haben sich
verbessert, aber
jetzt müssen sie genutzt werden.
Editorische
Anmerkungen
Der Text wurde uns
vom Autor am 31.5.2005 zur Verfügung gestellt. Er ist eine
Überarbeitung der
Erstveröffentlichung vom1.Juni 2005 in der "Jungle World"
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