Kritik an "Ein symbolischer Garant"
des Jungle-World-Autoren Stefan Vogt


von initiative menschliche emanzipation
06/02
 

trend
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Vorbemerkung:

Diese Auseinandersetzung ist deshalb wichtig, weil sie versucht, dem von Martin Walser und Jürgen W. Mölllemann ausgelösten Neoantisemitismus entgegenzuwirken. Walser machte indirekt am 8. Mai diesen Jahres, - folgt man seiner antisemitischen Grundhaltung, wie sie auch in seinem debilen Alterswerk zum Ausdruck kommt - die "bolschewistischen Juden" für den radikalen Antisemitismus, der die Hauptideologie des deutschen Nationalsozialismus war, verantwortlich. Denn er bemühte für seine Geschichtsstümperei wieder den "Versailler Knebelvertrag". Für diesen machten die Antisemiten des letzten Jahrhunderts ja gerade die "bolschewistischen Juden" mit ihrem angeblichen "Dolchstoss" verantwortlich. Insofern stehen Walser, der diese "Dolchstosslegende" am 8. Mai noch nicht auszusprechen wagte und Möllemann, der mit der Schuldlast der Juden "spielte" bzw. sie selbst für den Antisemitismus verantwortlich machte für die Ideologogie des zugespitzten Revisionismus, in dem die Schablonen antisemitischer Legenden neu aufblühen sollen. Sie sind darin aber lediglich Charaktermasken des Fortwirkens der Regression und Barbarei einer nicht wirklich aufgehobenen Geschichte, die gerade im Begriff ist, sich innerhalb der "deutschen Mitte" zu verankern.

Doch nun zur Auseinandersetzung mit Stefan Vogt, (siehe dazu auch seinen Artikel in der Jungle-world):

Der Artikel beginnt mit dem Begriff der Solidarität. Vogt vermeidet es jedoch, eine Wesens- und Begriffsbestimmung abzulegen, die er aus historischen Kämpfen ableitet, sondern fängt gefühlsschwanger mit Komplexen an. Es ist klar, dass Deutsche Komplexe haben und bekommen, wenn sie mit dem Begriff der Solidarität konfrontiert sind. Dies liegt daran, dass die deutsche staatshörige Linke nicht kämpferisch ist, sondern stets nur konkurrierend um die Fleischtöpfe der Staates bettelt und nach Möglichkeit versucht, einen der Pöstchen darin oder zumindest ein "Projekt" zugestanden zu bekommen. Klassen und Klassenkämpfe, die historische Arbeiter/innenbewegung sind für sie nicht existent. So auch für Herrn Vogt nicht. Er verschwindet im Gefühlsbrei einer nicht wirklich kritisch reflektierten "Dialektik der Aufklärung" und scheint auch Marcuses "Geschichte und Revolution" nie gelesen zu haben. Er kann ferner deshalb auch das Scheitern der Emanzipation nicht aus der Niederlage der historischen Kämpfe der revolutionären Arbeiter/innenbewegung in der Phase von 1917-1923 ableiten. Bekanntlich liegt die Tragödie des Siegeszuges des Faschismus und deutschen Nationalsozialismus gerade im Scheitern der Deutschen Revolution. Die deutsche Linke (und als solche bezeichnen wir die Zivilisationsapostel der SPD und USPD) verweigerte nicht nur die Solidarität mit den aufbegehrenden Arbeiter/innen in Deutschland, sondern liess sie niederkartätschen. Anders Rosa Luxemburg, Liebknecht bzw. der "Spartakusbund". Aber sie waren auch Kommunist/innen und keine "Linke". Vom sozialistischen und emanzipatorischen Standpunkt ist der Begriff der Solidarität eng mit einer zum Kommunismus strebenden Bewegung verknüpft. So hat z.B. Luxemburg trotz ihrer Kritik an der Herangehensweise der Bolschewiki und an ihrem Parteikonzept die Oktoberrevolution unterstützt und begrüsst, d.h. ihre Gruppe aktive Solidarität praktiziert.

Vom emanzipatorischen Standpunkt ausgehend kann eine "Solidarität mit Israel" nur dann Sinn machen, wenn in Israel eine Revolution stattgefunden hätte und eine soziale Bewegung existieren würde, die zum Kommunismus strebt und von konterrevolutionären Truppen angegriffen werden würde. Ist dies der Fall? Nein. Herr Vogt solidarisiert sich nicht mit emanzipatorischen Kämpfen, sondern mit Opfern. Er frönt einer Opferleidkultur. Er schreibt:
"Angesichts der anhaltenden Bedrohung von Jüdinnen und Juden durch Antisemitismus und weil der Staat Israel letzten Endes die einzig sichere Zuflucht für die Opfer des Antisemitismus darstellt, sollte die Solidarität mit diesem Staat für eine aufgeklärte Linke ausser Frage stehen."
Seit wann ist Israel eine "sichere Zuflucht"? Ist nicht von Anbeginn der massenhaften Einwanderung in Folge des globalen Antijudaismus und Antisemitismus von Juden nach Palästina das Leben der Menschen dort - und auch später innerhalb des Staates Israel - durch permanente Unsicherheit gekennzeichnet? Ist nicht Israel im permanenten Krieg der "Nach-vorn-Selbstverteidigung" ? Bedeutet der Kapitalismus, der ja auch den rassistischen Antisemitismus hervorbrachte, nicht mittelerweile eine Bedrohung der gesamten Menschheit? Kapitalismus als Totalität bedeutet immer noch die ständige Vernichtung von "unwertem" Leben innerhalb der Wertproduktion. Und - nun muss ich kurz Herrn Horkheimer herbeizitieren: Wer vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch zum Antisemitismus die Klappe halten!

Doch zurück zu dem, was Vogt unter "Solidarität" versteht, den er nun folgendermassen versucht theoretisch zu bestimmen:
"In dem Begriff »Solidarität« schwingen von Anfang an zwei teils konkurrierende, teils komplementäre Inhalte mit. Einerseits kann er ein Gefühl der Identifikation, der objektiven Zugehörigkeit zu einem Ganzen ausdrücken (...)"
Allein schon das Insistieren auf "ein Gefühl der Identifikation" sollte alle Alarmglocken in uns wachrütteln. Denn darin kommt die Projektion, Demagogie oder - harmloser interpretiert - eine Wunschvorstellung zum Ausdruck. Letzteres bedeutet stets die Konstruktion eines Idealbildes, wie wir es innerhalb einer anfänglichen und noch sehr unkritischen Liebesbeziehung empfinden.
Doch gehen wir der Herzens- und Gefühlsangelegenheit des Herrn Vogt noch weiter theoretisch auf den Grund: "objektive Zugehörigkeit zu einem Ganzen". Wird dieses Identifikationsgefühl mit der Totalität nicht kritisch reflektiert, so schreitet es fort zur Identität und dies bedeutet das zu-sich-selbst-kommen des Subjektes und der konkreten Einzelheit in der objektiven Realität. Müssen wir nun Hegels Weltgeist in Israel verorten? Nein. Denn der Herr Vogt mag sein Gefühl (noch) nicht zur Vernunft kommen lassen, weshalb er nun den Ratio herbeibemüht:
"andererseits das subjektive Bewusstsein einer gemeinsamen Interessenlage und die darauf gegründete Bereitschaft zur gegenseitigen Unterstützung."
Hier wird jedoch Bewusstsein nicht verbunden mit einer Bewegung, die auf der Erkenntnis einer objektiven Notwendigkeit beruht und auf ein gemeinsames Ziel ausgerichtet ist sowie zur radikalen Veränderung des Bestehenden tendiert, sondern "es" verharrt im Subjektivismus, bleibt also bei der subjektiven Wahrnehmung stehen, die eine gemeinsame Interessenlage suggeriert. Denn nur so lässt sie die "Bereitschaft zur gegenseitigen Unterstützung" herbeireden. Frage: warum gegen-seitige Unterstützung? Was benötigt der Herr Vogt von Israel? Welche Unterstützung verspricht sich die "jungle world"?

Nun taucht der Herr Vogt innerhalb der Analyse des Begriffes der Solidarität tief in die Geschichte ein:
"In der sozialistischen Bewegung, für die dieser Begriff immer zentral war, bedeutete er mit unterschiedlicher Gewichtung stets beides. Dort waren diese beiden Seiten über das Ziel der Emanzipation vermittelt. Solange die Geschichte insgesamt auf dieses Ziel zuzusteuern schien, konnte die Zugehörigkeit zu einem Kollektiv, das sich als Motor dieser Geschichte begriff, durchaus emanzipatorisch sein."
Was versteht denn nun der Herr Vogt in seinem Gefühlskladderadatsch unter "sozialistischer Bewegung"? Die ehemaligen kommunistischen Theoretiker/innen bauten aufgrund ihrer Theorie ("Kritik der politischen Ökonomie") auf die revolutionäre Arbeiter/innenbewegung. Sie sahen jedoch in der Geschichte nicht ganz so den HISTOMAT-MOTOR, wie ihn der Herr Vogt ihnen nun andichtet. Denn es ging ihnen bekanntlich nicht um ein unbestimmtes "Kollektiv", sondern um Klassen und um Produktivkraft. Keineswegs war die kommunistische Bewegung so technizistisch, wie der Terminus "Motor" hier einsuggeriert. Produktivkraft bezeichnet die lebendige und gut ausgebildete Arbeitskraft sowie wissenschaftliche Avantgarde, die das Ziel des Kommunismus (damit Aufhebung des Kapitalismus) und eine dazu notwendige revolutionäre Strategie in sich trägt. Emanzipation kann sich erst in reellen Kämpfen bilden, in denen die Enteigneten sich zum Zweck einer neuen, sozialen und assoziierten Produktion die Produktionsmittel aneignen.

"Zugleich jedoch teilte der Sozialismus das Misstrauen der Aufklärung gegen ihre eigenen emanzipatorischen Ziele, wenn er die individuelle Freiheit durch eine kollektive Zugehörigkeit absichern zu müssen glaubte. Dies war einer der Gründe für das Scheitern der Emanzipation."

In der "Aufklärung" ging es um die Entdeckung der Wissenschaft und den Bruch mit dem religiösen Dogma. Demzufolge waren die Aufklärer Forscher, die sich bewusst waren, dass das "vertrackte Ding", die Materie in sich widersprüchlich ist. Insbesondere Hegels System der Dialektik und der Bewusstseinsentwicklung steht für die Aufhebung und Selbstbewegung der Wissenschaft, die allerdings bei ihm im "absoluten Geist" kulminierte und deshalb ideellen Charakter hatte. Karl Marx knüpfte kritisch an ihn an und verscheuchte die Hirngespinster des Herrn Hegel, indem er sowohl den Geist aus der Materie ableitete als auch den Widerspruch in Hegels bürgerlichem System entdeckte und die Emanzipation des menschlichen Individuums in der Aufhebung der bürgerlichen Ökokonomie und ihres Staates prognostizierte. Marx verspottete deshalb stets den bürgerlichen Begriff der Freiheit und wies nach, dass der doppelt freie Lohnarbeiter innerhalb von "Freiheit-Gleichheit-Bentham" ein ausgebeutetes und unterdrücktes Wesen blieb. Ferner wiesen die kommunistischen Theoretiker/innen nach, dass die Gesamtheit der in der bürgerlichen Produktionsweise Tätigen den Gesetzen der Kapitalakkumulation Folge leisten müsse. Und die diktiert die Notwendigkeit und Notdurft des Überlebens. Den Kommunist/innen ging es niemals um eine unbestimmte "kollektive Zugehörigkeit", sondern um die Analyse des Gesamtkapitals und Veränderungspotentials sowie der Bewegung, die die lebendige Arbeitskraft als variables Kapital vom toten/konstanten und aus der Sachzwanggewalt des bürgerlichen Produktionsverhältnisses befreit. Gescheitert ist die Emanzipation durch die Niederschlagung der Klassenkämpfe. Die Arbeiter/innen blieben kollektive Zwangsmitglieder der Arbeiterklasse, variables Kapital. So einen von Unkenntnis der Realgeschichte geprägten Blödsinn, wie den des Herrn Vogt, der sich unwohl mehr am ML denn an der Marxistik orientiert, habe ich lange nicht mehr gelesen.

"Anstatt der Befreiung der Menschen hat die Aufklärung den Antisemitismus hervorgebracht und nicht verhindert, dass dieser Antisemitismus mit der nationalsozialistischen Judenvernichtung die Aufklärung selbst aufgehoben hat.." Nicht die Aufklärung hat den Antisemitismus hervorgebracht, sondern die anti-aufklärerischen Agenzien konnten sich in der Krise der bürgerlichen Gesellschaft durchsetzen. Dies sehen wir schon daran, dass alle wissenschaftlichen und revolutionären Agenzien, die bestrebt waren, die Aufklärung über die bürgerlichen Aspekte hinauszutreiben, zu den ersten gehörten, die vernichtet wurden. Wir können dies auch daran erkennen, wenn wir untersuchen, welche Bücher und Schriften verbrannt wurden. Und lasst Euch mal auf der Hauptsynapse den Begriff der "Aufhebung" zergehen: Aufhebung bedeutet: auf eine höhere Ebene stellen. Die kommunistische Theorie hat die Aufklärung theoretisch aufgehoben und eben nicht der Faschismus und Antisemitismus, der ja gegen den "bolschewistischen/kommunistischen Juden" gerichtet war. Es war also eine Konterrevolution und Regression, die mit der Niederschlagung des Januaraufstandes 1919 und der Ermordung der führenden Theoretiker/innen der revolutionären Arbeiter/innenbewegung in Deutschland begann.

"Seither kann Solidarität, will sie eine emanzipatorische und aufklärerische Kategorie bleiben, nicht mehr bedeuten, sich im Einklang mit der Geschichte und ihren kollektiven Trägern zu befinden. Sie kann nur noch den individuellen Opfern der Geschichte gelten."
Jemand, der Geschichte als Einklangs-Motor begreift, der ggf. im Daimler viertaktet und auf der Autobahn mit anderen Autos als Kollektiv geradewegs auf den Endsieg zusteuert kann eigentlich keinen Begriff von Emanzipation und Geschichte haben. Und deshalb bleibt ihm auch nichts anderes übrig, als den "individuellen" Verkehrstoten zu huldigen, die dabei "auf der Strecke" geblieben sind.

"So hat Solidarität nichts mit Emanzipation zu tun, wenn sie sich Völker oder nationale Befreiungsbewegungen als ihre Objekte erwählt."
Ich bin verwundert. Denn ich stosse hier plötzlich auf eine richtige Aussage. Aber warum dann "Solidarität mit Israel"? Weil Israel eine nationale Selbstverteidigungsbewegung voller gegenwärtiger und zukünftiger Opfer ist? Und gilt dann - gemäss der Logik obiger Aussagen - dass die Solidarität um so stärker wird, je mehr "Opfer" diese nationale Selbstverteidigungsbewegung kostet? Das würde, wenn wir konsequent weiterdenken folgendes bedeuten: Die Solidarität des Herrn Vogt wird dann am stärksten, je mehr Individuen sterben, d.h. im Ende, wenn das "Individuum Israel" ausgelöscht ist, denn er schreibt ja zum Begriff der Solidarität: "Sie kann nur noch den individuellen Opfern der Geschichte gelten."

"Und es hat nichts mit Aufklärung zu tun, wenn sich die Linke »Solidarität mit Palästina« auf die Fahnen schreibt."
Noch ein Satz, den ich bedingungslos unterschreiben kann.

"Die offenen Allianzen mit Antisemiten, die unter dieser Parole eingegangen werden, zeigen dies mit aller Deutlichkeit."
Hier müsste genauer recherchiert werden. Wenn es in der Linken offene Allianzen mit "Antisemiten" gibt, dann müsste auch klar benannt werden, wer dies ist und diese Gruppen kritisiert werden.

"Die nationale Bewegung, die zu seiner Gründung führte, unterscheidet sich von europäischen Nationalismen dadurch, dass sie eine Konsequenz aus dem diesen Nationalismen inhärenten Antisemitismus darstellt."
Der Herr Vogt vermeidet leider hier eine Begriffsbestimmung des Antisemitismus. Die Aufteilung der Welt in Nationalstaaten brachte es mit sich, dass alle Menschen zu Staatsbürgern der Nation gemacht wurden. Juden hatten eine spirituelle Nationalität, einen Bund, jedoch keinen Nationalstaat. Und: die Mehrheit der Juden waren eigentlich keine Juden mehr, sondern assimiliert bzw. wurden - wie alle anderen gesellschaftlichen Individuen der bürgerlichen Gesellschaft - in Klassen aufgeteilt. Juden wurden durch den rassistischen Antisemitismus des Mittelstandes - der ideologisch völkisch agierte und der Klassenanalyse feindlich gesinnt war - im letzten Jahrhundert quasi neu erfunden.

"Wenn der Antisemitismus kein temporärer irrationaler Rückfall hinter die Aufklärung ist, sondern eine Grundstruktur kapitalistischer und nationalstaatlicher Vergesellschaftung, dann werden seine Vernichtungspotenziale so lange bestehen, solange jene Vergesellschaftung besteht. Daraus folgt aber notwendig, dass die Existenz des Staates Israel stets prekär sein wird."
Antisemitismus ist keine "Grundstruktur", sondern eine Ideologie/Demagogie, die innerhalb der Akkumulationskrise aufgrund dessen weiterwuchert, weil das bürgerliche Bewusstsein die Krise nicht erfassen kann. Grundstruktur der kapitalistischer Vergesellschaftung ist das Wertgesetz, die Kapitalakkumulation und der Markt sowie der ihr innewohnenden entfesselten Konkurrenz. Die globale Produktion stellt alle Nationalstaaten in Frage, nicht nur den Staat Israel. Die Politiker aller Herren Länder legitimieren sich über den Nationalstaat und reagieren auf die Konfrontation der Transnationalisierung der globalen Produktion mit Nationalchauvinismus.

"Diese prekäre Konstellation kann sich jederzeit in eine handfeste Bedrohung verwandeln. Auch wenn ein Krieg arabischer Staaten gegen Israel oder die Vernichtung des Staates durch palästinensische Kräfte im Moment nicht sehr wahrscheinlich ist, so ist die gegenwärtige weltpolitische und regionale Situation alles andere als stabil und kann sich relativ schnell radikal ändern."
Seit wann hat es in der bürgerlichen Gesellschaft bzw. dieser Zivilisation je "Stabilität" gegeben? Radikaler Einschnitt der letzten Zeit war z.B. der Zusammenbruch des Ostblockes 1989. Und warum das plötzliche Insistieren auf den Staat, statt auf menschliche Individuen?

"Als Nationalismus einer so genannten »nachholenden«, tatsächlich aber abgehängten kapitalistischen Gesellschaft hat der arabische Nationalismus einen besonders radikalen Antisemitismus entwickelt. Israel bleibt deshalb darauf angewiesen, dass seine Existenz von den Vereinigten Staaten garantiert und von den Europäern nicht in Frage gestellt wird. Was die Europäer betrifft, so machen sich seit einiger Zeit Anzeichen bemerkbar, dass dies nicht immer so bleiben muss."
Europa halt's Maul!
Aber hier eine Frage: Entstammt nicht der Antisemitismus der europäisch-abendländischen Unkultur und wurde in die arabische Welt exportiert? Und war nicht bislang der grösste Teil der arabischen Welt eher anti-israelisch denn anti-semitisch? Noch eine Frage: Ist der arabische Nationalismus in seinem Antisemitismus noch radikaler wie es der deutsche war?

Doch reflektieren wir mal folgendes:
"Versteht man Solidarität mit Israel als Solidarität mit den Opfern, so verbietet sich jede Identifikation mit Israel und dem Zionismus." Und warum? Wurde dies ein paar Zeilen vorher nicht eingefordert? Lesen wir also noch einmal nach: "Obwohl der Begriff 'Solidarität' problematisch ist, sollte die Solidarität mit Israel für aufgeklärte Linke ausser Frage stellen, meint stefan vogt und eröffnet die Debatte." Hatte er im Versuch der Begriffsdefinition doch die Identifikation als Grundelement der Soldidarität entwickelt, so wird sie nun plötzlich wieder "hinausexorziert" und wir - langsam ärgerlichen Leser/innen - finden nun einen inhaltlich immer ausgedünnteren Solidaritätsbegriff vor. Könnte es sein, dass Philosemitismus die schlimmste und heuchlerischste Form des Antisemitismus ist?

"Denn dies würde leugnen, dass es sich sowohl bei Israel als auch beim Zionismus um die Konsequenz aus einer welthistorischen Katastrophe handelt: dem Scheitern der Aufklärung."
Ideologisch denkende Menschen verstehe ich nicht immer. Aber hier könnte "gemeint" sein, dass wir uns nicht mit den heutigen Opfern/Individuen solidarisieren sollen, sondern mit denen der Shoah im letzten Jahrhundert. Oder wie ist diese Aussage zu sonst zu verstehen? Oder trauert Herr vogt gerade mehr um die "gescheiterte Aufklärung"?

"Die Existenz des israelischen Staates ist eine Tragödie, dieser Staat verlangt aber gerade deshalb die Solidarität einer aufgeklärten Linken."
Hilfe! Hatten wir nicht eben noch bei Herrn Vogt gelernt, dass die Aufklärung durch den Antisemitismus "aufgehoben" wurde? So hätten wir also - historisch und logisch gesehen - eine antisemitische Linke statt einer "aufgeklärten" vor uns, nicht wahr? Und wie kann er deshalb plötzlich "Aufklärung" positiv setzen?

Doch statt uns das zu erklären und zu begründen, eliminiert nun der Herr Vogt die "Identifikation" aus seinem Solidaritätsbegriff und schon kann er auch weitere Opfer mitdenken:
"Enthält sich Solidarität mit Israel der Identifikation, dann ist sie nicht nur in der Lage, die Politik der israelischen Regierung zu kritisieren, sondern sie kann auch die palästinensischen Opfer einbeziehen."
Hier ist die Frage, ob der Aufkläricht des Herrn Vogt an die in Israel lebenden Palästinenser/innen denkt...., denn nur dann hätte ja sein Insistieren auf die "Solidarität mit Israel" Sinn. Doch dem ist nicht so. Hinter seinem Solidaritätsbegriff versteckt sich der Friedensapostel:

"Solidarität mit Israel verlangt geradezu die Parteinahme für eine friedliche Lösung des Konflikts im Nahen Osten."
Aha! Interessant. Aber dann kann doch die These von dem "besonders radikalen Antisemitismus" - der angeblich im arabischen Nationalismus wuchert - nicht stimmen! Denn wie kann man - nach all der historischen Erfahrung - mit "radikalem Antisemitismus" Frieden schliessen?

"Denn das ist die unabdingbare Voraussetzung dafür, dass Israel den nationalstaatlich organisierten Kapitalismus überlebt." Wer einen bürgerlichen Nationalstaat schützt, der muss natürlich auch am Kapitalismus festhalten. Damit aber hält er - folgen wir hier wieder der aufgeklärten Logik des Herrn Vogt - auch am Antisemitismus fest.

"Und dies ist eine Bedingung dafür, dass es jemals eine befreite Menschheit geben kann, weil die Alternative dazu eine »judenfreie« Menschheit wäre."
Es gibt doch schon eine "befreite" Menschheit. Zumindest nach Marx. Das ist das Proletariat. Der Mensch kann erst dann existieren, wenn er als Alternative bzw. Aufhebung der bürgerlichen Gesellschaft das menschliche Gemeinwesen anstrebt bzw. alle Kategorien der Vor-Geschichte aufhebt. Und dazu gehören auch alle Nationalstaaten und Religionen. Aber lassen wir uns nun doch einmal am Emanzipationsgedanken festhalten. Marx schrieb, dass dem Proletariat das Menschsein abgesprochen worden sei und dass es u.a. auch deshalb den Widerspruch zum "Übermenschen" (dem Bourgeois) in sich trägt. Er formulierte ferner, dass die Emanzipation des Proletariats einen Kampf beinhalteten würde, der die Selbstaufhebung des Untermenschen und gleichzeitig des Übermenschen, d.h. der Klassen bedeutet. Als Hegelianer folgerte Marx - bezüglich der Aufhebung der Religionen - in seiner Schrift "die Judenfrage", dass die Emanzipation des Juden zum Menschen über die Assimilation im christlich-bürgerlichen Staat gehen solle....
Vielleicht hatte hatte er - auch aufgrund der beginnenden Assimilation und seiner - noch durch Hegel geprägten positiven Herangehensweise an den bürgerlichen Nationalstaat - damals nicht erkannt, dass mehr emanzipatorische Tendenzen im Judentum denn im Christentum liegen? Dies eben, weil der Kommunismus die Aufhebung aller Nationalstaaten anstrebt. Das Judentum war nicht an einen Nationalstaat gebunden und trug dementsprechend eher das globale menschliche Gemeinwesen in sich, als das mit dem Nationalstaat eng verbundene Christentum.

Der Kommunismus begriff die Revolution ferner als die Wiederherstellung des ursprünglichen menschlichen Gemeinwesens auf hoher wissenschaftlicher Ebene, d.h. er knüpfte an die Urgesellschaft an. Genau so müsste auch als notwendiger Zwischenschritt mit der Aufhebung der Religion verfahren werden: das Judentum war die erste zivilisatorische monotheistischen Weltreligion, aus der sich alle anderen ableiteten. Nur unter diesem Aspekt und als kämpferische Bewegung könnten Solidaritätsbestrebungen mit Juden und Israel Sinn machen. Und auch aus folgender Reflexion heraus: Um den Religions- und Kulturkrieg sowie den zunehmenden Antisemitismus zu überwinden! Konsequenterweise sollten wir deshalb tatsächlich zum Judentum konvertieren und laut rufen: "Wir sind alle Juden!" Die weitere Emanzipation des Menschen von der Religion verliefe dann über die emanzipatorische Revolutionierung des Judentums. Dies allein kann uns davor bewahren, in der Barbarei unterzugehen.

Doch bevor wir dies weiter ausführen, müssen wir uns hier noch weiter mit Herrn Vogt beschäftigen:
"Dies vorausgesetzt bedeutet Solidarität mit Israel die Solidarität mit all jenen Kräften in den beiden Gesellschaften, die einen palästinensischen Staat in den israelisch besetzten Gebieten und die gegenseitige Anerkennung des Existenzrechtes der beiden Staaten fordern."
Wir haben aber doch aus der Geschichte gelernt, dass gerade Nationalstaaten und staatliches Gewaltmonopol immer barbarischere Kriege hervorbrachten. Wie viele Nationalstaaten will die "aufgeklärte Linke" denn noch fordern? Einen Staat für die Kurden, einen für die Roma-Sinti etc.? Es war immer das Ziel aller, denen die Emanzipation des Menschen echte Herzens- und Wissenschaftsangelegenheit war, die Nationalstaaten aufzuheben. Es zeigt schon die Verkommenheit der bürgerlichen Linken auf, für die Gründung von Nationalstaaten einzutreten, wo sie historisch anachronistisch geworden sind! Ausgehend von dem Begriff der Aufhebung - auch der Religionen - müsste statt dessen ein gemeinsamer Staat, der aber schon kein Nationalstaat im eigentlichen Sinne mehr ist - begründet werden.

"Zur Solidarität mit Israel gehört daher auch eine Auseinandersetzung mit dem arabischen Antisemitismus, der diese Einsicht systematisch verhindert."
Wie will der Herr Vogt "Aufklärung" unter den "arabischen Antisemiten" betreiben? Es kommt mehr denn je auf das praktische Handeln an. Um das Judentum zu einer emanzipatorischen Kraft und einem "Identifikationspool" (hier folgen wir der Terminologie und Logik des Herrn Vogt) zu machen, müsste zuerst der Krieg beendet werden. Statt militärischer Intervention müsste ein transnationales Aufbauprojekt durchgeführt werden, um die materiellen Lebensbedingungen zu verbessern.

"Dem ist eine Solidarität entgegenzuhalten, der es wirklich »um Israel« geht und die deshalb die Komplexität des Konflikts anerkennt, anstatt sie aus niederen Beweggründen und mit unappetitlichen Konsequenzen einzuebnen."

Da der Solidartitätsbegriff des Herrn Vogt ja sehr inhaltsleer geworden ist, wollen wir uns nun nicht mehr mit ihm befassen. Statt dessen käme es nun darauf an, "Israel" so zu definieren und praktisch werden zu lassen, dass daraus eine reelle Bewegung der Emanzipation entsteht, die das generalisierte Kapitalverbrechen mit seinen niederen Beweggründen aufhebt.

Editorische Anmerkungen:

Der Text ist eine Spiegelung von http://www.members.partisan.net/gratis/vogt.htm