TAZ Nr. 2561 Seite 9 vom 19.07.1988  

DDR-Lob für Autonome von Dr. Norbert Madloch

06/01 trdbook.gif (1270 Byte)  trend online zeitung Briefe oder Artikel: info@trend.partisan.net ODER per Snail: trend c/o Anti-Quariat Oranienstr. 45 D-10969 Berlin
Als am Morgen des 1.Juli 1988 die West-Berliner Polizei ein von  Umweltschützern und Autonomen besetztes vier Hektar großes Stück Brachland  direkt an der Mauer stürmte, flohen 220 Besetzer unter Mithilfe von  DDR-Grenzern über die Mauer in den Ostteil der Stadt. Den kalten Kriegern und Frontstadtideologen muß angesichts der Massenflucht von 220 Umweltschützer und "Chaoten" in den "unfreien Teil Deutschlands" der Atem gestockt haben.  Alle 220 Mauerspringer kamen wenige Stunden später wieder in den Westteil der Stadt zurück und waren voll des Lobes "über die Solidarität der Genossen drüben". Bereits einen Monat vor der spektakulären Massenflucht nach Osten hatte sich  das außenpolitische Monatsmagazin der DDR 'Horizont` in einem ganzseitigen  Artikel mit den Autonomen beschäftigt. Der Autor, Dr.Norbert Madloch, analysiert seit vielen Jahren die verschiedenen linken Strömungen im Westen, und seine Veröffentlichungen können als offizielle DDR-Sicht gewertet werden.  Während die DDR alle Spielarten des Terrorismus als abenteuerlich und als  kleinbürgerlichen Revolutionarismus seit jeher scharf verurteilt, fällt die Bewertung des hetorogenen Spektrums der Autonomen eher positiv aus. So war dann auch die freundliche Aufnahme der Mauerspringer kein tagespolitisches Kalkül, sondern ein "Akt der Solidarität mit Teilen der sozialen Bewegung im Westen"(DDR). Die taz möchte ihren Lesern die DDR-Sichtweise nicht vorenthalten und dokumentiert, leicht gekürzt, den Artikel aus der Juninummer  der DDR-Zeitschrift 'Horizont` unter der Überschrift "Chaoten, Gewalttäter,  Straßenmob?".  

DDR-Lob für Autonome  

Blickt man in diesem Monaten in konservative Zeitungen, so scheint es  gegenwärtig in der BRD keinen schlimmeren inneren Feind als die Autonomen zu  geben. Alles denkbar Negative wird ihnen angelastet. "Chaoten", "potentielle  Gewalttäter", "Straßenmob", "Lumpenpack" sind dabei nur einige der gängigsten  Schlagworte. Inhalt und Ton derartiger Artikel können nur mit der üblen  Pogromhetze rechter Medien von 1967/68 gegen die damalige Studentenbewegung  verglichen werden. Wer sind nun die Autonomen, gegen die reaktionäre Kreise  solche schweren Geschütze aufbieten? 

Warum die Bewegung entstand 

Es handelt sich zumeist um junge Menschen unter 30 Jahren, die aus eigener  Betroffenheit radikal das bestehende gesellschaftliche System in den  imperialistischen Staaten ablehnen und ein selbstbestimmtes Leben in einer  von Unterdrückung und staatlicher Herrschaft befreiten Welt anstreben. In  diesem Sinne weisen ihre Vorstellungen und Aktionen viel Ähnlichkeiten mit  dem Anarchismus auf, ohne sich allerdings fest auf frühere anarchistische Theoretiker zu beziehen. Nach unterschiedlichen Quellen gehören in der BRD  und in West-Berlin etwa 10.000 zumeist junge Menschen zu der sozial wie  politisch-ideologisch sehr heterogenen Bewegung der Autonomen.

Das sind zumeist deklassierte Teile aus den lohnabhängigen Mittelschichten  und der Arbeiterklasse, vorwiegend junge Arbeitslose, Gelegenheitsarbeiter  und Sozialhilfeempfänger, am Leistungsstreß gescheiterte Schüler und  Studenten sowie junge Hochschulabsolventen, die nach ihrem Studium keinen  Arbeitsplatz erhielten. Das Flair der Autonomen führte aber auch zum Zustrom  von recht zweifelhaften Kräften, wie Bohemiens, Punker und Revoluzzer, von  denen viele nur Krawall im Sinn haben.

Sucht man nach den Ursachen für das Entstehen dieser Bewegung, sind es vor  allem drei: Erstens die unvermindert hohe Jugendarbeitslosigkeit, das  Anwachsen einer Massenarmut und der fortschreitende Abbau sozialer Leistungen  in den meisten imperialistischen Staaten. Immer mehr prägt sich in der BRD  und in anderen entwickelten kapitalistischen Ländern die Tendenz zu einer  Zwei-Drittel-Gesellschaft aus.

BERLIN  
1
3 Jahre Besetzung  des „Lenné / Kubat Dreieck"  am Potsdamer Platz
  • Film - Veranstaltung mit „Zeitzeugen“ und Wiedersehens - Party mit Kiezdisco Musik
  • am Samstag 9. Juni 21 Uhr im „Drago Fumante" Kinzigstr.9 Friedrichshain U-Bhf Samariterstr.

  • Film - Veranstaltung mit „Zeitzeugen am Montag 11. Juni 21Uhr im „Bandito rosso" Lottumstr.10a Prenzlauer Berg , U-Bhf Rosa Luxemburg Platz und Rosenthaler Platz

Am 26.Mai 1988 wurde das sog. Lenne Dreieck von einer Handvoll Menschen besetzt. Es wurde nach dem, ein Jahr zuvor als Gefangener des Kreuzberger Aufstands vom 1.Mai 1987, im Moabiter Knast geselbstmordeten Norbert Kubat benannt.

Dieses Gelände mit seiner zentralen Lage in der Mitte Berlins, direkt am Potsdamer Platz stellt einen bis heute geschichtsträchtigen Ort und zur damaligen Zeit ein politisches Kuriosum dar. Aus Ersparnisgründen wurde vor genau 40 Jahren am 13.8.61 die Mauer einfach so gebaut, daß dieses Gelände, obwohl zur „sowjetischen Besatzungszone" gehörend, auf der Westseite der Im Zuge eines vertraglich abgeschlossenen Gebietsaustausches wurde die Übergabe an Westberlin für den 1.7.1988 vereinbart.

Durch Zeitungsveröffentlichungen inspiriert, riefen auf der Volkszählungs-Boykott Jahrestags-Demo am 26.5.88 einige Punks per Flugblatt zur Besetzung auf. Unter anderem sollte die, schon von Albert Speer („Germania") geplante und jetzt verwirklichte, „Westtangente" (Autobahn) durch die Besetzung verhindert werden.

Mehr als einen Monat lebten über 200 Menschen, bunt gemischt, auf diesem Gelände.

Beobachtet von ganzen Ladungen Touri-Bussen, die statt in den Osten, auf unser Dreieck schauten und begleitet von unzähligen Berichten der Weltpresse, erlebten wir unzählige spannende Abenteuer.

Als vielleicht herausragende Ereignisse, gab es nach der Umzäunung des Geländes und darauffolgende Zaunabbauaktionen, an zwei Tagen stundenlange Kämpfe. (Mit Steinen und Molotow- Cocktails gegen Tränengas und Wasserwerfer) Weil jedoch das DDR Hoheitsgebiet durch die Westberliner Staatsbüttel offiziell nicht betreten werden durfte, blieb es bis zum 1.7.88 beim "Stellungskrieg".

Den krönenden Abschluß stellte dann am Tag der Räumung, die spektakuläre Flucht von über 200 Menschen über die Mauer in den Osten dar.

Die Veranstaltungen sollen Raum bieten zum Erfahrungsaustausch zwischen „Jung" und „Alt", zur Fehleraufarbeitung, zum Wiedersehen, zur Anekdotenerzählung... und zum Feiern.

Wenn alles klappt gibt's die Pressedokumentationen, Fotos, 'nen Radio 100 Mitschnitt, den Kubat Mix...

 Nur noch diese Bevölkerungsgruppe wird für das Funktionieren des Systems als notwendig erachtet. Ein Drittel der Gesellschaft, und das sind Millionen von Arbeitslosen, Sozialhilfeempfängern und Rentnern, möchte man ins soziale Abseits drängen und ausgrenzen. Ein Teil dieser an den Rand Gedrängten wehrt sich gegen das ihnen zugedachte Los, und insbesondere junge Menschen greifen dabei in ihrer Wut und Empörung nicht selten zu äußerst radikalen Protestformen. Zweitens ist die Herausbildung dieser Bewegung auf die Einschränkung und den Abbau demokratischer Rechte in diesen Staaten zurückzuführen. Nicht selten werden Polizei und Gerichte eingesetzt, um jede tiefergreifende Opposition mit staatlichen Machtmitteln zu ersticken. Die Folge in der BRD und in  anderen imperialistischen Ländern ist eine wachsende Parteien- und Staatsverdrossenheit unter jungen Menschen und bei den Autonomen eine gänzliche Ablehnung jedes Staates und jeder größeren Organisation. Und drittens stammt der Zulauf zur Bewegung der Autonomen aus einem Vertrauensverlust der bisherigen linksradikalen Gruppierungen, aber auch aus einer von ihnen nicht als radikal genug empfundenen Politik der Arbeiterbewegung und der vielfältigen neuen demokratischen Bewegungen. In ihrem Selbstverständnis betrachten sich die Autonomen, eine ihrem Wesen nach neuartige Bewegung von Marginalisierten, als entscheidende Gegner von Imperialismus, Kapitalismus, Militarismus, Rassismus und Faschismus. Beherrscht von Empörung und Hoffnungslosigkeit über ihre eigene Lage wollen sie einen kompromißlosen Bruch mit dem imperialistischen System vollziehen und  sich auf "keinen Dialog mit der Macht" einlassen. Das ist zugleich mit einem strikten Antiparlamentarismus verbunden. Befangen in sehr engen Vorstellungen, betrachten sie andere Linke, aber auch Grüne nicht selten als "Handlanger" des staatsmonopolistischen Herrschaftssystems. Obwohl sie sich am Kampf zur Sicherung des Weltfriedens beteiligen, halten sie die Lösung  ihrer sozialen Probleme für vordringlicher. Ausgehend von einem mehr oder minder starken anarchistischen Politikverständnis äußern sie auch Distanz und Vorbehalte gegenüber den sozialistischen Ländern. Im Unterschied jedoch zu vielen anderen Linksradikalen und zu den Initiatoren der Bewegung der Autonomen in Italien ist das heute nicht mehr mit einem böswilligen Antikommunismus und Antisowjetismus verbunden. Insgesamt gesehen verkörpern damit die Autonomen eine linksradikale Form in der breiten Palette der neuen sozialen Bewegungen. Dieser Linksradikalismus äußert sich auch in den radikalen, teils recht abenteuerlichen und in den Konsequenzen nicht immer durchdachten Protestaktionen der Autonomen. In ihrer Ablehnung von Theorie und längerfristigen Strategien bevorzugen sie die "direkte Aktion", eine "Propaganda der Tat". Oftmals reagieren sie ihre Wut auf die kapitalistische Ordnung und den kapitalistischen Staat durch eine massenhafte Zerstörung von Schaufensterscheiben in den Hauptgeschäftsstraßen, von Banken, Konzernen und staatlichen Institutionen ab. Weitere Methoden sind das Absägen von Hochspannungsmasten und die Sabotage an infrastrukturellen Einrichtungen. Von seiner Wirkung her ist das nichts weiter als eine primitive Nachahmung einer früheren Maschinenstürmerei, die kaum das Funktionieren des Kapitalismus beeinträchtigt, dafür aber den rechten Medien viel Stoff für deren Stimmungsmache gegen die Autonomen bietet. In der Haltung zur Gewalt differenzieren die Autonomen zwischen ihrer Militanz und dem Terrorismus solcher Gruppen wie der sogenannten Roten Armee Fraktion (RAF). Sie bejahen eine Gewaltanwendung gegen Sachen, die jedoch dort ihre Grenze habe, wo Menschen zu Schaden kommen könnten. Wie Frankfurter Autonome 1987 schrieben, betrachten sie die RAF als eine konterrevolutionäre Vereinigung, der jede "revolutionäre Moral" fehle. Zunehmend gibt es innerhalb der Autonomen auch eine Distanzierung zu jenen ausgeflippten Kräften, die nur eine "rituale Militanz", nur Randale und Zoff wollen, und sich damit mehr und mehr vom Selbstverständnis der meisten Autonomen nach einem selbstbestimmten gewaltfreien Leben entfernen. 

Polizeiagenten eingeschleust 

Die heterogene lockere Struktur der Autonomen und ihre ambivalente Haltung zur Gewalt bieten der Polizei und den Geheimdiensten relativ viele Möglichkeiten, V-Leute und Agenten in diese Szene einzuschleusen. Oft sind das kriminelle Elemente, die mit dem Versprechen auf Tilgung ihrer  Eintragungen im Strafregister dafür gewonnen werden. Sie betätigen sich dann unter den Autonomen in der Regel als Anheizer für abenteuerliche Aktionen, als besonders eifrige Steinewerfer, aber auch als Brandstifter und Bombenbastler. Auf Kosten von Polizei und Geheimdiensten reisen diese Agents provocateurs von Stadt zu Stadt. So waren zum Beispiel 1983 beim Besuch des USA-Vizepräsidenten George Bush in Krefeld die übelsten Provokateure und Steinewerfer die Verfassungsschutzagenten Peter Troeber aus Westberlin und  Scheffer aus Bayern. Erstaunt waren auch Bauern im Landkreis Schwandorf, als sich dort 1986 bei einer Protestaktion gegen die im Bau befindliche atomare Wiederaufbereitungsanlage in Wackersdorf ein Trupp schwarz gekleideter und gewalttätiger Revoluzzer als eine Einheit der bayerischen  Bereitschaftspolizei entpuppte. Man ist also bei gewalttätigen Demonstrationen in der BRD und in West - Berlin, die meist den Autonomen angelastet werden, nie sicher, ob die eigentlichen Provokateure nicht ganz andere Leute als die Autonomen sind.

Aber gewisse obrigkeitsstaatlich orientierte rechte Kreise in der BRD sind an solchen Krawallen und Provokationen direkt interessiert. Sie wollen damit nicht nur durchweg die Autonomen kriminalisieren, sondern gleichzeitig auch generell jede ernsthaftere Bürgeropposition - so der sozialdemokratische  Innenminister von Nordrhein-Westfalen, Herbert Schnorr, im März 1988 - "in die Rolle von Straftätern drängen".

Durch neue Gesetze möchten diese rechten Kräfte die demokratischen Rechte noch weiter einschränken und damit einen Zustand schaffen, der es, wie Gerd Pfeiffer, Präsident des Bundesgerichtshofes, 1987 meinte, ermöglicht, daß "Tausende von Demonstranten wie Kriegsgefangene in Untersuchungshaft abgeführt werden" könnten. Aus diesem Grunde gibt es von solchen Kreisen auch immer wieder groß angelegte Rechtfertigungskampagnen für brutale Polizeieinsätze wie am 1.Mai1987 und 1988 gegen die Volksfeste auf dem Lausitzer Platz im Westberliner Stadtbezirk Kreuzberg. Wir haben es hier mit einer Fortsetzung jener Linie zu tun, die bereits am 2.Juni1967 in West-Berlin zum Mord durch einen Polizeibeamten an dem Studenten Benno Ohnesorg führte, die 1985 bei einer antifaschistischen Demonstration in Frankfurt am Main die Tötung des Schlossers Günter Sare zur Folge hatte, und die im November 1987 mit einem Polizeiaufgebot von 4.000 Mann die 120 Autonomen aus der Hamburger  Hafenstraße vertreiben wollte. Bis in die Gegenwart hinein hängen rechte Kreise ungeachtet getroffener Vereinbarungen - der Idee an, die von Autonomen bewohnten Häuser gewaltsam zu räumen. 

Wachsende Erkenntnis  

Die negativen Erfahrungen mit ihrem "radikalen Aktionismus" sowie Erkenntnisse aus der Konfrontation mit den staatlichen Repressivorganen haben in den letzten Jahren unter den Autonomen der BRD manche Lernprozesse ausgelöst. Stärker denn je gibt es unter ihnen Diskussionen darüber, die  bislang fast ausschließlich negative Fixierung ihrer Vorstellung aufzugeben und dafür positive Ziele zu formulieren, die auch andere Menschen ansprechen. Viele Autonome meinen des weiteren, daß man auch die Berührungsängste gegenüber anderen demokratischen Kräften überwinden und aus dem Ghetto eines sektiererischen Verhaltens ausbrechen müsse. Bei Wahrung der Selbständigkeit sollten vor allem engere Kontakte zur Arbeiterbewegung hergestellt werden. Solche Erkenntnisse bieten heute viele neue Ansatzpunkte, ohne andere Kreise zu verprellen, umfangreicher als bisher Autonome in den demokratischen Kampf und in breitere demokratische Bündnisse einzubeziehen. Das ist jedoch nicht gleichzusetzen mit einem Akzeptieren ihres bisherigen "Aktionismus". Aber ein solches Zusammenwirken ermöglicht es, in einer sachlicheren Atmosphäre, ohne sich insgesamt von diesen jungen Menschen zu distanzieren, über die Zweckmäßigkeit und Folgen ihres Handelns zu diskutieren. 

Schon 1984 polemisierte der Vorsitzende der DKP, Herbert Mies, mit Auffassungen, die auch von Autonomen geteilt werden, wonach man einer Radikalisierung der demokratischen Kämpfe den Vorzug vor einer Ausweitung der demokratischen Bündnisse geben solle, und wies darauf hin: "Die radikalste  Bewegung ist immer noch die, die die Massen ergreift."