Gesellschaftliche Arbeit im flexiblen Kapitalismus

von Joachim Bischoff

06/03    trend onlinezeitung

Briefe oder Artikel info@trend.partisan.net ODER per Snail: trend c/o Anti-Quariat 610610 Postfach 10937 Berlin

Die gegenwärtigen Verhältnisse in den hochentwickelten kapitalistischen Gesellschaften geben uns erhebliche Rätsel auf. Im Zentrum der Debatte steht die Frage, ob wir es eher mit einem technologisch grundlegend erneuerten Akkumulationsprozess zu tun haben oder ob wir unser Augenmerk auf die Herausbildung eines flexiblen finanzgetriebenen Akkumulationsregimes legen müssen. Daher herrscht auch kein Konsens über die Bezeichnung: New economy, High-Tech- oder Digitaler Kapitalismus konkurrieren mit der Bezeichnung Casino- und Shareholder-Kapitalismus. Wolfgang F. Haug versucht eine Vermittlung zwischen den beiden Untersuchungsrichtungen: „Der ‘Kasinokapitalismus’ war nur der finanzielle Überbau ihres Aufstiegs. Die Zeit, in der noch mit dem Anschein intellektueller Aktualität von ‘Postfordismus’ oder ‘Superfordismus’ gesprochen werden konnte, ist vorbei. Die neue Formation ist weiter in den Jahren fortgeschritten als die fordistische es war, als Antonio Gramsci sie unter diesem Namen – und nicht etwa unter irgendeinem leeren Post-Bindestrichnamen – analysierte. Die ‘Betriebsweise gesellschaftlicher Arbeit’ (Marx/Engels) gestaltet sich in den herrschenden Sektoren auf Basis der Mikroelektronik und hinsichtlich der räumlich-politischen Reichweite transnational; allgemein sind die Produktivkräfte in Auswirkung der Leittechnologie des Computers „hochtechnologisch! geworden und es werden täglich mehr. Daher kann man vom transnationalen High-Tech-Kapitalismus sprechen. Im Internet hat er sein Medium gefunden.“ [1] Das Unbehagen über die Redeweise von der Krise des Fordismus oder einer post-fordistisch-tayloristischen Entwicklungsetappe ist nachvollziehbar. Zurecht konstatieren Sablowski/Alnasseri: „Sicherlich gilt es einen inflationären Gebrauch des Krisenbegriffs zu vermeiden. ... Kritische Theorie verliert dann an Unterscheidungsvermögen, wenn sie sozusagen immer und überall die Krise diagnostiziert. Umgekehrt müssen sich aber jene, die von einer neuen Formation oder Entwicklungsweise sprechen, auch fragen lassen, ob sie nicht vorschnell bestimmten Entwicklungen ... eine Kohärenz und Allgemeingültigkeit zusprechen.“ [2] M.E. ist die  These von einer Dominanz der finanzgetriebenen Akkumulation im Übergang zu einer neuen gesellschaftlichen Betriebsweise ist nicht haltbar. Die Bezeichnung ‘New economy’ entstand zwar in der Folge des außergewöhnlichen Börsenbooms der neunziger Jahre, aber nach dem Crash auf Raten ist nach wie vor offen, ob jetzt der Übergang in ein neues Akkumulationsregime vollzogen ist. [3]

1.

Im Laufe der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts verliert die fordistisch-tayloristische Betriebsweise des gesellschaftlichen Gesamtkapitals an Gestaltungskraft, d.h. der charakteristische Zusammenhang von hoher Produktivitätsentwicklung, sozialstaatlicher Modifikation der Verteilungsverhältnisse und der Entwicklung pluralistischer Lebensverhältnisse löste sich infolge eines ganzen Bündels von gesellschaftlichen Widersprüchen auf. Durch diesen Umbruch verändern sich die Arbeitsorganisation, die Struktur des gesellschaftlichen Gesamtarbeiters, aber auch die Akkumulationsstrukturen und die politisch bestimmten Regulationsformen. Die gemischte Ökonomie wird durch neoliberale Deregulierungspolitik aufgelöst, und die Marktsteuerung (verschärfte Konkurrenz) erfasst nahezu alle gesellschaftlichen Bereiche. Während sich einige Vertreter der These von der Herausbildung eines neuen Akkumulationsregime der Vermögensbesitzer bei der Bestimmung der gesellschaftlichen Betriebsweise des Kapitals zurückhalten (Aglietta, Boyer, Dörre, Hirsch u.a.) [4] , gibt es auch die eindeutige Positionsbestimmung, dass der High-Tech-Kapitalismus in der ‘New Economy’ seine neue Basis gefunden habe. [5] Die ‘New Economy’ wird als entwickelte gesellschaftliche Betriebsweise gewertet und somit als eine neue Phase der Kapitalakkumulation propagiert.

Mit dem Schlagwort von der ‘New Economy’ werden verschiedene Dimensionen angesprochen: Bezugspunkt ist die Prosperität der letzten Jahre in Amerika, und damit geht es um einen Zusammenhang von höherem Wirtschaftswachstum mit dem Kursfeuerwerk bei den Aktien von Technologie-, Telekommunikations- und Medienwerten, die als Träger des neuen Zeitalters gelten, einer neuen Konsumwelle und einem rigorosen Umbau der Unternehmenslandschaft. Im Zentrum dieser vermeintlich neuen Revolutionierung von Ökonomie und Gesellschaft steht ohne Zweifel  der technologische Fortschritt: Die rasche Ausbreitung des Computers erlaubt eine neue Qualität der Vernetzung der Welt. Die Perfektionierung des Wettbewerbs setzt sich in einen Rückgang der Transaktionskosten, eine Steigerung der Produktivität und eine Verbesserung der Kontrolle und Steuerung von Unternehmen um.

Die These einer neuen Betriebsweise lautet: Es hat sich eine dezentralisierte, marktgesteuerte Fabrikorganisation herausgebildet, die den Triumph der Markt- über die Produktionsökonomie reflektiert. Die Intensivierung und Verstetigung des Wettbewerbs in der dezentralisierten Firmenorganisation ist der entscheidende Anreiz für immer neue Anstrengungen zur Rationalisierung und Kostensenkung, die sich auf die gesamte Wertschöpfungskette, auf die Organisationsstruktur und die Regulationsmodi der Unternehmen erstrecken. Es entsteht eine „flexible Arbeitsweise“, die sich gleich mehrfach der tayloristischen Massenproduktion überlegen erweist:

-      Flexible Beschäftigungsverhältnisse garantieren Profitabilität auch bei wechselnden Konjunkturlagen.

-      Es bildet sich ein neues Zeit- und Leistungsregime heraus; Entgelt wird zumindest ansatzweise an Verwertungskennziffern gekoppelt.

-      Daraus leitet sich eine fortschreitende Polarisierung der Arbeitsbedingungen und Fragmentierung der Belegschaften ab.

Geht man hingegen von der Herausbildung eines flexibel-finanzgetriebenen Akkumulationsregimes aus, liegt die Betonung  auf neuen Formen der Herrschaft des Finanz- und Geldkapitals. Der Übergang vom Manager- zum Aktionärs-Kapitalismus ist nach dieser Vorstellung mit einer Umwälzung der Machtverhältnisse im Unternehmen (corporate governance), neuen Verteilungsverhältnissen und einer Orientierung am kurzfristigen Gewinn verbunden. Im finanzgetriebenen Aktionärskapitalismus steht nicht mehr das Arbeitseinkommen – der Lohn – im Zentrum; vielmehr nimmt das Finanzsystem die Schlüsselposition ein. Die Umverteilung zugunsten der Eigenkapitalrenditen der international agierenden Großunternehmen richtet sich sowohl gegen den Durchschnittsprofit und den Regulierungszusammenhang eines Ausgleichungsprozesses innerhalb des Nationalkapitals, als auch gegen die  nationalen Arbeitsgesellschaften mit ihren sozialstaatlichen Umverteilungsstrukturen.

2.

Senett betont mit Blick auf den gegenwärtigen Kapitalismus : „Die wirklichen Veränderungen  ... liegen gar nicht so sehr oder vor allem im Phänomen der Globalisierung, sondern in der Organisation der Arbeit, in der Beziehung zwischen Bürokratie und der Erfahrung von Arbeit durch die Menschen.“ [6] Stützt also der Nachweis einer veränderten Arbeits- und Betriebsorganisation die These, dass sich ausgehend von der Herrschaft der Finanzmärkte und des Finanzkapitals im Übergang zum 21. Jahrhundert doch eine neue gesellschaftliche Betriebsweise herausgebildet hat ?

Die Organisation der Arbeit war in der zurückliegenden Etappe des Fordismus durch eine technologiebestimmte Arbeitsteilung innerhalb der Unternehmen geprägt, die durch eine umfassende Kontrolle seitens des Managements und eine bürokratisierte Entscheidungshierarchie zusammengehalten wurde. Im gegenwärtigen Kapitalismus ist diese Struktur gesellschaftlicher Arbeit weitgehend aufgelöst. „Es ist eine plötzliche Schwerpunktverlagerung von der klassischen Erwerbsarbeit hin zu einem auf der Flexibilisierung beruhenden kurzfristigen Gewinndenken. Routineprozesse werden zerschlagen und den Menschen wird von nun an unternehmerisches Denken und Arbeiten abverlangt. Diese Entwicklung wäre nicht möglich gewesen ohne die Entwicklungen im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnologie, welche es Unternehmen heute ermöglichen, komplexe, räumlich getrennte Betriebsabläufe miteinander zu vernetzen und minutiös zu planen.“ [7]

Ohne Zweifel hat sich der Wertschöpfungs- und Arbeitsprozess - auch unter der Rückwirkung der Informations- und Kommunikationstechnologie - erheblich verändert. Auch in den Entwicklungsphasen der ‘großen Industrie‘ und der ‘fordistischen Massenproduktion’ wurden die technologisch-organisa­tori­schen Strukturen beständig umgewälzt. Aber die Zusammenführung von Arbeitskräften innerhalb einer Räumlichkeit, die Bindung an ein Maschinensystem und die durch diese Arbeitsteilung innerhalb der Fabrik verstärkte Disziplin blieben das charakteristische Merkmal.

Die neue Form der Arbeits- und Betriebsorganisation zielt auf eine neue Qualität der Nutzung der Subjektivität der eingesetzten Arbeitskraft. Zielpunkt ist ein Typus von ‘Arbeitskraftunternehmer’, der sich sowohl mit Blick auf die veränderten Bedingungen für Verkauf, und Nutzung der Arbeitskraft flexibel anpasst, als auch im kapitalistischen Wertschöpfungsprozess als selbständiges Arbeitssubjekt agiert. Die wesentlichen Dimensionen der flexibilisierten Arbeitsorganisation lassen sich folgendermaßen umreißen: „Die zunehmende Durchsetzung entstandardisierter Arbeitszeiten (Ende des Normalarbeitstages) führt. dazu, dass Arbeitskräfte die zeitliche Organisation ihrer Arbeit und damit ihres Alltags in wachsendem Maß selber gestalten müssen. Die Zunahme von Beschäftigungsverhältnissen mit verringertem rechtlichem Schutz (Ende des Normalarbeitsverhältnisses) impliziert unter anderem, dass Lebensverläufe fragiler werden und erhöhte Identitätsanforderungen entstehen. Der Einsatz hochentwickelter Datentechniken auch im Bereich industrieller Fach- und Anlernarbeit erfordert eine neue Qualität der subjektiven Steuerung von Arbeitsverläufen in der Produktion (Ende der konventionellen Maschinenarbeit). Und schließlich sind es neue Formen der organisatorisch-technischen Rationalisierung von Arbeit (Ende des Taylorismus), die eine strukturell veränderte betriebliche Einbindung und Nutzung der Subjektivität der Arbeitenden bedeuten.“ [8] Logischerweise gibt es über Umfang oder Reichweite der veränderten Arbeitsorganisation höchst unterschiedliche Einschätzungen. Es ist schwierig, in dem bunten Wirrwarr von Übergangsformen empirisch eine bestimmende Tendenz auszumachen. [9] Zu Recht weist A. Wagner [10] darauf hin, dass die Tendenz zur Erosion des Normalarbeitsverhältnisses in der gesellschaftspolitischen Debatte lange Zeit überschätzt wurde. Auf der anderen Seite scheint mir bei Anerkennung der herausgehobenen Bedeutung der Expansion von Teilzeitbeschäftigung die These von der Reproduktion der fordistischen Arbeitsorganisation nicht gerechtfertigt. Die gesellschaftliche Arbeit verändert sich im Verlauf der letzten beiden Jahrzehnte erheblich: In der  BRD und Frankreich wird es wie in den anderen hochentwickelten kapitalistischen Länder auch einen verstärkten gesellschaftlichen Druck zur Erhöhung der Erwerbstätigenquoten geben; die Arbeitsbedingungen verändern sich signifikant (Arbeitstempo, Zeitdruck, stärkere Gesundheitsbelastung, höhere fachliche Anforderungen und Auflösung des Zeitrhythmus). [11] Die wichtigsten Aspekte der Veränderungen der Arbeitsorganisation – die angesprochenen Dimensionen Arbeitszeit, Normalarbeitsverhältnis, neue Qualität des Arbeitseinsatzes, Ende der tayloristischen Arbeitsteilung – lassen sich auch in einer empirischen Bestandsaufnahme verdeutlichen, was die strittigen Punkte in der theoretischen Deutung nicht auflöst.

‘Normalarbeitszeit’

Die Tendenz zur Flexiblisierung der Arbeitszeiten ist eindeutig, wie die nachstehenden Tabellen 1, 2 und 3 illustrieren. Im Mikrozensus ist die Auflösung der herkömmlichen Zeitstruktur schon für die neunziger Jahre eindeutig belegt. Die verschiedenen Formen (Nacht-, Schicht- und Wochenendarbeit) sind von dieser Entwicklung in unterschiedlicher Weise berührt. [12]

Geht man bei der Normalarbeitszeit von einem Vollzeitarbeitsverhältnis aus, in dem die Arbeitszeit von Montag bis Freitag verteilt ist, ohne Überstunden, Schichtarbeit, Nachtarbeit und Wochenendarbeit, dann ist die Tendenz logischerweise noch deutlicher.

Die Flexibilisierung der Arbeitszeit erstreckt sich nicht nur auf den Einsatz der einzelnen Arbeitskraft, sondern mit Blick auf die Aufweichung gesellschaftlicher Normierungen (Feiertage, 5 Tage-Woche, Schichtarbeit) kann von einer Tendenz zur Veränderung des gesellschaftlichen Zeitrhythmus gesprochen werden.

Tabelle 1

Erwerbstätige mit flexiblen Arbeitszeiten (Ergebnisse des Mikrozensus)

Form der flexiblen Arbeitszeit

1991

 

2000

 
 

1.000

%

1.000

%

Deutschland

Erwerbstätige insgesamt

37.445

100

36.604

100

darunter mit Wochenend-, Schicht- und/oder Nachtarbeit1

15.711

42,0

18.587

50,8

dar. mit ständiger/regelmäßiger2 Schichtarbeit

4.855

13,0

3.978

10,9

Samstagsarbeit

8.127

21.7

8.380

22.9

Sonn- und/oder Feiertagsarbeit

4.030

10,8

4.142

11,3

Nachtarbeit

3.220

8,6

2.667

7,3

dar. mit gelegentlicher2 Schichtarbeit

625

1,7

517

1,4

Samstagsarbeit

5.612

15,0

7.091

19,4

Sonn- und/oder Feiertagsarbeit

3.495

9,3

4.397

12,0

Nachtarbeit

2.026

5,4

2.139

5.8

Früheres Bundesgebiet

Erwerbstätige insgesamt

29.684

100

30.009

100

darunter mit Wochenend-, Schicht- und/oder Nachtarbeit1

12.904

43,5

15.201

50,7

Neue Länder und Berlin-Ost

Erwerbstätige insgesamt

7.761

100

6.595

100

darunter mit Wochenend-, Schicht- und/oder Nachtarbeit1

2 807

36,2

3 386

51,3

1) Ständige/regelmäßige bzw. gelegentliche Wochenend-. Schicht- und/oder Nachtarbeit.

2) Mehrfachangaben waren möglich.

Quelle: Statistisches Bundesamt, Mikrozensus 4/2001

Tabelle 2

Anteil der Beschäftigten mit Normalarbeitszeit an allen Beschäftigten.

1989

24%

1995

19%

1999

15%

Tabelle 3

Anteil der Beschäftigten mit flexibilisierten Arbeitszeiten (an allen Beschäftigten)

 

1995

1999

Abweichung von Normalarbeitszeit

81%

85%

regelm. Überstunden

46%

56%

Schicht- u./oder Nachtarbeit

13%

18% 

regelm. Samstagsarbeit

32%

35%

regelm. Sonntagsarbeit

15%

16%

Teilzeitarbeit

18%

20%

Arbeitszeitkonten

 

37%

Auffällig ist ferner, dass sich die Tendenz zur Verkürzung der Wochen- und Jahresarbeitszeiten deutlich abgeschwächt hat, obgleich der Arbeitseinsatz unter den veränderten Bedingungen von einer höheren Leistungsdichte (Intensivierung) begleitet ist. Schließlich zeichnet sich eine Tendenz zur Verlängerung der Lebensarbeitszeit ab.

Die soziale Regulierung der Arbeitszeit war in der Geschichte des Kapitalismus stets umkämpft. In der längeren Nachkriegsphase mit der Dominanz des Fordismus ist die weit über die Arbeitszeiten hinausreichende Regulierung der Arbeit das Ergebnis einer beschleunigten Kapitalakkumulation, verbunden mit dem dadurch bedingten hohen Beschäftigungsstand und einer schlagkräftigen gewerkschaftlichen Organisation der Lohnabhängigen sowohl mit Blick auf die innerbetrieblichen Kräfteverhältnisse als auf die gesellschaftliche Willensbildung. Mit der Ausbreitung von Arbeitszeitkonten zeichnet sich ein völlig neuer Regulationszusammenhang ab; unter den neuen Bedingungen haben viele Beschäftigte nicht nur Gestaltungsmöglichkeiten von Wochen- und Jahresarbeitszeit, sondern auch Weiterbildung und Lebensarbeitszeit können über dieses Instrument gestaltet werden. Es geht bei der Bilanzierung der Veränderungen des gesellschaftlichen Arbeitsprozesses nicht um ein verdecktes Plädoyer für die Rückkehr zum überlieferten Zeitmanagement und eine Orientierung am überlieferten gesellschaftlichen Zeitrhythmus, sondern um die Klärung der Regulationsansätze unter den neuen veränderten Bedingungen.

Ende des fordistischen  Normalarbeitsverhältnisses

Bei der These von der Aufhebung des Normalarbeitsverhältnisses ist es – wie bei der Normalarbeitzeit – wichtig zu klären, welche Kriterien zugrunde gelegt werden. Zu Recht konstatiert A. Wagner: „Es liegt auf der Hand: Je detaillierter und stringenter die Merkmale für das Normalarbeitsverhältnis gefasst werden und je mehr dieser Elemente als konstitutiv angesehen werden, desto leichter ist es , empirisch seine Auflösung zu begründen.“ [13] Die Debatte um die Auflösung des überlieferten und die Konturen eines neuen Normalarbeitsverhältnis ist in den Kontext von der Herausbildung einer neuen Arbeits- und Betriebsorganisation einzubauen. [14] Es geht also um die Frage, wie sich die Flexibilisierung in der Auflösung der überlieferten Regulierungen ausdrückt und ob man von der Herausbildung einer neuen gesellschaftlichen Betriebsweise und neuen Regulierungen der Arbeitsverhältnisses sprechen kann.

Bosch konstatiert: „Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es bislang keinen Einbruch bei der absoluten Zahl des Normalarbeitsverhältnisses in Deutschland gegeben hat. Zu dem ‘alten’ in unveränderten quantitativen Dimensionen ist also ein zusätzliches ‘neues’, vor allem in Form der Teilzeitarbeit von Frauen, in beachtlichen Dimensionen hinzugekommen. Die Beschäftigungsverhältnisse sind in den letzten Jahren eher stabiler geworden.“ [15] Stabilität bezieht sich hier auf eine ansteigende Tendenz bei der durchschnittlichen Betriebszugehörigkeit. Aber dieser Aspekt überdeckt andere Tendenzen nicht: Das Ausmaß der ‘unsicheren Beschäftigung’ nimmt zu (Leiharbeit, unbefristete Beschäftigung etc.). Zugleich ist aber festzuhalten, dass die Zunahme der Teilzeitarbeit nicht generell eine Tendenz zu prekären Beschäftigungsverhältnissen ausdrückt.

Tabelle 4

Normalarbeitsverhältnis - die Spannbreite der Kriterien

enger Begriff

durchschnittliche Reichweite

weiter Begriff

Abhängige Beschäftigung

Abhängige
Beschäftigung

Abhängige Beschäftigung

Sozialversichert oder beamtenrechtl. Schutz

Sozialversichert oder beamtenrechtl. Schutz

Sozialversichert oder beamtenrechtl. Schutz

unbefristetes Arbeitsverhältnis

unbefristetes Arbeitsverhältnis

unbefristetes Arbeitsverhältnis

Vollzeit

Vollzeit

 

keine Leiharbeit

   

keine Telearbeit

   

5-Tagewoche

   

Tabelle 5

Erwerbsformen und Normalarbeitsverhältnis in Westdeutschland

Absolut (Tsd. Personen)

1976

1980

1985

1990

1995

1996

1998

1999

1. Arbeiter und Angestellte in Vollzeit (ab >36 Std.)

16.600

17.394

16.682

18.301

17.412

16.210

15.642

15.734

2. davon befristet und/oder in Leiharbeit

   

850

994

983

960

1.134

1.252

3. Arbeiter und Angestellte in Vollzeitbeschäftigung ohne Befristung und Leiharbeit (Nr.1 abzügl. Nr.2)

   

15.832

17.307

16.429

15.250

14.508

14.482

4. Sonstige Vollzeitbeschäftigte (Beamte, Soldaten, Auszubildende)

3.059

3.573

3.788

3.633

3.114

3.079

2.975

2.996

5. Abhängig Vollzeitbeschäftigte insgesamt (Nr. 1 + Nr. 4)

19.659

20.967

20.470

21.934

20.526

19.289

18.617

18.730

6. Abhängige Teilzeitbeschäftigte (unter 36 Std.)

2.575

2.679

3.013

4.242

5.404

6.696

7.279

7.654

7. Selbstständige und Mithelfende außerhalb der Landwirtschaft

2.148

2.063

2.163

2.378

2.707

2.795

2.941

2.893

8. Selbstständige und Mithelfende in der Landwirtschaft

1.371

1.168

973

780

605

497

480

452

9. Selbstständige insgesamt

3.519

3.231

3.136

3.158

3.312

3.292

3.421

3.345

10. „Normalarbeitsverhältnisse“ (Nr. 5 abzügl. Nr. 2)

19.659

20.967

19.620

20.940

19.543

18.329

17.483

17.478

11. Erwerbstätige insgesamt

25.753

26.877

26.619

29.334

29.242

29.277

29.317

29.729

Quelle: Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung (IAB). Die jüngste Revision der Erwerbstätigenstatistik des Statistischen Bundesamtes ist in diesen Zahlen noch nicht berücksichtigt.

Ohne Zweifel existiert neben der Flexibilisierung des Zeitregimes eine Tendenz zur Erosion des Normalarbeitsverhältnisses. Freilich wird diese Entwicklung überzeichnet, wenn regulierte, sozial geschützte Teilzeitbeschäftigung unter die unsicheren Beschäftigungsformen einrangiert wird. Die Entwicklungstendenz hat in der Bundesrepublik keineswegs eine solche Wucht, dass eine zügige Zerstörung der sozial regulierten Arbeitsverhältnisse befürchtet werden müsste. Unter den massiven Angriffen der Deregulierungspolitik ist die Erosion des Normalarbeitsverhältnisse in den zurückliegenden Jahren überschätzt worden.

Tabelle 6

Unsichere Beschäftigung (Anteil an den Beschäftigten in %)

Alte Bundesländer (Anteil an ...)

Befristete Beschäftigung (ohne Leiharbeit)

Leiharbeit (auch befristet)

Geringfügige Beschäftigung

Freie
Mitarbeit

Unsichere Beschäftigung insgesamt

An allen Beschäftigten

5,7%

0,5%

3,1%

0,9%

10,2%

An Beschäftigten ohne Ausbildung

9,7%

1,3%

7,8%

1,9%

20,6%

An Beschäftigten mit
univer1sitäts-abschluss

7,5%

(0,5%)

3,1%

0,9%

10,2%

An weiblichen Beschäftigten

6,3%

0,5%

6,1%

1,3%

14,3%

Neue Bundesländer (Anteil an ...)

Befristete Beschäftigung (ohne Leiharbeit)

Leiharbeit (auch befristet)

Geringfügige Beschäftigung

Freie Mitarbeit

Unsichere Beschäftigung insgesamt

An allen Beschäftigten

13,2%

1,1%

1,1%

0,5%

15,9%

An Beschäftigten ohne Ausbildung

24,3%

(1,1%)

(4,2%)

(2,6%)

32,3%

An Beschäftigten mit
Universitäts-abschluss

11,3%

(0,3%)

(1,4%)

(1,2%)

14,2%

An weiblichen Beschäftigten

14,9%

(0,4%)

1,6%

(0,6%)

17,6%

(Werte in Klammern: keine signifikanten Werte)

Quelle: IAB-Kurzbericht 15/2000

Ende der Maschinenarbeit

Die Veränderung bei der technologischen Ausstattung ist eindeutig (siehe Tabellen 7 und 8). Im Mikrozensus wird festgestellt, dass mehr als 50 % aller Erwerbstätigen sich bei ihrem Arbeitseinsatz auf Computer stützen. Logischerweise ist dieses Arbeitsmittel in Teilbereichen der materiellen Produktion und bei sonstigen Dienstleistungen deutlich weniger präsent.

Gerade bei diesem Blick auf die Arbeitsplätze und Qualifikationen wird deutlich, dass die Dynamik der Kapitalakkumulation auf dem Terrain der materiellen Produktion nur eine, wenn auch eine sehr wichtige Komponente der Umwälzung ist. Auf der anderen Seite verändert die Privatisierung oder Kapitalisierung der öffentlichen Dienstleistungen (Gesundheit, Bildung, soziale Sicherheit) die Struktur der gesellschaftlichen Arbeit.  Neben den unternehmensbezogenen Dienstleistungen konstatieren wir eine Ausweitung von Haushalts- und personenbezogenen Diensten wie Gesundheit, Bildung, Kommunikation, Freizeit; auch hier zeigt sich der Übergang auf eine andere technologische Basis der Gesellschaft, allerdings in anderen Formen. Gerade für die USA lässt sich eine starke Expansion einfacher Dienstleistungen registrieren, was doch zur Vorsicht im Umgang mit der Formel vom High-Tech-Kapitalismus mahnt. Der starke Anstieg der Frauenerwerbsquote hat sicherlich verschiedene Ursachen. Rückwirkend dürfte allerdings durch diese Veränderung in einem Großteil der privaten Haushalte die Tendenz zur Vergesellschaftung von einfachen Dienstleistungstätigkeiten verstärkt worden sein. Wir konstatieren im Übergang zum 21. Jahrhundert in den USA durchaus einen Anstieg von unqualifizierten Jobs und einen Rückgang an sozialer Sicherheit. „Das Durchschnittseinkommen im Dienstleistungssektor liegt in den meisten westlichen Ländern unter dem des Produktionssektors. Der Preis für mehr Beschäftigung kann eine Zunahme der Einkommensungleichheit sein. Dies lehrt das Beispiel der USA, die in den 90-er Jahren aber zugleich das Land mit einer hohen Expansion von Arbeitsplätzen auch im hochqualifizierten Bereich und einer niedrigen Arbeitslosenquote sind.“ [16]

Im Mikrozensus wird zwar der Anstieg einer qualifizierten Ausbildung im zurückliegenden Jahrzehnt deutlich. Aber vor einer Überschätzung dieser Entwicklungstendenz muss gewarnt werden. Zwar werden im nächsten Jahrzehnt (bis 2010) in der BRD die produktionsorientierten Tätigkeiten weiter zugunsten des Wachstums von Dienstleistungen zurückgehen. Aber unter den

gegenwärtigen kapitalistischen Verhältnissen werden einfache Dienstleistungen weiterhin einen hohen Stellenwert in der Organisation gesellschaftlicher Arbeit haben und der Rückgang von einfachen Qualifikationen (ohne Berufsabschluss) ist nur von begrenzter Aussagekraft.

Tabelle 7

Erwerbstätige nach Tätigkeitsgruppen 1995 und 2010

 

1995

2010

Produktionsorientierte Tätigkeiten

30,7%

24,0%

Primäre Dienstleistungen

43,0%

44,4%

Sekundäre Dienstleistungen

26,3%

31,6%

Tabelle 8

Erwerbstätige im Mai 2000, die für ihre Tätigkeit einen PC oder andere Computer nutzen, nach Altersklassen und Geschlecht (Ergebnisse des Mikrozensus Deutschland)

Altersklasse/PC, Computer

Erwerbstätige insgesamt, in 1000 Personen

darunter: Erwerbstätige, mit Angabe zur PC-/Computernutzung (in 1000 Pers.)

davon: mit PC-/Computernutzung in %

ohne Nutzung
(in %)

Insgesamt

Insgesamt

36.604

36.841

52,4

47,6

davon im Alter

unter 30

7.928

7.839

48,7

51,3

30-45

15.756

15.661

56,2

43,8

45-60

11.361

11.298

51,8

48,2

60 und mehr

1.558

1.543

37,4

62,6

Männlich

Insgesamt

20.580

20.544

51,0

49,0

davon im Alter

unter 30

4.384

4.314

40,7

59,3

30-45

8.859

8.818

55,4

44,6

45-60

6.398

6.362

53,5

46,5

60 und mehr

1.059

1.050

41,8

58,2

Weiblich

Insgesamt

15.924

15.798

54,2

45,8

davon im Alter

unter 30

3.564

3.524

58,5

41,5

30-45

6.897

6.844

57,3

42,7

45-60

4.984

4.936

49,6

50,4

60 und mehr

499

494

27,9

72,1

Quelle: Statistisches Bundesamt, Mikrozensus 4/2001

Tayloristische Arbeitsorganisation

Schon aus den drei bisher skizzierten Dimensionen – Arbeitszeit, Normalarbeitsverhältnis, Arbeitsmittel/Qualifikation – wird deutlich, dass die Tendenz zur Flexibilisierung und Umwälzung der technologischen Struktur deutliche Spuren hinterlassen hat, dass allerdings von einer radikalen Veränderung der Arbeitsorganisation keine Rede sein kann. Selbst die Vertreter der These vom Übergang zum Typus des ‘Arbeitskraftunternehmers’ räumen ein, dass sie eine pointierte Ausdeutung eines Entwicklungstrends vornehmen, dessen empirische Fundierung noch aussteht. Bedeutet das nun, dass Senett gleichermaßen die Veränderungen in der Organisation gesellschaftlicher und betrieblicher Arbeit überschätzt hat?

Es ist den Unternehmen gelungen, in den Betrieben und damit für die Arbeitenden neue Handlungsanforderungen durchzusetzen. Die Beschäftigten begreifen sich vielfach als Beteiligte an einer verschärften Konkurrenzsituation. Der Arbeitseinsatz hat weithin die Seite der äußerlichen Disziplinierung verloren und erfolgt unter neuen Rahmenbedingungen. Es geht im Sinne der Kontinuität, der Qualitätssicherung und damit der Wertschöpfung um größere Autonomie und höhere Leistungsanforderungen. Eine Untersuchung entlang der Dimensionen von Autonomie, Partizipation und Kooperation in der Industrie kommt in den neunziger Jahren zu folgenden Größenverhältnissen:

Tabelle 9

Jahr

1993

1998

Tayloristische Arbeitsorganisation

37 %

40 %

Partizipative Arbeitsorganisation

40 %

36 %

Posttayloristische Arbeitsorganisation

23 %

24 %

Sicher kann auch diese empirische Einordnung nur als Tendenzaussage für eine Uneinheitlichkeit der gegenwärtigen Arbeitsorganisationen genommen werden. Festzuhalten ist, dass sich eine Tendenz zur Überwindung von Subalternität und Disziplin beim Arbeitseinsatz abzeichnet. Aber von der Herausbildung einer neuen gesellschaftlichen Betriebsweise sind wir weit entfernt. Es gibt Bausteine einer veränderten Arbeitsorganisation. Eine neue gesellschaftliche Betriebsweise kann selbst in der Tendenz nicht als Konsequenz einer veränderten Technologie gefasst werden, sondern muss alle Seiten der Arbeitspolitik (Qualifikation, Leistungskontrolle, Entlohnung, Partizipation) umfassen. Daher bleibt der Eindruck: „Nimmt man das stabile Zusammenspiel von Akkumulations- und Regulationsregime des Fordismus mit dem ursprünglichen regulationstheoretischen Ansatz als ‘trouvaille’, dann ist die nachfordistische Entwicklung über frühe Suchbewegungen noch nicht hinaus.“ [17]

Eine solche Suchbewegung ist auch noch in der Automobilindustrie erkennbar. Die Neustrukturierung der Fertigung geht längst über die ‘schlanke Produktion’ mit den bekannten Einspareffekten für Lagerhaltung und Kapitalbildung hinaus. Die Fertigung soll mehr und mehr auf die Nachfrage ausgerichtet werden. Ziel der ‘atmenden Fabrik’ ist die flexible Fertigung, so dass sechs bis zehn Tage nach Bestelleingang und bei Vermeidung einer kostenintensiven Lagerhaltung das kundenspezifische Produkt ausgeliefert wird. Durch weitgehende Selbstregulierung sollen die Beschäftigten höchste Qualität garantieren. So arbeitet der VW-Konzern an einem neuen Modell: Die Beschäftigten des Pilotprojektes „5000 mal 5000“ würden aus den überlieferten Strukturen des Tarifvertrages herausgenommen. Sie wären die Vorboten eines neuen Typus von Arbeitnehmern, angefangen von einer speziellen Arbeitskleidung bis hin zur Ausstattung mit mobilen Computern. Die Arbeitszeit setzte sich dann aus wertschöpfender Zeit und Zeit für Qualifikation und Kommunikation zusammen und ermöglichte selbstverständlich eine an Zielvereinbarungen gebundene Entlohnung.

Der Industriesoziologe Kern fasst die neue Qualität der Produktionssubjekte folgendermaßen zusammen: „Die Widersprüche in ihrer realen betrieblichen Existenz zwischen Partizipationszugeständnissen und weitergehenden Unsicherheiten und Restriktionen finden sich wieder im Bewusstsein der Arbeiter. Man lässt sich auf breiter Front auf eine Kooperation mit dem Betrieb ein und beteiligt sich mit dem gewachsenen Selbstbewusstsein des Rationalisierungsexperten am Produktvitätsfortschritt. Dennoch wird darüber die kritische Distanz zum ‘kapitalistischen’ Unternehmen nicht aufgegeben, sondern bleibt auch handlungsleitend. ... Typisch ist eine Art Doppelstruktur: einerseits auf der Basis eines verbesserten Expertenstatus eine erweiterte Bereitschaft, sich die Unternehmenszielsetzung voll zu eigen zu machen, die Außenkonkurrenz gemeinsam zu bewältigen, andererseits das fortbestehende Bewusstsein eines nach wie vor restringierenden Betriebsstatus.“ [18] Im Grundsatz stimmt Voß dieser Bewertung zu, wenn er beim ‘Arbeitskraftunternehmer’ gleichfalls Ambivalenz ausmacht: „Die verstärkte Nutzung von Leistungen und Fähigkeitspotentialen der Arbeitenden ist einerseits nach wie vor als Bereicherung der Arbeit zu sehen, durch die Entfremdungsmomente und bestimmte (v.a. durch Unterforderung oder vereinseitigte Anforderungen bedingte) Belastungen reduziert werden. Andererseits wird aber immer deutlicher, dass dabei keineswegs nur Belastungen abgebaut, sondern zugleich neuartige Formen von Belastungen geschaffen werden (steigende Verantwortung und wachsendes Fehlerisiko, Überkomplexität von Funktionen, Leistungsverdichtung, erhöhte Konflikthaftigkeit von Kooperationszusammenhängen usw.): Und statt des klassischen Problems der Unterforderung entsteht für große Gruppen immer mehr die Gefahr der Überforderungen.“ [19]

3.

Es gibt Elemente einer flexiblen Fabrikorganisation und überbetrieblichen Restrukturierung der Unternehmen. Diese Veränderungen markieren im gesamtgesellschaftlichen Reproduktionsprozess die vorherrschende Entwicklungstendenz. Die Subalternitätsmuster und die über autoritäre Betriebsorganisation erzwungene Disziplin der Beschäftigten lösen sich auf. Allerdings fügen sich diese Bausteine nicht zu einer neuen gesellschaftlichen Betriebsweise zusammen, die den produktionsseitigen Unterbau für ein postfordistisches Akkumulationsmodell abgeben könnte, mit dem die Verteilungsansprüche (Shareholder-value) zu befriedigen wären.

Die Transformation von  Firmenbürokratien in flexible Koordinationszentralen überwindet die Schranken der tayloristisch-fordistischen Betriebsweise nicht. Es gibt flachere Hierarchien, Integration indirekter Bereiche in das unmittelbare Produktionsgeschehen, Team- resp. Gruppenarbeitsmodelle, Dezentralisierung und interne Marktsteuerung, flexible Belegschafts- und Arbeitszeitstrukturen. Durch rationellere Betriebsorganisation werden die Durchlaufzeiten verringert und damit die Umschlagszeit des Kapitals reduziert. Die schöpferischen Potentiale der Beschäftigten werden nur zum Teil erschlossen, weil die Organisation der Arbeit, die Qualifikation, die Partizipation und vor allem die Verteilung der betrieblichen Wertschöpfung letztlich den Belegschaften und ihren Interessenvertretern vorenthalten bleibt. Es bleibt bei Ansätzen, das Produzentenwissen zu mobilisieren und die innerbetrieblichen leistungspolitischen Blockaden zu überwinden. Selbst Dörre, der von einem Übergang in eine neue gesellschaftliche Betriebsweise und einem neuen Akkumulationsregime ausgeht, spricht von einem zentralen Widerspruch: Um informelles Produzentenwissen zu mobilisieren, appelliert die Managementseite beständig an die Subjekthaftigkeit der Beschäftigten. Damit fördert sie Erwartungshaltungen, die im Arbeitsalltag der Partizipanten uneingelöst bleiben. „Die Gruppenorganisation schafft repetitive Teilarbeit nicht ab, sondern reichert sie mit zusätzlichen Tätigkeiten an. Durch Ausnutzung von Center- und Gruppenkonkurrenzen werden leistungspolitische Blockaden aufgelöst ... Während die tayloristische Arbeitsorganisation zur Routinisierung und Habitualisierung des Arbeitshandelns drängt, zielt die flexible Gruppenorganisation auf das Gegenteil. Sie will Routinen aufstören, Leistungsreserven erschließen, permanente Innovationsbereitschaft fördern. Aber sie bietet dafür kein intrinsisches, in den Arbeitsprozessen selbst verankertes Motiv.“ [20]

Die Innovationsfähigkeit dieses Restrukturierungsmodells ist sehr begrenzt. Dies hängt zum einen mit den verbleibenden Bürokratien im Unternehmen  zusammen. Zum anderen damit, dass die Potenzen, die sich aus der perspektivischen Aufhebung der Trennung von Produktion und Entwicklung ergeben, letztlich kaum genutzt werden können, weil im Rahmen des konservativen Arbeitszuschnitts jede Veränderung als Mehrarbeit und Intensivierung zumindest von großen Teilen der Belegschaften erfahren wird. Und schließlich: Ein Mechanismus zur Steuerung von Produktinnovationen ist nirgends erkenntlich. Die Rationalisierungsblockaden des Fordismus-Taylorismus sind noch nicht „aufgehoben“. Kennzeichnend für den erfolgreichen Übergang in eine neue gesellschaftliche Betriebsweise wäre zudem, dass das für den Fordismus prägende Lohnverhältnis - ergänzt durch die sozialstatlichen Transfers - durch eine neue gesamtgesellschaftliche wie betriebliche Verteilungsstruktur abgelöst wird. Dies wäre die Voraussetzung für einen Umbau der materiellen Produktion und der nachgelagerten gesellschaftlichen Verhältnisse.

Lohnbasierte Massennachfrage und sozialstaatliche Umverteilung sind die „eingebauten Stabilisatoren“ des Fordismus, die den industriellen Zyklus steuerbar machen. Die Verschiebung der Einkommens- und Vermögensverteilung zu Lasten der Arbeits- und Sozialeinkommen ist die charakteristische Tendenz der Hegemonie der Finanzmärkte: Die erhöhte Bedeutung der Einkommen aus Wertpapieren und anderen Vermögen – das Merkmal des Shareholder-Kapitalismus – verstärkt die zyklischen Schwankungen und erhöht die systemische Instabilität und Krisenhaftigkeit der hochentwickelten kapitalistischen Gesellschaftsformation.

Der Übergang zum ‘Shareholder-Kapitalismus’ ist selbst ein Ausdruck der Auflösung der fordistischen gesellschaftlichen Betriebs- und Akkumulationsweise. Die Neue Ökonomie stellt also keineswegs einen zyklenübergreifenden Wertschöpfungs- und Verwertungsprozess eines neuen Typus von ‘High-Tech-Kapitalismus’ dar. Deshalb kann für die Entwicklung in der Bundesrepublik keineswegs nur nach einer sozialen Gestaltung des Regimes der Vermögensbesitzer gefragt werden. Gleichwohl gehen sowohl das bürgerliche Lager wie auch die Vertreter der Politik der „neuen Mitte“ davon aus, dass die politische Hauptaufgabe – neben der Vollendung der europäischen Integration und der Überwindung der Unterentwicklung Ostdeutschlands – in der Entwicklung einer für die Neue Ökonomie passenden Sozialstruktur und Zivilgesellschaft besteht. So formuliert der Sozialdemokrat Mosdorf: „Das sich herausbildende Relief der ‘Neuen Ökonomie’ zu untersuchen, ist für die Antwort auf diese Fragen unerlässlich, denn die New Economy entsteht durch die erste Revolution, die nicht in akademischen Clubs oder Salons von gesellschaftlichen Eliten ausgedacht wurde, sondern sie ist eine bottom-up Revolution. Durch neue technologische Möglichkeiten wird nicht nur die Wirtschaft verändert, sondern auch unsere Gesellschaft.“ [21] Zu kritisieren ist dabei die unterliegende Vorstellung: Mit der Verallgemeinerung der neuen Informations- und Kommunikationstechnologie wachsen wir in eine neue Ökonomie und eine neue Gesellschaft hinein. Aus der langen Inkubationszeit des Fordismus und den anhaltenden Suchbewegungen im ‘Postfordismus’ kann man den Schluss ableiten, dass sich ohne gesellschaftliche Regulierung - von der Arbeitsorganisation über Verteilungsverhältnisse bis hin zur Makroökonomie - keine neue gesellschaftliche Betriebsweise und kein neuer Typus von kapitalistischer Gesellschaft herausbilden wird.


[1]    W.F. Haug: Prolegomena zu einer Kritik der Neuen Ökonomie, in: Das Argument 238, Heft 5/6 2000, S. 621.

[2]    Th. Sablonski/S. Alnasseri: Auf dem Weg zu einem finanzgetriebenen Akkumulationsregime?, in: M. Candeias/F. Deppe: Ein neuer Kapitalismus?, Hamburg 2001, S. 132.

[3]    Dazu R. Shiller: Irrationaler Überschwang, Frankfurt/M. 2000; J. Bischoff: Mythen der New Economy, Hamburg 20012; Candeias/Deppe: Ein neuer Kapitalismus, a.a.O.

[4]    Vgl. dazu M. Aglietta: Ein neues Akkumulationsregime, Hamburg 2000; R. Boyer: Is a finance led growth regime a viable alternative to Fordism?, in: Economy and Society, 1/2000; K. Dörre: Gibt es ein nachfordistisches Produktionsmodell?, in: Candeias/Deppe: Ein neuer Kapitalismus?, a.a.O.; J. Hirsch: Weshalb Periodismisierung?, in: ebd.

[5]    Vgl. dazu neben Haug, a.a.O., Candeias, a.a.O., auch P. Glotz: Arbeit in der digitalisierten Ökonomie, in: Neue Züricher Zeitung vom 31. 1. 2001; kritisch zu diesen Argumenten: J. Bischoff: Mythen der New Economy, a.a.O.

[6]    R. Sennett: Der flexibiliserte Mensch, in: Die Wirtschaft in der Gesellschaft, Bern 2000, S. 87.

[7]    Ebd. S. 91.

[8]    G. G. Voß: Das Ende der Teilung von Arbeit und Leben, in: Soziale Welt. Umbrüche gesellschaftlicher Arbeit, Göttingen 1994, S. 270.

[9]    Vgl. dazu J. Bischoff/R. Detje: Zukunft: Shareholder-Gesellschaft?, in: H. J. Bieling u.a.: Flexibler Kapitalismus, Hamburg 2001.

[10] Vgl. ihren Beitrag in diesem Heft.

[11] Vgl. dazu S. Herkommer/M. Mühlhaus: Jenseits der ‘Normalarbeitszeit’?, in: Sozialismus, H. 3/1994; K. Pickshaus: Arbeiten ohne Ende, Hamburg 2001; S. Lehndorff: Weniger ist mehr, Hamburg 2001.

[12] Die in den folgenden Tabellen verwendeten empirischen Daten stammen aus den Ergebnissen des Mikrozensus 2000, veröffentlicht vom Statistischen Bundesamt unter dem Titel „Leben und Arbeiten in Deutschland“ (2001) sowie aus dem Bericht der Projektgruppe „Zukunft der Arbeit“ des SPD-Parteivorstands.

[13] A. Wagner: Krise des Normalarbeitsverhältnisses, in: C. Schäfer: Geringere Löhne, mehr Beschäftigung?, Hamburg 2000, Se. 209. Vgl. auch den Beitrag von A. Wagner in diesem Heft.

[14] Vgl. dazu G. Bosch: Konturen eines neuen Normalarbeitsverhältnisses, in: WSI-Mitteilungen, 4/2001.

[15] G. Bosch, a.a.O., S. 224.

[16] M. Baethge: Abschied vom Industrialismus: Konturen einer neuen gesellschaftlichen Ordnung der Arbeit, in: SOFI-Mitteilungen 28, 2000, S. 99.

[17] J. Kädtler/J. J. Sperling: Worauf beruht und wie wirkt die Herrschaft der Finanzmärkte auf der Ebene von Unternehmen?, in: SOFI-Mitteilungen 29, Juni 2001, S. 24.

[18] H. Kern: Das Lohnarbeiterbewußtsein des ‘Arbeitskraftunternehmers’, in: SOFI-Mitteilungen 27, 1999, S. 63.

[19] G. G. Voß: Das Ende der Teilung von Arbeit und Leben, a.a.O., S. 274.

[20] K. Dörre: Gibt es ein postfordistisches Produktionsmodell?, a.a.O., S. 84.

[21] S. Mosdorf: New Economy und Zivile Bürgergesellschaft, in: Neue Gesellschaft, H. 3, 2001, S. 166.

 

Editorische Anmerkungen:

Der Artikel erschien als Printversion in Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung Heft 47, September 2001, 12. Jhrg. und ist eine Spiegelung von
http://www.zeitschrift-marxistische-erneuerung.de/archiv/xxinfo/h047s150.html