Aneignung
Anmerkungen zu einem ambivalenten Konzept

von ASWW der BUKO und arranca!-Redaktion
06/04

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Inwieweit taugt der Begriff „Aneignung“ als analytische Kategorie, inwieweit als politisches Konzept? Wie müsste er gefüllt werden, um für eine emanzipatorische Praxis brauchbar zu sein? In vier Punkten wollen wir – die Redaktion arranca! Und der Arbeitsschwerpunkt Weltwirtschaft (ASWW) der BUKO – die Ambivalenzen des Begriffs herausarbeiten.

Unter Rot-Grün scheint sich ganz Deutschland immer weiter in einen neoliberalen Rausch hineinzusteigern: Flexibilisierung, Privatisierung, Eliteuniversitäten – Konzepte wie diese prägen nicht nur die staatliche Politik, sondern haben sich auch fest in den Köpfen verankert. Sie gelten als unausweichlich, unabwendbar, und insofern sind sie gleichsam »natürlich«. So viel zur Zustandsbeschreibung.

Hoffnungsfroh stimmt nun, dass in jüngster Zeit diverse Gruppen und Initiativen der Linken mit praktischen Aktionen – siehe die Umsonst-Kampagnen in mehreren deutschen Städten – Anzeichen von Bewegung zeigen. Auch auf theoretischer Ebene werden vermehrt alternative Konzepte zur neoliberalen Gesellschaftsumformierung diskutiert (links-netz, Komitee für Grundrechte und Demokratie). Nicht selten wird dabei der Begriff der Aneignung verwendet – und mit unterschiedlichen Bedeutungen gefüllt: Aneignung bezeichnet sowohl ein theoretisches Konzept (Synonym für Verstehensprozess, intellektuelle Einverleibung), als auch eine konkrete Praxis des Sich-Nehmens. Es geht um Handlungen von Menschen, die ihre Umgebung bewusst gestalten und dabei auch über unpraktische Besitzverhältnisse stolpern.

Aneignung oder Enteignung?

Der Aneignungs-Begriff ruft völlig unterschiedliche Assoziationen hervor. Diese bewegen sich zwischen zwei Polen: einem positiven Verständnis des Begriffs als Selbstermächtigung, als offensive und von unten kommende Bewegung des Sich-Nehmens und einem negativen, als eine täglich sich wiederholende und zudem in immer mehr Lebensbereiche vordringende »Aneignung von oben«. Die unterschiedlichen Assoziationen verweisen auf analytische Differenzen, die für den politischen Gebrauch des Begriffs von entscheidender Bedeutung sind. In den Diskussionen, aus denen dieser Artikel entstand, haben wir die Stärken und Schwächen des Begriffs Aneignung denen des Begriffs Enteignung gegenüber gestellt. Das Resultat war uneindeutig (wie auch sonst).

Aneignung ruft positive Assoziationen hervor, wo eine aktive, emanzipatorische Praxis neben herrschenden Verhaltensweisen gemeint ist, die etwas Neues aufbauen will. Enteignung hingegen weckt Assoziationen mit zunächst nur passiven, reaktiven Mustern oder staatlichen Entscheidungen wie z.B. die Enteignung von Land für den Straßenbau oder die Verstaatlichung von Betrieben. Enteignung schöpft also scheinbar nichts Neues. Solche Diskussionen sind insofern abstrakt, als dass sie von den Begebenheiten absehen, unter denen die Begriffe zur Geltung kommen. Beides, sowohl Aneignung als auch Enteignung, kann sowohl »von oben« als auch »von unten« stattfinden, sowohl von staatlichen als auch von nicht-staatlichen, von individuellen oder kollektiven Akteuren vorgenommen werden, die Handlungsspielräume von Machtunterworfenen erweitern oder auch verengen. Demnach müssen sowohl Subjekt und Adressat als auch die Ziele von Aneignungs- oder Enteignungshandlungen benannt werden, um die Begriffe sinnvoll verwenden zu können. Ein Beispiel: Sind die Fabrikbesetzungen in Argentinien ein Akt der Aneignung, weil sich die ArbeiterInnen dort der Produktionsmittel bemächtigt haben? Oder handelt es sich vielmehr um Enteignung, weil diese Produktionsmittel dem vorherigen Eigentümer genommen wurden? Wohl müssen in diesem Fall Enteignung und Aneignung einhergehen, um im engen Rahmen einer Kachelfabrik etwas Neues zu schaffen. Ein anderes Beispiel: Handelt eine Kommune, die ein Grundstück und die darauf stehenden Gebäude kauft, um andere Lebens- und Arbeitsweisen auszuprobieren, nicht aneignend, weil sie zuvor niemanden enteignet hat? In beiden Fällen spielt eine weitere Komponente eine Rolle: Wie verhält sich die in ArbeiterInnenhand befindende Fabrik zum Markt und wie die Kommune zum Rest der Gesellschaft? Kann das Eiland der Freiheit im Meer der Zwänge erreicht werden (funktioniert es?), und ist ein solches Inselleben überhaupt wünschenswert (wollen wir das?)? Sicherlich können kollektive Produktions- und Lebensformen nicht ohne einen gewissen Realitätsverlust als Vorgriff auf eine bessere Welt gedeutet werden: Nach wie vor bezieht die Fabrik ihre Rohstoffe über einen, produziert sie ihre Kacheln für einen kapitalistischen Markt. Die Autonomie in der Fabrik steht der Heteronomie(1) auf dem Markt gegenüber. Im Falle einer vom Rest der Gesellschaft abgeschiedenen Insel der Glückseeligkeit politisch hilfreich: Aneignung als gelungener Rückzug ändert nichts.

Es geht also nicht darum, das Richtige im Falschen zu tun, sondern vielmehr, das Andere im und antagonistisch zum Falschen zu versuchen. Eine andere Aneignung zu praktizieren, ist dabei alles andere als bequem, Konflikte sind vorprogrammiert. Denn eine andere Aneignung richtet sich oftmals gegen die bestehende, die in den Strukturen, Institutionen und auch Köpfen der Menschen verankert ist.

Individuelle oder kollektive, private oder öffentliche Aneignung?

Was kommt nach der Enteignung? Bleibt etwas (Privat-)Eigentum? Wem gehört das Angeeignete? Wie wird es genutzt: privat – öffentlich –ganz anders? Soll Naturraum von jemandem besessen werden?

Es gibt eine Vielzahl von Strategien, sich den Zumutungen des neoliberal geprägten Alltags zu widersetzen. Viele von ihnen sind individuell und unsichtbar. Das gilt für das Fahren zum Nulltarif, für das Klauen im Supermarkt oder für das Herunterladen von CDs. Im Einzelfall wird man sich schnell darüber verständigen können, ob eine konkrete individuelle Aneignungspraxis progressiv ist oder nicht.

Schwieriger ist es zu sagen, ab wann es sich um eine politische Form der Aneignung handelt: Ist das Fahren zum Nulltarif politisch, weil es eine – den Handelnden selbst oft unbewusste und daher implizite – Kritik neoliberaler Sparpolitik darstellt, die den Zugang zu öffentlichen Gütern verteuert? Oder handelt es sich um eine bloße Strategie privater Haushaltssanierung, die erst dann politisch wird, wenn sie – wie von den Umsonst-Kampagnen – kollektiv und öffentlich praktiziert wird? Wie verhält es sich mit den alltäglichen Widerstandspraktiken von MigrantInnen? Sind sie per se politisch, weil ihnen die Kritik an einem politischen System immanent ist, das die Inanspruchnahme von sozialen und politischen Rechten von der Herkunft abhängig macht? Oder werden sie erst durch explizite Forderung nach Legalisierung, wie sie derzeit in der Legalisierungskampagne erhoben wird, politisiert?

Vermutlich lässt sich relativ leicht ein Konsens darüber herstellen, dass nicht jede Regelverletzung politisch ist oder sein muss, um »gut« zu sein. Oftmals sind sie schlicht notwendig. Solche individuellen oder kollektiven Überlebensstrategien entlang der Unterscheidung »politisch-unpolitisch« moralisch mit gut oder schlecht zu bewerten, können sich einige leisten, andere nicht.

Umgekehrt gibt es eine Vielzahl von politischen Handlungen, die nicht mit Regelverletzungen einhergehen. Wenn die BUKO ihren jährlichen Kongress veranstaltet, ist das keine Regelverletzung. Aber es ist trotzdem eine politische Handlung, nämlich insofern, als mit dem Kongress Räume geschaffen oder angeeignet werden, in denen das Bestehende kritisiert und transzendiert werden kann. Zentral für die Bestimmung der »politischen Qualität« von Aneignung erscheint uns das Moment des Nicht-Integrierbaren. Dieses steckt in vielen individuellen Widerstandspraktiken, entfaltet sich aber nicht automatisch. Es ist somit immer davon bedroht, seinerseits exklusiv zu bleiben und nicht von Dauer zu sein. Aneignungspraktiken tragen auch immer das Potenzial in sich, als Strategien der Selbstermächtigung für neoliberale Konzepte passfähig zu sein oder gemacht zu werden, wie z.B. manche Forderungen der neuen Frauenbewegung heute in Unternehmenskonzepten und (Selbst-)Managementstrategien ihren selbstverständlichen und höchst funktionalen Platz haben. Dies zu verhindern, erfordert Öffent-lichkeit und kollektives Handeln. Leitlinie dabei muss sein, einen Zustand zu beenden, in dem Herkunft, Geschlecht, Klassenzugehörigkeit, Einkommen oder Vermögen über die gesellschaftliche Gestaltungsmacht der Einzelnen entscheiden, und stattdessen einen Zustand herzustellen, in dem alle gleichberechtigt über die sie betreffenden Belange entscheiden und am gesellschaftlichen Reichtum teilhaben können.

Aneignung und soziale Rechte

Der kapitalistische Staat hat »zwei Gesichter«. Er ist Garant sowohl der formalen Gleichheit als auch der Ungleichheit erzeugenden kapitalistischen Eigentums- und Produktionsverhältnisse. Die linke positive, bejahende Haltung zum bürgerlichen Staat bezieht sich auf dessen Funktion als Garant von sozialen Rechten (Gewerkschaften, teils auch Attac). In Teilen der staatskritischen Linken hingegen spielt die »soziale Frage« bzw. die Durchsetzung von Rechten keine Rolle. Konkrete und jetztzeitige Alternativmodelle erschöpfen sich darin, kapitalistische »Gesellschaftlichkeit« mit der Propagierung individuell abgesicherter, prekärer sozialer Nischen zu negieren.

Die Frage, die sich hier stellt, lautet: Wie können Forderungen nach verallgemeinerten, garantierten Rechten gestellt werden, ohne den bürgerlichen Staat zu affirmieren? Soziale Rechte sind zwar prinzipiell unveräußerliche Menschenrechte. Aber wirksam, im Sinne von einklagbar, werden sie erst über positives Recht, das der Staat gewährt und absichert. Damit ist die Gefahr verbunden, dass der Kampf um soziale Rechte vor allem auf staatlich-politischem Terrain geführt wird, also über Forderungen an den Staat, diese Rechte zu gewähren. Das Institutionalisieren und damit Einklagbarmachen von sozialen Rechten ist natürlich ganz zentral. Entscheidend ist aber, wie die entsprechenden Kämpfe geführt werden: durch Appelle an den Staat, die immer schon ein Unterordnungsverhältnis reproduzieren, oder durch eine staatskritische Politik der Selbstorganisation?

Der Begriff der Aneignung könnte hier ein Korrektiv bilden, das dazu beiträgt, eine etatistische Engführung der Debatte über soziale Rechte zu verhindern. Dies gilt insofern, als Aneignung den Gedanken der Selbstermächtigung beinhaltet. Aneignung heißt, nicht auf Heilsversprechen zu vertrauen, nicht abzuwarten, sondern sich hier und jetzt Rechte zu nehmen, mit neuen Formen von Vergesellschaftung im Sinne eines »Anderen im und antagonistisch zum Falschen« zu experimentieren, aber trotzdem für ihre Verallgemeinerung zu kämpfen.

Aneignung heißt auch, über eine staatskritische Selbstgenügsamkeit hinaus zu gehen. Staatskritische Positionen sind nicht per se emanzipatorisch. So sind bspw. einstmals linke Kritiken an der Normalität von Geschlechterarrangements und Erwerbsbiografien, an Bürokratie und Entmündigung inzwischen Bestandteil rot-grüner Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik. Daher müssen Forderungen nach Selbstermächtigung politisch deutlicher formuliert werden, indem danach gefragt wird, auf welche Bereiche sie sich erstrecken: auf das Mitspielen-Dürfen oder auch auf die Festlegung der Spielregeln? Aneignung bezieht sich damit auch auf die Verhältnisse, unter denen sie stattfindet und auf die Art und Weise, wie über diese Verhältnisse nachgedacht wird. In diesem Sinne wäre der Kampf um soziale Rechte zu verstehen und zu betreiben.

Handlungsspielräume

Aneignung bedeutet, eigene Handlungsspielräume erst zu denken und dann auch zu schaffen. Im Sinne eines »Denkens« zielt Aneignung auf eine eigenständige Bestimmung dessen, was eigentlich das Problem ist. Arbeitslosigkeit, z.B.: Hier wird uns bereits seit einigen Jahren eine Definition dieses Problems dargelegt, die einzig und allein auf die mangelnde Bereitschaft oder auf die zu hohen Forderungen der Arbeitslosen verweist. Arbeitslose seien nicht bereit, weil sie entweder zu wenig flexibel, schlimmstenfalls faul oder weil die sozialen Sicherungsleistungen zu hoch dotiert seien. Und wenn die sozialen Leistungen zu hoch blieben, wäre ja klar, dass niemand für weniger Geld arbeiten geht. Allein hier wäre eine Verschiebung innerhalb des Diskurses um Arbeitslosigkeit notwendig, um eine andere Strategie als die der »Billiger-und-Williger«-Politik zu ermöglichen und die Lohnarbeit selbst als das Problem darzustellen. Warum sollten Arbeitslose zur Niedriglohnarbeit gezwungen werden, wo sie doch eigentlich für einen Mangel an »Selbstverwirklichung in der Lohnarbeit« gut entschädigt werden müssten? Probleme erschöpfen sich natürlich nicht in der Definition und entsprechend in der Redefinition derselben. Doch nach dem schlichten Motto, »Wer das Problem bestimmt, bestimmt auch die Lösung«, dient Aneignung auch der Verschiebung von Diskursen über das Wünschenswerte und das Machbare. Eine Gegenöffentlichkeit – auf der Straße, in Printmedien und Freien Radios – ist deshalb eine notwendige, wenn auch keine hinreichende Bedingung.

Aneignung in unserem Sinne ist kein Zukunftsprogramm und strebt ein solches auch nicht an. Wie sieht der Kommunismus aus? – Keine Ahnung. Sicher ist nur, dass sehr unterschiedliche Menschen unterschiedliche Dinge begehren und Interessen haben und weiterhin haben werden. Sicher ist auch, dass diese unterschiedlichen Begierden und Interessen derzeit nicht für alle umsetzbar sind. Aneignung zielt also auf ein Anderes in der Zukunft, will aber zugleich nicht brav warten, bis sich diese von selbst einstellt.


Anmerkungen:

(1) Fremdbestimmung
 

Editorische Anmerkungen:

Der Text erschien in der Zeitschrift ARRANCA und ist eine Spiegelung von
http://arranca.nadir.org/artikel.php3?nr=29&id=258
Mit diesem Text sollte für den BUKO-Kongress, der vom 20.5.-23.5.2004 in Kassel stattfand geworben werden.