"Wir setzen die globale kapitalistische Ökonomie voraus"
Das Sozialforum Berlin als Agentur für Konfusion und Integration
aus einer Flugschrift der "freundinnen und freunde der klassenlosen gesellschaft"
06/04

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Im Zuge der Antiglobalisierungsbewegung entstanden vor einigen Jahren in vielen Städten Italiens sogenannte Sozialforen, um jenseits des Gipfelstürmens eine lokale Verankerung des Protests zu schaffen. Genau wie bei den Massendemonstrationen der Bewegung trifft sich dort alles vom Streetfighter über die enttäuschte Sozialdemokratin bis zum Pfaffen. Inzwischen sprießen die Sozialforen auch in Deutschland wie Pilze aus dem Boden, um als Bündelung des Protestes „eine andere Welt“ mitzugestalten. Der Pluralismus – die Unfähigkeit, sich auf irgendwelche Erkenntnisse und daraus zu ziehende praktische Konsequenzen zu einigen – ist einerseits der ganze Stolz der „Bewegung der Bewegungen“, die tatsächlich nur durch ein vages Unbehagen am „Neoliberalismus“ zusammengehalten wird – und über weite Strecken durch europatriotische Feinderklärungen an Amerika und Israel. Andererseits drängt es einige Akteure, das Gewusel der Bewegung in ein ordentliches politisches Projekt zu überführen; dazu braucht es ein realistisches Programm. Zu der selbstgewählten Rolle des Berliner Sozialforums findet sich auf seiner Internetseite daher ein zentraler Aufsatz von Peter Grottian, Wolf-Dieter Narr und Roland Roth (1) . Basisdemokratische Elendsverwaltung wird hier zur großartigen Alternative erklärt. In der Hoffnung, endlich die neue soziale Bewegung von unten gefunden zu haben, machen sich auch Linksradikale zum Steigbügelhalter dieses bürgerlichen Projekts. So wird mit den Ausdrucksformen der radikalen Linken auf die Integration des Protests in die bestehenden Verhältnisse hingearbeitet.

Zivilgesellschaft als Erneuerung des Staates

Der Sozialstaat, oft zum Mythos einer Errungenschaft der Arbeiterbewegung verklärt, wird von den Vordenkern des Berliner Sozialforums durchaus richtig analysiert: „Staatliche Sozialpolitik wurde ‚von oben’ eingeführt. Sie versuchte den Druck der wachsenden ArbeiterInnenbewegung abzuleiten. Den in ihr ausgemachten Gefahren für den Bestand des Systems sollte kooperativ und repressiv begegnet werden, ohne irgendeine politische Beteiligung zu riskieren.“ Daß der Sozialstaat immer an den Zwang zur Lohnarbeit gebunden war, weil Arbeitskraft in Zeiten der Arbeitslosigkeit erhalten bleiben sollte, ist gar nicht Gegenstand der Kritik. Es geht lediglich um dessen autoritäre Verfaßtheit. Die Grundlage des gesellschaftlichen Konflikts, die Anwendung und Ausbeutung der Arbeitskraft durch das Kapital, bleibt auch für das Sozialforum Geschäftsgrundlage. Dieser Konflikt soll nur zivilgesellschaftlich verwaltet werden.

Mittel sollen dazu die Sozialforen sein und nicht die Bürokratie, die angeblich die Gesetze macht. Laut Grottian & Co wird nämlich „die Gesetzesmaschinerie schon vorweg bürokratisch geheizt. Es sind nicht die Abgeordneten, die die Gesetze machen. Letztere segnen sie nur ab.“ Politik wird hier zum bürokratisch fremdbestimmten Unschuldslamm erklärt, der Staat an sich gilt ihnen als Angelegenheit des ganzen Volkes. Die „mangelnde politische Steuerungsmöglichkeit“ soll darin begründet sein, daß dieser Staat irgendwie durch die Effekte der Globalisierung von seiner eigentlich guten Bestimmung abgebracht wird. Und als eifriger Staatsbürger will man dem Abhilfe schaffen: „Darum ist es entscheidend, die Bürgerinnen und Bürger als politisch denkende Wesen ernst zu nehmen. Mit ihnen ist zu diskutieren. Ihnen sind verständliche Perspektiven und Lösungsmöglichkeiten anzubieten.“ Das Sozialforum zielt also gar nicht darauf ab, autonome Versammlungen als Orte der Gegenmacht zu schaffen. Statt dessen sammelt man den sozialen Protest in einem zivilgesellschaftlichen Vorhof der Macht, um die Legitimationskrise der Politik zu überwinden. Wie ernst man dabei die Subjekte nimmt, die nur als „BürgerIn“ auftauchen, zeigt das Pädagogengeschwafel von den „verständlichen Perspektiven und Lösungsmöglichkeiten“. Alles ist offen und man entscheidet ganz selbstbestimmt mit. Doch zur großen Erleichterung der VertreterIn von Recht und Ordnung verkünden Grottian und Co: „Wir bleiben an dieser Stelle systemimmanent. Wir setzen die dominierende Gegebenheit globaler kapitalistischer Ökonomie voraus.“

„Menschenrechtsgemäße Grundsicherung statt Sozialhilfe“

Die Grundidee, mit der man politisch wirksam werden will, ist ein Sockelbetrag für alle BürgerInnen, der im „Rahmen der gesellschaftlichen Standards ein bürgerliches Leben ohne Not gestattet.“ Basisdemokratisch soll dieser Sockelbetrag „in kleinen sozialen Einheiten, an jedem Ort, in jedem Stadtteil [...] öffentlich zugänglich verwaltet“ werden. Dabei will man auch über eine Steuerreform die „lokale Ebene“ stärken, denn „mitbestimmende Organisierung von Grundsicherung und vor allem lokal organisierte Arbeitswahl ist nur kommunal denkbar.“ Die ArbeitnehmerInnen zahlen dann keine Versicherungsbeiträge mehr, sondern durch Steuern wird die Grundsicherung finanziert. Damit soll klassenübergreifende Solidarität hergestellt werden: Alle vom Hausangestellten bis zur Millionärin sollen über die Steuerverteilung und damit auch über die Grundsicherung entscheiden. Doch ganz in der Logik der kapitalistischen Gesellschaft soll man sich nicht auf dieser Grundsicherung ausruhen, sondern es sollen darüber „massenhaft selbstorganisierte und öffentlich finanzierte Arbeitsplätze“ geschaffen werden.

Bei diesem Konzept gegen die Arbeitslosigkeit sollen auch die Gewerkschaften als Vertreter der Lohnabhängigen in die Pflicht genommen werden. „Das Problem besteht darin, daß Arbeitgeber und Gewerkschaften zur Zeit wenig Interesse haben, die Arbeitslosigkeit als einen zentralen Gegenstand der Tarifverhandlungen zu definieren“. Die vollmundig angekündigte Alternative aus dem Sozialforum liest sich nun wie ein Einladungsschreiben des Bundeskanzlers zu einem neuen Bündnis für Arbeit, und entsprechend will man vor allem den Lohn der ProletInnen für neue Arbeitsplätze in Anspruch nehmen: „Die Mindestforderung könnte sein, zumindest das Finanzvolumen von 0,5 % der jeweiligen Tarifangebote in neue Arbeitsplätze unterschiedlichen Typs umzuwandeln.“ Die Gewerkschaft soll damit sogar gestärkt werden, „da ihr Interesse jenseits der Lohnprozente-Forderung für Erwerbslose, Arbeitnehmer und Öffentlichkeit sichtbar werden könnte.“ Herr Grottian und Herr Narr haben genau verstanden, wer den Sachzwang gegenüber den Lohnabhängigen durchsetzen soll - die Gewerkschaften. Gegen die Umsetzung eines solchen Vorschlags hätte der Bund der Deutschen Arbeitgeber bestimmt auch nichts einzuwenden, zumal Grottian & Co. im Vermarktungswettstreit der politischen Konzepte den Trumpf der Kostengünstigkeit aus der Cordhose ziehen: „Gewiß ist nur, daß die Kosten erheblich geringer sein werden, als diejenigen, die rund um die Arbeitslosigkeit ebenso öffentlich wie für die betroffenen Personen anfallen“.

Der Klassenkonflikt zwischen Lohn- und Profitinteresse soll ganz alternativ mal eben getilgt werden, denn „entscheidend ist es, daß Arbeitgeber und Arbeitnehmer übereinstimmen.“ Fragt sich, wie das unter den kapitalistischen Verhältnissen, die man erklärtermaßen gar nicht aufheben will, passieren soll. Diese selbstbestimmten Übereinkünfte werden sich immer der Profitlogik unterwerfen müssen, die da lautet: Mehr arbeiten für möglichst wenig Lohn, damit der Profit hoch ist. Denn die kapitalistische Warenproduktion schafft tatsächlich ökonomische Gesetzmäßigkeiten. Das Gerede um zu hohe Löhne und Lohnnebenkosten ist keine böse Erfindung der Neoliberalen, BürokratInnen und „fremdbestimmter“ PolitikerInnen, sondern bringt eine allgemeine Bedingung kapitalistischer Verwertung zum Ausdruck. In der Konkurrenz zwischen den einzelnen Kapitalen sind die Kosten der Arbeitskraft die prinzipiell variable Größe, mit der man den Profit erhöhen kann. Das daraus entspringende Elend will das Sozialforum selbstverwalten lassen.

Die Neuerfindung der Sozialdemokratie

Die Ideen des Sozialforums sind alles andere als neu. Immer wieder finden sich KritikerInnen, die nicht die Grundlagen des Ausbeutungsverhältnisses, Warenproduktion und Lohnarbeit, sondern die durch die Konkurrenz erzeugte Desintegration der Gesellschaft in den Mittelpunkt stellen. Und immer wieder sehen sie den Staat als Mittel zur Behebung dieses Problems an. Erinnert sei hier nur an die Geschichte sowohl der Sozialdemokratie als auch des Bolschewismus. Sind diese beiden klassischen Varianten heute genauso diskreditiert wie die Grünen, so bleiben ihre Ideen lebendig. Nach jedem notwendigen Scheitern dieser Ansätze in emanzipatorischer Hinsicht treten neue Formierungen, nicht ohne Verweis auf den Verrat ihrer Vorgänger, mit dem alten Wein in ihren Schläuchen an, um wieder zu scheitern. Das Sozialforum ist hier nur der aktuelle Ausdruck dieser ewigen Wiederkehr des Gleichen.

Der Staat, von dem das Sozialforum die Rettung erwartet, existiert nicht losgelöst von den ökonomischen Realitäten des Kapitalismus, vielmehr ist er Organisator dieser Realität. Seine beiden Haupteinnahmequellen, die Lohnsteuer und die Mehrwertsteuer, hängen direkt vom Erfolg kapitalistischer Akkumulation ab. Insofern besteht ein direktes Verhältnis zwischen dem ökonomischen Erfolg des Standortes und einer erfolgreichen Politik des Staates. Doch es ist eben kein Verhältnis, in der Politik von den wirtschaftlichen Interessen fremdbestimmt wird, sondern Politik kann gar nicht anders funktionieren. In Krisenzeiten muß sie auf Gedeih und Verderb den Lohnabhängigen den Sachzwang der Lebensverschlechterung als Allgemeinwohl verkaufen.

Wer sich der Illusion vom klassenneutralen Charakter des Staates hingibt, wird sich spätestens bei der Verhandlung über die Verteilung der Mittel am Sachzwang orientieren müssen und sich im Wettbewerb um die besseren Vorschläge zur Ausbeutung der Lohnarbeit wiederfinden. Das Sozialforum schaltet sich schon jetzt ungefragt in diesen Wettbewerb ein und arbeitet somit auf feindlichem Terrain. Seine Rolle kann nur darin bestehen, aufkeimende Kämpfe basisdemokratisch zu integrieren. Wut wird in einem breiten Bündnis mit Gewerkschaften, Kirchen, Wohlfahrtsverbänden und anderen Initiativen kleingekocht. Dabei spielen wir dann die Masse, gelenkt durch diese neuen FeierabendpolitikerInnen, um ihre Verhandlungsposition zu stärken, wobei die Alternativen keinen Millimeter über die bestehende Gesellschaft hinausweisen. Wer sich in den unerträglichen Verhältnissen, die ihren extremsten Ausdruck immer wieder in Zeiten der Krise und des Kriegs zeigen, auf die Suche nach dem kleineren Übel begibt, wird nur die eigene systemgerechte Zurichtung erreichen.

Die „andere Welt“ ist die alte Welt

Vermutlich liegt die Attraktivität der Sozialforen in ihrem Versprechen einer Selbstorganisation von unten, in der die Trennungen zwischen Arbeitslosen, Studierenden, „prekär“ oder „normal“ Beschäftigten verschwinden und ihre Situation als Moment der allgemeinen Misere begriffen werden kann. Alles hängt jedoch davon ab, wie dies geschieht. Historisch wurde eine andere Gesellschaft immer dann greifbar, wenn die unterschiedlichen Teile des Proletariats sich an ihren jeweiligen Orten verweigerten und begriffen, daß die eigene Emanzipation von der der anderen untrennbar ist – etwa als 1968 die Studierenden die Pariser Universität besetzten und sich Verbindungen zum wilden Generalstreik ergaben, weil die einen nicht mehr studieren und die anderen nicht mehr lohnarbeiten wollten, oder als im Italien der siebziger Jahre die Kritik der Hausarbeit den allgemeinen Angriff auf die „gesellschaftliche Fabrik“ verstärkte. Das verbindende Moment des Aufruhrs in den verschiedenen Sektoren der Gesellschaft war die Verweigerung der eigenen Funktion. Die Räte und autonomen Versammlungen, die dabei in den Betrieben, an den Universitäten und in den Stadtteilen entstanden, waren Keimzellen einer Gegensouveränität, die der alten Welt und ihren staatlichen Hütern den Garaus machen wollte. Entscheidend war dabei die Überwindung der Trennung in Politik und Ökonomie, die sich in der ArbeiterInnenbewegung als Arbeitsteilung zwischen Partei und Gewerkschaft ausdrückte und bereits darin der bestehenden Ordnung verhaftet blieb.

Die Sozialforen dagegen sind im Wesentlichen ein Betätigungsfeld für ehrenamtliche Polit-Funktionäre, die verschiedene Gruppen von „Betroffenen“ um sich zu scharen versuchen. Diese Betroffenengruppen werden auf den gemeinsamen Nenner des Bürgers gebracht, der sich folglich kritisch-konstruktiv in das politische Geschäft einbringt. Daß die Sozialforen kein Ort sind, an dem ein Austausch zwischen verschiedenen Kämpfen stattfindet, kann ihnen selbstredend nicht zum Vorwurf gemacht werden, weil diese Kämpfe gegenwärtig so gut wie nirgends stattfinden. Daß sie allerdings die Figur des politisierenden Bürgers aufbauen, anstatt wenigstens durch schonungslose Kritik zum historischen Projekt der Selbstaufhebung des Proletariats beizutragen, kennzeichnet sie als Stützen der verkehrten Gesellschaft.

Anmerkung:

(1) „Es gibt Alternativen zur Repressanda 2010! Statt repressiver Abbau des Sozialstaats steht sein menschenrechtlichdemokratischer Umbau für Grundsicherung und Arbeit auf der Tagesordnung von uns allen mit zu verantwortender Politik“, Komitee für Grundrechte und Demokratie, November 2003 Peter Grottian / Wolf-Dieter Narr / Roland Roth. http://www.socialforum-berlin.org  (Zitate, sofern nicht extra gekennzeichnet, stammen aus diesem Text).
 

Editorische Anmerkungen:

Die Flugschrift wurde u.a. auf der revolutionären 1. Mai Demo in Berlin verteilt. Der Text ist eine Spiegelung von
http://mitglied.lycos.de/fdkg2003/zeitung1.5.04.htm

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