Nach dem Spiel
ist vor dem Spiel

Nachbereitungstext des Vorbereitungsbündnisses der Berliner Revolutionären 1.Mai-Demo (18 Uhr)
06/02
 

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Der 1.Mai 2002 ist vorbei, und das erste erstaunliche Fazit könnte sein, daß alle zufrieden sind, denn alle haben gewonnen: Die Regierung hat gewonnen, weil die Deeskalationspolitik erfolgreich war. Die rechte Opposition hat gewonnen, weil die Deeskalationspolitik gescheitert ist. Wer Randale wollte, hat gewonnen, weil es heftige Randale gab. Wer keine Randale wollte, hat gewonnen, weil die Randale zumindest im Pressespiegel wahlweise angeblich "weniger schlimm als 2001" war oder "nun niemand mehr behaupten kann, sie sei politisch motiviert". Die radikale Linke hat gewonnen, weil es ihr gelang, zwei große Demonstrationen durchzuführen, die jeweils ohne nennenswerte interne Konflikte verliefen. Die 18-Uhr-Demo-Fraktion hat gewonnen, weil es ihr trotz der Kreuzberg-Fixierung der (auch linken) Öffentlichkeit gelang, die Demo vom Rosa-Luxemburg-Platz als größte revolutionäre 1.Mai-Demonstration zu organisieren. Die 16-Uhr-Demo-Fraktion hat gewonnen, weil es ihr gelang, in Konkurrenz zum inzwischen traditionellen 18-Uhr-Termin eine gut-besuchte Demo zu organisieren. Selbst die RIM-Sekte hat gewonnen, weil sie im Rahmen der 16-Uhr-Demo bei einigen Linken wieder bündnisfähig gemacht wurde. Was aber folgt aus all diesen Siegen?

1. Zur Vorgeschichte des 1.Mai 2002

Wir wollen hier nicht jedes Detail der letzten Monate wiederkäuen. Aber zum Verständnis der Geschehnisse ist es schon notwendig, etwas zurückzublicken. Unter den politischen Bedingungen einer CDU-SPD-Koalition in Berlin war auch für 2002 sicher von einem erneuten Verbot der revolutionären 1.Mai Demo auszugehen, Sowohl auf juristischer als auch auf parteipolitischer Ebene waren die Weichen dafür gestellt. Die Ankündigung der Sicherheitsbehörden, eine solche Strategie müsse ein paar Jahre lang durchgezogen werden, um zu wirken, zeigte deutlich, daß auch die durch das Verbot ausgelöste heftige Randale einkalkuliert war. Es stellte sich also die Frage, wie ein solches Demo-Verbot zu bekämpfen war. Die radikale Unke in Berlin hatte und hat zur Zeit nicht die Stärke, eine große Demonstration auf der Straße gegen die Polizei durchzusetzen, Es gab daher schon kurz nach dem 1 .Mai 2001 die ersten Überlegungen, politischen Druck zu erzeugen durch ein Bündnis mit linksliberalen Kräften. Daraus entstand letztlich das "Personenbündnis Denk Mai Neu". Dessen durchaus unterschiedliche Zusammensetzung und Zielsetzung ist anderswo des längeren und breiteren diskutiert worden. Durch die SPD-PDS-Koalition verschoben sich die politischen Gewichte, und das Verbot der Demonstration wurde nun sehr viel unwahrscheinlicher. Allerdings blieb es als Drohung im Raum stehen, denn auf juristischer Ebene war es nach wie vor durchsetzbar, In dieser Situation verlor das "Personenbündnis" als Schutzgarant für das Zustandekommen der Demo an Bedeutung. Ein anderer Ansatz in diesem Bündnis, nämlich die sogenannte Repolitisierung des 1.Mai, wurde dagegen sehr dominant. Dieser Begriff war unglücklich gewählt, denn er unterstellte einen unpolitisch gewordenen 1.Mai, was in dieser Verkürzung falsch ist.

Die Idee, am 1 .Ma'f in Kreuzberg neben dem eher konsum-orientierten Fest am Mariannenplatz, das zudem von Regierungsparteien (Kreuzberger Grüne/ PDS) finanziert wird, ein parteienunabhängiges politisches Spektakel mit Bühnen, Diskussionen und Austausch unter Unken zu schaffen, klang erst einmal gut und interessant. Daß dabei auch reformistische Ideen vertreten werden würden, war klar und eine Herausforderung an die Überzeugungs- und Mobilisierungsfähigkeit der radikalen Linken - schließlich, wie wollen wir mehr werden, wenn nicht durch Überzeugungskraft in der Debatte mit anderen, die noch nicht bei uns sind? Wir sind uns bewußt, daß das Waschen von Schmutzwäsche in der innerlinken Debatte ebenso traditionell wie nervtötend ist, und haben uns deshalb um Zurückhaltung bemüht, Ein paar unfreundliche Worte wollen wir im Rückblick aber doch dazu sagen. Statt sich auf eine Diskussion einzulassen, haben einige linke Gruppen sofort mit einer aggressiven und teilweise verleumderischen Kampagne reagiert, die sich vor allem gegen den FU-Prof. Grottian und die Antifaschistische Aktion Berlin richtete. Es wurde eine innerlinke Schlammschlacht losgetreten, in der auch zwischen dem "Personenbündnis" und der 18-Uhr-Demo bewußt kein Unterschied gemacht wurde, obwohl immer klar war, daß diese Demonstration unabhängig vom "Personenbündnis" organisiert wird (so war auch von den sieben Berliner Gruppen, die sich an der Vorbereitung bzw. Mobilisierung beteiligten, genau eine im "Personenbündnis" vertreten, nämlich die AAB). Schließlich wurde eine Konkurrenz-Demonstration beschlossen, die sich gegen das "Befriedungsprojekt" richtete. Da der einzige unmißverständliche Befriedungsaspekt des "Personenbündnisses" die Absage an Randale war, mußte im Umkehrschluß gefolgert werden, daß der politische Inhalt des 1 .Mai am Ausmaß der Randale zu messen sei - eine Folgerung, die wir absurd finden und die wohl auch von den Vertreterinnen der 16-Uhr-Demo zurückgewiesen wird, ohne daß sie indessen eine andere Auslegung anzubieten hatten. In einem später nachgeschobenen Text des "Gegeninformationsbüro" wurde in einem argumentativen Spagat versucht, Reformismus, Aufstandsbekämpfung und das "Personenbündnis" in einem Topf zu verrühren, was aber gründlich mißlang. Außer starken radikalen Worten, der Abgrenzung von anderen linken Gruppen und dem Hahnenkampf um die "wahre" revolutionäre Linie hatte das 16-Uhr-Bündnis in unseren Augen kein politisches Konzept anzubieten, das eine Abspaltung von der traditionellen Demonstration notwendig machte. Aber dazu braucht es ja auch nicht zwei Seiten, sondern nur eine. Nun ist es eben so gekommen. Daß einige Gruppen der 16-Uhr-Demo nach der von ihnen selbst eröffneten Schlammschlacht, die von keiner der am 18-Uhr-Bündnis beteiligten Gruppen erwidert wurde, später über ebendiese Schlammschlacht klagten und von uns eine öffentliche Erklärung zu deren Beendigung einfordern wollten, ist mehr ein Treppenwitz der linken Kleingeschichte. Wie bekannt, ist das "Personenbündnis'-Konzept letztlich gescheitert, nicht zuletzt weil es gegen die Interessen des Innensenats nicht durchsetzbar war.

Ein weiterer Unsicherheitsfaktor war die Eskalation des Nahost-Konflikts und die damit einhergehende Polarisierung innerhalb der radikalen Unken zum Thema Antisemitismus. Viele befürchteten (einige wünschten sogar) einen Showdown der radikalen Fraktionen auf der Mai-Demo, manche vermischten den Konflikt um die beiden Demo-Termine damit und prophezeiten wechselweise für 16 Uhr eine antisemitische Palästina-Demo oder für 18 Uhr eine antideutsche Israel-Demo, Auch wir diskutierten bis zuletzt über mögliche oder nötige Positionierungen, sowohl innerhalb der Gruppen als auch als Demo-Bündnis. Eine Gruppe verließ leider die Vorbereitung, weil es keine ihren Vorstellungen entsprechende Einigung auf eine öffentliche Erklärung gab. Eine Verständigung über mögliche linke Positionen im Nahost-Konflikt erwies sich als leichter als eine über die aktuellen Umgangs- und Diskussionsformen innerhalb der Linken. Die eskalierenden Ereignisse, wie etwa der Angriff auf die "Bahamas"-Veranstaltung zu Israel oder der 13./14.April mit Pro-Palästina- und Pro-Israel- Demo in Berlin ließen uns das schlimmste befürchten. Wir haben letztlich unsere Position nicht veröffentlicht, sondern nur als eigene Eingriffs-Grundlage für die Demoleitung definiert: weil wir innerhalb der beteiligten Gruppen keinen Konsens fanden, was die aktuellen Polarisiemngen innerhalb der Linken angeht, aber auch, weil wir weiterhin glauben, daß radikale Linke selbst denkfähig genug sind, sich auseinanderzusetzen und zu positionieren. Die Frage, welche Nationalflaggen auf linken Demos ihren Platz haben können, oder welche Absichten und Gedanken hinter Parolen wie "Solidarität mit Israel" oder 'Palästina muß leben" stehen, müssen in der gesamten Linken diskutiert werden, und zwar ohne gegenseitige Denunziation und ohne Gewalt.

Schließlich nahm in der letzten Phase vor dem 1 .Mai die Möglichkeit eines Demonstrationsverbotes wieder Gestalt an. Die verschiedenen Anmeldungen in Kreuzberg hätten sich nicht gegenseitig blockieren müssen, wenn die jeweiligen Anmelder kooperativ miteinander umgegangen wären. Aber die Situation war inzwischen völlig festgefahren, und neben den politischen Gegensätzen gab es dazu noch Mißverständnisse. Die einen glaubten, von den anderen blockiert zu werden, und umgekehrt, Die Polizei saß als lachender Dritter daneben und sagte: Nun einigt euch mal schön. Die geplante Veranstaltung des "Personenbündnisses" am Oranienplatz wurde von der 13-Uhr-Anmeldung blockiert, die ankündigte, den Platz stundenlang besetzt zu halten. Die 16-Uhr-Demo war bis 21 Uhr 30 (!) angemeldet und blockierte den ganzen Kiez zwischen Mariannenplatz und Skalitzer Straße. Die von der 18-Uhr-Demo geplante Route nach Mitte wurde von der Polizei verboten, so daß als Alternative nur noch der Weg nach Neukölln freizubleiben schien. In dieser Situation war zu befürchten, daß die räumliche und zeitliche Nähe der Demos und die Abstimmungsprobleme zwangsläufig zu Streß führen würden, und dabei würde die Polizei bestimmt nicht zur Klärung beitragen, sondern die Situation eher verschärfen. In dieser vertrackten Lage entschieden wir die Verlegung des Demo-Beginns zum Rosa-Luxemburg-Platz (praktischerweise kurz nachdem Flugis und Plakate fertig gedruckt waren). Die Route durch Mitte war für uns aus politischen Gründen essenziell: die Demo sollte sich dort artikulieren, wo es politisch weh tut, also am Auswärtigen Amt, am Haus der deutschen Industrie, am Roten Rathaus. Uns war klar, daß dies nur sehr schwer durchsetzbar sein würde. Entgegen den Vermutungen mancher Kritikerinnen war die Polizei sehr daran interessiert, uns im Kiez zu halten und damit den politischen Erfolg einer revolutionären Mai-Demo durchs Regierungsviertel zu verhindern. Bis zuletzt hat die Polizeiführung versucht, die Demo durch Mitte zu verhindern. Das Engagement des 'Personenbündnisses" und der 'Humanistischen Union", der politische Druck durch Teile der PDS auf den Innensenat und nicht zuletzt die Sorge vor einer Eskalation durch ein faktisches Demo-Verbot gaben schließlich den Ausschlag für eine Kompromiß-Route. Diese Route war sicherlich nicht unser Traumergebnis denn wir konnten letztlich die "Objekte unserer Begierde" nicht erreichen, und der Weg über breite Ausfallstraßen und vorbei an anonymen Hochhäusern ist auch nicht gerade eine ideale Wegstrecke (wobei das leider für nahezu jede Verbindung zwischen Mitte und Kreuzberg gilt). Wir waren und sind aber der Ansicht, daß der politische Effekt, die Demo durch Mitte durchgesetzt zu haben, wichtiger ist, auch für künftige Demonstrationen. Schließlich gehen wir nicht aus Gemütlichkeit auf eine Demo, sondern weil wir etwas mitzuteilen haben, und das geht auch auf breiten Straßen.

2. Der 1.Mai selbst

Wir wollen uns hier auf die Demo vom Rosa-Luxemburg-Platz beschränken. Zuerst einmal: Super, daß ihr da wart! Wieder einmal hat sich gezeigt, daß die revolutionäre 1.Mai-Demonstration nicht so einfach kleinzukriegen ist. Unser erstes Fazit hinterher war, daß wir sehr zufrieden und, in Bezug auf die Befürchtungen im Vorfeld, erleichtert waren. Angesichts der oben beschriebenen Querelen war es keine Selbstverständlichkeit, daß rund 10.000 Menschen durch Mitte zogen, daß die Stimmung auf der Demo weitgehend entspannt war und daß wir bis (fast) nach Kreuzberg kamen. Die befürchteten innerlinken Fraktionskämpfe fanden nicht statt. Einen Angriff der Polizei auf die Demo gab es bis zum Michaelkirchplatz auch nicht - wir hatten es für möglich gehalten, daß im Falle von Randale im Kreuzberger Kiez die Polizei die Demo vorher schon angreifen und auslösen könnte. Die Stimmung auf der Demo war auch deswegen gelöst, weil die Polizei sich vom Demozug weghielt - kein Grund zu übertriebener Dankbarkeit, sondern viel mehr zur Feststellung, wie in den letzten Jahren der ständige aggressive Druck der Polizei auf unsere Demos sich ausgewirkt hat auf die Stimmung, die dadurch oft angespannt war. Mit den über Lautsprecher übertragenen Live-Schaltungen nach Buenos Aires, San Francisco, Bogota, Paris und Milano zu den dortigen Mai-Demonstrationen wurde etwas "global resistance" spürbar -was der oft selbstbezogenen Berliner Demokultur auch nicht schaden kann!

Die Bankgesellschaft am Alexanderplatz hatte die Polizei zum neuralgischen Punkt erklärt. Leider kam der Redebeitrag etwas zu spät, und viele haben es scheinbar gar nicht richtig mitbekommen, daß sie da an einem Haus vorbeikamen, das von der Polizei aus gutem Grund so massiv geschützt wird? Als die Demo-Spitze schon kurz vor der Köpenicker Str. war, erwies sich, daß die Polizei die Heinrich-Heine-Str. abgeriegelt hatte und uns das Weitergehen zum Oranienplatz verwehrte. Zu diesem Zeitpunkt wußten wir, daß es im Kiez geknallt hatte (das war auch über den Lautsprecherwagen mitgeteilt worden), gingen aber davon aus, daß die Lage sich wieder beruhigt hatte. Dennoch machte die Polizei die Auflage, daß die Demo zum Michaelkirchplatz umgeleitet werden muß. Wir erfuhren, daß dort bereits schweres Gerät und einige Hundertschaften aufgebaut wurden für einen Kessel. Die einzige Alternative wäre jetzt eine sofortige Auflösung der Demo gewesen, was uns aber zu riskant erschien. In der engen Brückenstr. Wäre die Demospitze möglicherweise aufgerollt worden, in der Heinrich-Heine-Str. warteten schon auf beiden Seiten starke Polizei-Einheiten. Der hintere Teil der Demo wußte nicht Bescheid und konnte auch nicht sehen, was sich abspielte jenseits der Jannowitzbrücke. Die große Kreuzung vor der Jannowitzbrücke, die wir als vielleicht unangenehmsten Ort für einen Angriff durch die Polizei angesehen hatten, war voll mit Menschen. Demgegenüber schätzten wir einen Polizeikessel auf dem Michaelkirchplatz als das kleinere Übel ein, weil klar war, daß er angesichts der lausenden von Menschen, die nachströmten, keinen Bestand haben würde, und weil er so nahe wie möglich am Kreuzberger Kiez lag und damit bessere Abstrom- und Ausweichmöglichkeiten bot. Darum wurde die Demo weitergeführt bis zum Platz, Natürlich wären wir sehr viel lieber als starke Demo geschlossen in den Kiez gekommen, aber es war klar, daß das in einer wüsten Konfrontation geendet hätte, die wir vermutlich auch nicht hätten gewinnen können, selbst wenn es gewollt gewesen wäre. Als der Lautsprecherwagen auf den Platz rollte, hörten wir, daß es vorne an der Spitze bereits Auseinandersetzungen gebe. Die Polizei verhielt sich konfus, es gab von dort keine klaren Ansagen mehr, in welche Richtung die Leute denn den Platz verlassen könnten. Unser Eindruck war, daß es keinen geplanten hermetischen Kessel gab, sondern lediglich den unvollkommenen Versuch, die Leute möglichst vom Kiez wegzuhalten und irgendwie zu beschäftigen. Aufgrund der eskalierenden Lage beschlossen wir, keine Kundgebung mehr abzuhalten, sondern die Demo sofort zu beenden -eine weitere Verzögerung hätte in unseren Augen nur eine weitere Stabilisierung des Polizeikessels bedeutet, und genaue Informationen zur Lage, die wir hätten durchgeben können, bekamen wir nicht mehr.

3. Kritik und Selbstkritik

.Am konkreten Verlauf der Demo gibt es natürlich auch einiges auszusetzen.

- Ein zentraler Punkt ist, daß eine Demo dieser Größenordnung letztlich nicht von so wenigen Gruppen angemessen vorbereitet und gestaltet werden kann. Die notwendigen technischen Arbeiten und Verpflichtungen binden viele Menschen, und es kostet alles viel Geld. Die Bilanz vom 1.Mai 2002 ist deswegen auch: einige tausend Euro Schulden und ein paar ziemlich ausgepowerte Leute, Vieles, was ein Demo-Bündnis eigentlich leisten können sollte, konnte von uns nicht gewährleistet werden.

- So war es zwar ganz am Anfang einmal möglich, mehrere erkannte Nazis aus der Demo zu entfernen, aber es konnte nicht kontrolliert werden, ob diese sich später an anderer Stelle wieder einschlichen. Im Vergleich zur Gesamtzahl der Teilnehmerinnen sind das Einzelfälle, die verständlicherweise für viel Wirbel und Empörung bei Linken sorgen. Sie lassen sich aber nur auf zwei Wegen verhindern, entweder durch ein starkes Ordnerinnen-System (was eigentlich unerwünscht ist) oder durch mehr organisierte und aufmerksame Demo-Teilnehmerinnen,

- Die Teilnahme von Schaulustigen, Spaziergängerinnen und Leuten, denen der politische Ausdruck der Demo unwichtig ist, ist nicht neu, hat aber in den letzten Jahren zugenommen. Die Anwesenheit von Jungmännern aus dem Hooligan-Bereich stellt ein Problem dar. Hools sind nicht gleich Nazis, wie manche zu glauben scheinen, aber ihr sexistisches und aggressives .Macho-Gehabe ist schlimm genug und auf einer linken Demo fehl am Platze.

- Eine Demo dieser Größe braucht auch mehrere Lautsprecherwagen. Ein zweiter geplanter Lauti war kurzfristig ausgefallen, Der Lauti sollte möglichst an der Spitze fahren, da er fast nur nach hinten abstrahlte, wurde aber - wie so oft - während der Demo von vielen Menschen überholt, so daß er letztlich "nur" im vorderen Drittel fuhr. Die Anlage war zudem schlecht aufgebaut. Dadurch konnte nur ein kleiner Teil der Demo die Durchsagen mitbekommen.

- Die Demo ist zu spät losgegangen. Obwohl wir geplant hatten, nicht so lange wie in den letzten Jahren zu warten, hat es am 'Ende sogar noch länger als sonst gedauert, In dem Bedürfnis, es vielen recht zu machen, wurde das Vorprogramm zu voll gestopft: Vor' der Demo eine Kundgebung mit u.a. Vertretern des "Personenbündnis', dann noch Live-Konzert und schließlich eine Auftaktkundgebung - das war einfach zuviel Programm.

- Am Michaelkirchplatz selbst haben wir, wie schon erwähnt, keinen Überblick über die gesamte Situation mehr gehabt, was unserem Eindruck nach aber für alle (incl. der Polizei) galt. Unser Meldesystem hat hier zu früh den Geist aufgegeben.

- Auffällig an der Demo war der Mangel an Transparenten, Parolen, anderen Ausdrucksformen. Offenbar genügt es vielen, sich hinter ein paar Leittransparenten, dem Lautsprecherwagen und dem Demo-Aufruf zu versammeln und zu hoffen, es werde sich schon nach außen irgendwie vermitteln, wofür sie unterwegs sind. Auch hier kann es nur besser werden, wenn viele sich selbst einbringen. Wir fragen uns, ob es nur noch so wenige organisierte Gruppen gibt, die ein Interesse an einer inhaltlichen Mitwirkung haben? Oder ob die Gruppen einfach den 1 .Mai nicht mehr so wichtig finden? Scheinbar gibt es eine deutliche Aufteilung zwischen den sehr mitteilungsbereiten, eher dogmatischen Gruppen, die mit vielen Fahnen und Transparenten das Bild der kleineren Demo in Kreuzberg bestimmten, und den eher konsumistischen undogmatischen "Massen"?!?

4. Fazit

Für einen kurzen Moment war im Frühjahr die Möglichkeit einer neuen politischen Qualität des revolutionären 1.Mai spürbar: Und zwar nicht, wie die Kritikerinnen meinen, eine Befriedung und Umleitung In reformistische Fahrwasser, sondern eine Erweiterung der politischen Ausstrahlung. In der jetzigen Form wird der Berliner 1.Mai immer mehr zu einer Club-Veranstaltung, an der nur diejenigen teilnehmen, die irgendwie immer schon dabei sind oder die wegen der Action kommen und danach wieder verschwunden sind. Um das politische Versprechen der Erneuerung einzulösen, bedarf es aber einer starken, selbstbewußten und kreativen radikalen Linken. Die Wirklichkeit ist zur Zeit eher von Grabenkämpfen, Perspektivlosigkeit und Tristesse geprägt. Darum ist es nicht verwunderlich, wenn am Ende der Erfolg des revolutionären 1.Mai darin bestand, daß es wenigstens so blieb wie es vorher war und nicht weiter bergab ging. Es kann ja wohl niemandem genug sein, jedes Jahr eine große Demonstration zu haben und erleichtert festzustellen, daß es weiterhin mehr oder weniger 10.000 sind, die daran teilnehmen. Wir können heute noch nicht sagen, wie für uns ein 1.Mai 2003 aussehen kann oder soll. Wir rufen euch alle auf, die Diskussion darüber jetzt zu beginnen. Wohin geht unsere Reise? Machen wir 2003 eine größere, gemeinsame, stärkere, lautere, vielfältigere Demo, bei der politische Inhalte wieder sichtbarer werden? Steht ein neuer "Autonomie"-Kongreß an, um die auseinanderlaufenden Strömungen wieder mehr in Kontakt zu bringen? Veranstalten wir aus eigener Kraft (ohne "Personenbündnisse', aber mit Bündnissen) ein großes linksradikales politisches "Kulturrevolutions'-Festival, mit Diskussionen, Ausstellungen, Konzerten, Kunst, Veranstaltungen, Seminaren und so weiter? Laden wir die globale "Multitude" nach Kreuzberg ein? Oder überläßt die undogmatische radikale Linke den Tag den dogmatischen ML-Gruppen plus Anhang und konzentriert sich auf andere Schwerpunkte?

Sagt uns, was ihr denkt! Liegen wir völlig falsch? Sind wir zu pessimistisch? Haben wir wichtige Aspekte vergessen? Teilt mit, was euch verrückt macht!

für das Vorbereitungs-Bündnis der Demonstration:
Antifaschistische Aktion Berlin [AAB]
Für eine linke Strömung (FelS)
autopool
Rote Antifa Reinickendorf (RAR)


Editorische Anmerkungen:

Der Text
wurde erschien in der Interim 551 vom 6.6.2002.
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