Unerwünschte Nebenwirkungen

von
Meinhard Creydt
06/02
 

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Zum Attac-Aktionstag ›Gesundheit ist keine Ware‹ am 15.6.2002
Kritik an der Attac-Zeitung zur Privatisierung im Gesundheitswesen
(Beilage zur Taz vom 25.4.2002)

Die Attac-Zeitung zur Privatisierung im Gesundheitswesen enthält neben vielen bedenkenswerten Argumenten eine bedenkliche Grundausrichtung (a) und ein selbst von erfahrenen Torwarten wie Oliver Kahn nicht zu haltendes Eigentor (b). Der schnelleren Orientierung halber ›verbanne‹ ich materiale Belegstücke für meine Argumentation in Anmerkungen.

a) Zum Leitartikel ›Globalisierung schreddert Sozialsysteme‹

Auf S. 2 heißt es, ob nach den mit Globalisierung und Privatisierung zu erwartenden Reformen im Gesundheitswesen »noch ein vertrauensvolles Arzt-PatientInnenverhältnis entstehen kann, bleibt zweifelhaft«.

Es ist richtig, zukünftige Verschlechterungen anzugreifen. Für diese Kritik darf aber nicht die Gegenwart des Gesundheitswesens schöngeredet werden. Um Schönrednerei handelt es sich bei der Annahme, in der Gegenwart sei ein »vertrauensvolles Arzt-Patientenverhältnis« noch einigermaßen wahrscheinlich oder selbstverständlich. Warum vor den zu erwartenden Verschlechterungen angesichts 3-Minuten-Medizin in vielen Sprechstunden oder angesichts einer sehr hohen, durch Ärzte mitverschuldeten Medikamentenabhängigkeit* von einem vertrauensvollen Verhältnis zwischen Arzt und Patient als zu unterstellender Tatsache geredet werden kann, ist sachlich nicht nachvollziehbar. Schon die simple Lebenserfahrung zeigt: Wer auf der Suche bspw. nach einem guten Orthopäden ist, muß feststellen, daß er - wenn überhaupt - erst nach langer
Suche und nach Ausprobieren verschiedener Ärzte auf jemand stößt, zu dem ein
vertrauenswürdiges Verhältnis möglich ist. Dieses vertrauenswürdige Verhältnis scheint also auch schon in der Vergangenheit und Gegenwart nicht die Regel zu sein und ist nicht erst in der Zukunft bedroht.

Dem am 3.6. in Berlin vorgestellten Arzneimittelreport 2002 der Gmünder Ersatzkasse (GEK) zufolge sterben schätzungsweise jährlich 25.000 Menschen in Deutschland, »weil sie aufgrund mangelhafter Informationen für Ärzte falsche Medikamente einnehmen« (Weser-Kurier, Bremen 4.6. 2002, S. 1). D.h.: Selbst wenn das Arzt-Patient-Verhältnis vertrauenvoll wäre, sagt dies noch nicht unbedingt  etwas aus über den Inhalt, um den es in ihm geht. Es ließen sich vor dem Hintergrund von 30 Jahren Kritik an Medizin und Gesundheitswesen noch andere massive Phänomene auflisten, die zu der in der Attac-Zeitung harmlos bemühten Annahme eines vertrauensvollen Arzt-Patienten-Verhältnis im Gegensatz stehen.

Es zeigt sich an dieser Stelle nicht nur, daß die Verbindung, die von Globalisierung über Privatisierung zum Gesundheitswesen gezogen wird, nicht sorgfältig gearbeitet ist. Darüberhinaus wird ein grundlegenderes Problem deutlich, vor dem (Einpunkt?-)Bewegungen wie Attac stehen. Es scheint für solche Bewegungen sozusagen agitatorisch notwendig zu sein, das von in ihnen
artikulierte Thema (hier also: Globalisierung) als Ursache einer Verschlechterung von allem und jedem auszugeben. Darüberhinaus liegt es dann auch nahe, die Probleme des jeweiligen Sektors (hier: des Gesundheitswesens) so vorzustellen, als ob das Thema der Bewegung auch für den jeweiligen Sektor im Vordergrund steht. Sicher ist es immer notwendig, sich thematisch zu
konzentrieren. Ebenso unstrittig ist, daß sich nicht über alles in einer Zeitung reden läßt. Umso dringlicher wird dann aber die Sorgfalt dafür, bei der Agitation für das eigene Anliegen nicht Argumente aufzubieten, die in anderer Hinsicht mehr als problematisch sind. Ähnlich wie bei Arzneimitteln ist dann nämlich die sog. Nebenwirkung schnell das Hauptproblem. Es stellt sich
auch einfach die Frage, ob es glaubwürdig wirkt, wenn man so tut, als würden die Übel
von gesellschaftlichen Sektoren wie hier dem Gesundheitswesen vor allem dem Bewegungsthema (hier: Globalisierung) zuzuschreiben. Es entsteht dann z.B. für das Gesundheitswesen der Persilschein, die Probleme kämen allein oder hauptsächlich von außen auf es zu.

Plausibel ist bspw. der Satz auf S. 1, »das neue, ausschließlich auf Pauschalen basierende Abrechnungssystem in den Krankenhäusern ... zerlegt Patienten in eine Summe abrechenbarer Diagnosen«. Übergangen wird aber, daß auch v o r diesen neuen Abrechnungssystemen ein wesentliches Problem der Arbeit vieler Mediziner ihre Konzentration auf einzelne Körperfunktionen** und die Vernachlässigung ›ganzheitlicherer‹ und präventiver Maßnahmen ist.***

Die Attac-Zeitung übergeht die für das gegenwärtige Krankheits- bzw. Gesundheitsverständnis zentrale Delegation der Aufmerksamkeit für Gesundheit an das Medizinsystem. Insofern das Gesundheitswesen immer schon als vermeintlicher Nothelfer in allen gesundheitlichen Nöten bereitsteht, gerät die gesellschaftliche Beachtung der gesundheitlichen Dimension in der Einrichtung und Gestaltung von  Arbeiten, Techniken, Produkten usw. in den Hintergrund. Umgekehrt fühlen sich Gesundheitsarbeiter für soziale Problem nicht zuständig.****

Um es in einer Formel zu sagen: Es gibt eine Art Verwandtschaft zwischen dem homo oeconomicus des Neoliberalismus und dem homo biologicus der meisten Mediziner. Wer vom Gesundheitswesen redet und diese Verwandtschaft verschweigt, springt zu kurz, wenn er das Motto des Gesundheitsaktionstages von Attac erklären soll (›Gesundheit ist keine Ware‹).

b) Zum Artikel von Prof. Rolf Rosenbrock auf S. 2

Dieser Artikel enthält ein massives Eigentor gleich im ersten Satz. Er lautet: »Funktionierende Konkurrenz zwischen eigennützigen Wirtschaftssubjekten gilt zu Recht als der verlässlichste Anreiz für Innovation und niedrige Preise.«

Wie unterscheidet sich dieser Satz von zentralen Dogmen des ja von Attac angegriffenen ›Neoliberalismus‹? Welches inhaltliche Moment dieses Satzes ist keine Tarnformel für Zumutungen des für Profit und auf Kosten der Menschen strukturierten Erwerbs- und Geschäftslebens? Wie kann man umstandslos für »Konkurrenz« und für »Innovation« eintreten, wenn man sich bspw. die gesundheitlichen Effekte der in der Konkurrenz der »eigennützigen Wirtschaftssubjekte« der Chemiebranche hektisch hervorgebrachten »Innovationen« (also: das Angebot neuer Stoffe) vergegenwärtigt? Das Innovationstempo übersteigt die Erkenntnismöglichkeiten der Giftkundler. Auch dies führt bei Zulassungsverfahren dazu, daß man das, was nicht kennt, auch nicht verbieten  kann. Es kommen jede Menge gesundheitsschädliche Stoffe in Umlauf. *****

Vgl. zu einer Kritik zentraler Marktideologien auf dem gegenwärtigen Stand der Sozialwissenschaft auch das inhaltlich gehaltvolle und gut verständliche Buch von Klaus Krämer: Der Markt der Gesellschaft. Opladen (Westdeutscher Verlag) 1997, S. 171ff.

Auf S. 4 der Attac-Zeitung heißt es: »Attac versteht sich als Bildungsbewegung mit Aktionscharakter und Expertise.« Ebenso heißt es: »Eine andere Welt ist möglich!« (S. 1, 3). Damit sind Maßstäbe formuliert, an denen die Artikel der Zeitung zu messen sind. Die dargestellten problematischen Passagen der Zeitung widersprechen diesen beiden Maßstäben.

ANMERKUNGEN:

* Die Konzentration auf Symptombehandlung begünstigt Medikamentenabhängigkeit. Innerhalb der gesetzlichen Krankenversicherung sind einer repräsentativen Studie des Bundesverbandes der Innungskrankenkassen (IKK) vom Dezember 1993 zufolge mindestens 1,4 Millionen Menschen arzneimittelsüchtig, allein 850.000 von Beruhigungs- und Schlafmitteln (Psychologie Heute 7/1994, S. 53). Sie werden zunächst gegen Angstzustände und Schlaflosigkeit eingenommen und erzeugen diese dann, wenn sie abgesetzt werden sollen. Unerwünschte Arzneimittelwirkungen sind für fast 23% der Krankenhausaufenthalte ältererer Menschen verantwortlich (Bild Berlin 28.7.99 S. 9).

** Ich zitiere extra den in der Friedensbewegung und wahrscheinlich auch bei Attac hochbeliebten Horst Eberhard Richter, um zu vergegenwärtigen, daß genau die selben Phänomene, die der hier zitierte Artikel aus der Attac-Zeitung zu erwartenden Verschlechterungen zuschreibt, bereits 1979 an der (damaligen) Gegenwart des Gesundheitswesens kritisiert wurden: »Ausstattung und Betrieb der  Kliniken erinnern kaum mehr daran, daß hier menschliche Ängste und menschliche Schmerzen in brennpunktartiger Konzentration zu versorgen sind. Das Klinikleben wird durch Prozesse bestimmt, die vorrangig dafür sorgen, daß die Patienten für die Verarbeitung und Auswertung durch eine Fülle von Geräten zubereitet und diesen fließbandartig überstellt werden. Richtig integriert sind die Kranken vielfach erst, wenn sie sich nach Tagen oder Wochen gleichsam in eine Ansammlung  von abstrakten chemischen, elektrophysiologischen und nuklearmedizinischen Zahlenwerten verwandelt haben. Es ist die Ausnahme, so zeigen medizinsoziologische Untersuchungen, daß ein Klinikinsasse pro Tag fünf Minuten Zeit bekommt, um mit Arzt und Schwestern zu sprechen« (Horst-Eberhard Richter: Der Gotteskomplex. Reinbek bei Hamburg 1979, S. 173f.).

*** Der Medizinsoziologe Prof. Hans-Ulrich Deppe spricht davon, daß »sich rund 25 - 30% der heutigen Gesundheitsausgaben in Deutschland durch langfristige Prävention und Gesundheitsförderung vermeiden lassen.« Und: »Es ist richtig, daß die Arbeitsbedingungen der krankmachende Faktor Nr. 1 sind. ... Es sind offensichtlich viel mehr Krankheiten durch Arbeit verursache, als offiziell anerkannt wird« (Interview in: Neues Deutschland, 7.5. 2002, S. 11).

**** Ich habe diese These ausgeführt in einem kurzen (9 S.) Text (›Medizin des Gesundheitswesens‹), den ich auf Anfrage gern zuschicke ( m.creydt@t-online.de ). Vgl. a. www.kalaschnikow.net/de/archiv/a15/a15creydt.shtml

***** Die Chemieindustrie überfordert mit der (einem enormen Produktionsdruck folgenden) rasanten Freisetzung von neuen Stoffen die Erkenntnismöglichkeiten der Giftkundler (vgl. Alsen, Carsten; Wassermann, Otmar 1986: Die gesellschaftspolitische Relevanz der Umwelttoxikologie. IIUG-rep- 86-5, Berlin, S. 16). »Nicht aus den Schornsteinen und Abwasserrohren der Industrie entweicht heute der größte Teil der Chemikalien, die Menschen und Umwelt gefährden. Sie stammen vor allem aus den produzierten Waren: Flammschutzmittel aus Autopolstern und Computern, Weichmacher aus Kinderspielzeug und Farben, hormonähnliche Substanzen aus Reinigungsmitteln und Unkrautvernichtern. Wo all diese Stoffe bleiben und was sie anrichten, ist weitgehend unbekannt.

›Toxic Ignorance‹ lautete der Titel einer Studie, die der U.S. Environmental Defense Fund vor einem Jahr veröffentlichte. Sie zeigte, daß amerikanische Behörden höchst wenig über die dort auf dem Markt befindlichen Chemikalien wissen. In Europa existiert zwar eine umfangreiche Gesetzgebung zum Chemikalienrecht. Doch Gerd Winter, Experte für Umweltrecht an der Uni Bremen, stellte Ende April auf der Tagung ›Reforming the European Regulation of Dangerous Chemicals‹ in Bielefeld fest: Faktisch herrscht auch hier gefährliche Unwissenheit.
Zu Beginn der achtziger Jahre hatten die EU-Staten sich auf ein Zulassungsverfahren für neue Chemikalien verständigt. Erst 1993 erließen sie eine Regulierung für schon existierende Stoffe. Das European Inventory of Existing Chemicals (Einexs) enthält nicht weniger als 100.006 Substanzen, für die demnach Risikoüberprüfungen ... vorzunehmen sind. Wieviele davon tatsächlich auf dem Markt sind, weiß keiner so genau. ... Greenpeace schätzt bis zu 70.000 Substanzen. Davon werden 4.000 als hochproblematisch eingestuft und sollen vorrangig beurteilt werden. Doch bis heute liegen nur für etwa 300 dieser Stoffe Daten vor. So wurde eine weitere Liste mit 110 Substanzen höchster Priorität erstellt. Eine Risikobeurteilung entsprechend der EU-Richtlinie haben in den letzten 5 Jahren gerade mal 20 von ihnen durchlaufen. Für die Hälfte empfahlen die Prüfer regulierende Maßnahmen - keine einzige davon ist bisher beschlossen. Geht es in diesem Tempo weiter, rechnete Winter vor, werden die 4.000 Fälle im Jahr 3000 abgearbeitet sein« (Rögener, Wiebke 1999: Tausend Jahre Untätigkeit. In: Taz 5.5.1999, S. 17). Verbotslisten und Auflagen bleiben wir-kungslos, »weil wir das, was wir nicht kennen, nicht verbieten können«, so die damalige niedersächsische Umweltministerin Griefahn (Manager-Magazin Spezial 2/1991).
Haarmann und Reimer, eine Tochterfirma des Bayer-Konzerns, ist Weltmarktführer für chemisch und gentechnisch hergestellte Geschmacksstoffe. »Jährlich werden 15.000 Tonnen künstlicher Geschmacksstoffe produziert. Haarmann & Reimer hält über 7.000 Geschmackssorten im Angebot, Tendenz steigend. ... Immer mehr Menschen leiden an Allergien. Nach offiziellen Schätzungen der Welternährungsorganisationen mittlerweils 5 % der Bevölkerung, der Bundesverband der Betriebskrankenkassen geht von 15 % aus. Vanillin, die chemisch nachgebaute  Vanille von Haarmann & Reimner gilt unter Fachleuten als eines der Hauptallergene. Eine Experten-Kommission des Europarates hat von 2.176 untersuchten Geschmacksstoffen lediglich 391 als unbedenklich eingestuft. 180 Aromen hielt das Gremium gar für so gefährlich, daß von deiner Verwendung strikt abgeraten hat. Viele Substanzen sind extrem gefährlich und können sogar Krebs auslösen. Über Rückkstände und Zusatzstoffe in Lebensmitteln oder die Verwendung gentechnischer Sorten gibt es kaum Information. Bayer und die gesamte Food-Lobby
haben Kennzeichnungsregelungen durchgesetzt, die mehr verwirren als aufklären.
Das gilt auch für die ›Novel Food Verordnung‹ im Hinblick auf Gentechnik in Lebensmitteln. Alle der Natur synthetisch nachempfundenen Substanzen gelten etwa als ›naturidentisch‹. Das klingt harmlos und verheimlicht, daß es sich um Chemie pur handelt. Und hinter der Bezeichnung ›natürliches Aroma‹ kann sich sehr wohl auch gentechnisch hergestelltes Aroma verbergen« (Coordination gegen  Bayer-Gefahren 2001: Flugblatt ›Aus Bayer-Laboren Gift auf den Tisch‹, Düsseldorf )

Editorische Anmerkungen:

Der Text wurde uns über das Partisan.net durch den Autor zur Verfügung gestellt. Wer sich ein Bild von der ATTAC-Gesundheitskampagne machen will, findet sie unter http://www.attac-netzwerk.de/sozsich/

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