Ohne Lösung der Kurdenfrage kein Beitritt der Türkei zur EU

Von Mehmet Sahin und Ralf Kaufeldt

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Vor knapp sechs Monaten, am 10.12.99, wurde der Türkei auf dem EU-Gipfeltreffen in Helsinki der Status eines Beitrittskandidaten zur Europäischen Union zuerkannt.

Die Politiker, die im Dezember 1997 auf dem EU-Gipfel in Luxemburg hinsichtlich der Türkei noch die Position vertreten hatten, dass sie sich, wie der damalige Regierungschef von Luxemburg es formulierte, "mit Folterern nicht an einen Tisch setzen" würden, saßen nun mit einer 2-jährigen Verspätung doch mit der Türkei an einem Tisch und verliehen ihr den Kandidatenstatus, obwohl eigentlich keine grundlegenden Veränderungen bei den zuvor definierten "Hausaufgaben" festzustellen waren.

Wie kam es dazu, dass der Türkei nun doch die Beitrittsperspektive eröffnet wurde und welche Konsequenzen für die Demokratisierung des Landes und insbesondere für die Lösung der Kurdenfrage ergeben sich aus dem Beschluss? Um diese Fragen beantworten zu können, begeben wir uns auf eine Reise durch die vergangenen Monate und Jahre. Hierdurch und durch die Analyse von Äußerungen führender europäischer, amerikanischer und türkischer Politiker können wir versuchen, die Zusammenhänge zu verstehen.

Rückzug der Armee ohne Gesichtsverlust

Nach einem bis dahin (1997) 13-jährigen Krieg, in dessen Verlauf ca. 50.000 Menschen starben, über 3.000 Dörfer zerstört und über 3 Millionen Menschen der kurdischen Landbevölkerung vertrieben und ihrer Lebensgrundlagen weitgehend beraubt wurden, und in dem enorme materielle und finanzielle Ressourcen vergeudet wurden, hat auch die Türkei endlich begreifen müssen, dass es so nicht ewig weiter gehen konnte. Auch den Generälen war klar geworden, dass sie mit militärischen Mitteln den Konflikt nicht beenden würden. Weder konnte die türkische Armee militärisch die PKK besiegen, noch war die PKK in der Lage, alleine durch Waffengewalt Zugeständnisse auf der Gegenseite zu bewirken. Man befand sich militärisch in einer Pattsituation.

In dieser Lage suchte das Militär eine Möglichkeit, sich aus dem Sumpf des Krieges in einer Weise zurück zu ziehen, die es ihr erlaubte, trotzdem das Gesicht zu wahren. So erklärten der damalige Generalstabschef Karadayi und General Cevik Bir unermüdlich überall in der Welt, dass die "Armee ihre Aufgabe erledigt habe und dass nun die Politik ran muss". Gemeint war, dass man den bewaffneten Widerstand der Kurden gebrochen habe und sich nun neuen "Gefahren" widmen können. Und so ist es kein Zufall, dass spätestens seit Anfang 1997 neben das Feindbild des "Separatismus" ein zweites getreten war, nämlich das der "islamischen Gefahr". Um dies zu unterstreichen, wurde Ende 1997 sogar die 'Geheime Verfassung' der Türkei geändert.

Separatismusgefahr wird relativiert, "islamische Gefahr" aufgewertet

Der 28. Februar 1997 ging als Tag des unblutigen postmodernen Putsches in die Geschichte der Türkei ein. An diesem Tag machten die Militärs gegen den damaligen Ministerpräsidenten Necmettin Erbakan von der islamischen Wohlfahrtspartei (Refah) mobil und unterbreiteten der Regierung einen Maßnahmenkatalog gegen die islamischen Kräfte.

Im Juni 1997 schließlich jagten die Militärs die Wohlfahrtspartei von Erbakan, die aus den Wahlen Ende 1995 mit 6 Mio. Stimmen als stärkste Partei hervorgegangen war, aus der Regierung.

Dieses Beispiel verdeutlicht, dass das Land in Wirklichkeit vom Militär regiert wird, und zwar auf der Basis von dessen eigener "Verfassung". In diesem Dokument mit der Bezeichnung "Politikdokument der Nationalen Sicherheit - Milli Güvenlik Siyaset Belgesi", werden die Grenzen der offiziellen Verfassung definiert und festgelegt, welche Tabus im Staat herrschen und wer als Feind zu gelten hat.

Das "Politikdokument der Nationalen Sicherheit" gilt in der Türkei als 'Geheime Verfassung' des wahren Machtzentrums des Staates. Es wurde während des Kalten Krieges Mitte der 60er Jahre formuliert und nach dem Militärputsch vom 12. September 1980 sowie erneut 1992 geändert. Zu seiner bisher letzten Überarbeitung kam der Nationale Sicherheitsrat am 31. Oktober 1997 zusammen.

In dem genannten Dokument haben die Generäle als die wahren Machthaber, als der unsichtbare "Staat im Staate", dem Volk zwei Hauptfeinde und vorrangige Angriffsziele genannt. Das erste und allgemein bekannte ist der "Separatismus", also der Kampf der Kurden um Gleichberechtigung, das zweite hingegen sind islamische Strömungen, die als "Fundamentalismus" und religiöser Fanatismus bezeichnet werden. Wenn man das Dokument genau studiert, fällt auf, dass die "islamische Gefahr" mit an erster Stelle genannt und besonders hervorgehoben wird. Wir lesen:

1. Separatistische und fundamentalistische Aktionen bilden eine Gefahr für den Staat und sollen vorrangig bekämpft werden.

2. Der politische Islam ist weiterhin eine Bedrohung für die Türkei.

3. Einige Kreise wollen den türkischen Nationalismus zum Rassismus umfunktionieren. Die faschistische Mafia will daraus profitieren. Dies ist auch eine Bedrohung für den Staat.

An dieser Stelle wird zum ersten Mal von einer faschistischen Mafia gesprochen! Bemerkenswert und wichtig ist auch Punkt 9:

9. Es sollen Neustrukturierungen bezüglich der Pflege der kulturellen und regionalen Besonderheiten vorgenommen werden. Die öffentliche Verwaltung ist von dieser Maßnahme ausgeschlossen.

Und schließlich wird der außenpolitische Richtungskurs bestimmt:

11. Die Ausrichtung der Türkei nach Westen darf nicht verändert werden. Das Ziel der Türkei bezüglich der Mitgliedschaft in der EU muss beibehalten werden.

Die Generäle haben durch die Änderungen in der "Geheimen Verfassung" den politischen Islam zu einer Gefahr ersten Ranges aufgewertet und die Gefahr des "Separatismus" damit quasi relativiert. Und außerdem haben die wahren Machthaber zum ersten Mal in der Geschichte der Türkei von "Neustrukturierungen bezüglich der Pflege der kulturellen und regionalen Besonderheiten" gesprochen. Dies bedeutet nichts anderes, als dass es in der Türkei außer der türkischen auch andere Kulturen und Ethnien gibt und dass sie durch Umstrukturierung des Staates berücksichtigt werden müssen.

Kann man von einem Staat wie dem türkischen, der angeblich einen Krieg gewonnen hat, erwarten, dass er von sich aus gegenüber den Besiegten Zugeständnisse macht? Ist es nicht viel naheliegender, dass hier auch von außen Druck ausgeübt wurde?

Die Tatsache, dass die USA aus wirtschaftlichen, aber auch militärstrategischen Gründen ein herausragendes Interesse an einer dauerhaften Befriedung des Bündnispartners Türkei haben mussten, macht es wahrscheinlich, dass sie die Militärs in Ankara zur Änderung der "Geheimen Verfassung" und weiteren Reformschritten drängten und im Gegenzug ihre Unterstützung für die "Operation Öcalan" signalisierten, die dann ein Jahr danach, im Herbst 1998 mit dessen Vertreibung aus Syrien begann und mit seiner Auslieferung in die Türkei im Februar 1999 endete.

Die USA als alleinige Hegemonialmacht in einer monopolaren Welt

Schließlich hatte sich die weltpolitische Lage in den letzten Jahren erheblich verändert. Der Kalte Krieg ging mit dem Fall der Mauer zu Ende. Damit löste sich die bipolare Welt mit den beiden Supermächten USA und UdSSR auf. Die heute seit einem Jahrzehnt existierende monopolare Welt wird von den US-Amerikanern alleine dominiert. Sie bestimmen weitgehend die Richtung der Geschehnisse in der Welt.

Auch der frühere US-Sicherheitsberater und Vordenker der US-amerikanischen Außenpolitik Zbigniew Brzezinski schrieb kürzlich, dass die Welt sich heute unter der Hegemonie der "einzigen globalen Supermacht" USA befinde. Die Ära der sozialen und Befreiungsbewegungen geht für Brzezinski offenbar zu Ende. Wörtlich heißt es in seinem Aufsatz, "dass die internationale Politik heute von drei zentralen Faktoren bestimmt ist: von dem Primat der amerikanischen Macht, der Attraktivität der demokratischen Idee und dem Erfolg der freien Marktwirtschaft. Diese Faktoren stehen untereinander in einem Verhältnis der gegenseitigen Beeinflussung und Interdependenz. Sie stellen darüberhinaus einen dramatischen Gegensatz zu den zentralen politischen Phänomenen des 20. Jahrhunderts dar. Man kann es wohl mit Recht das verbrecherischste und destruktivste Jahrhundert in der Geschichte der Menschheit nennen, beherrscht von utopischer Hybris, von Fanatismus und rücksichtslosem Dogmatismus. (...) Dies ist heute Geschichte, und wir dürfen uns des weltweiten Siegs der demokratischen Idee erfreuen. (...) Häufig wird die Rolle Amerikas in der Welt als "hegemonial" beschrieben, und in einem gewissen Sinne trifft das auch zu. Es ist wahr, dass die amerikanische Überlegenheit heute ein zentrales Faktum der internationalen Politik ist."

Die Türkei wiederum liegt nicht nur in einer konfliktreichen, sondern geostrategisch überaus wichtigen Region dieser von den USA dominierten Welt. Als ein Brückenkopf zum Nahen Osten, zur islamischen Welt, zum Kaukasus und Zentralasien, zum Balkan und Mittelmeerraum wird sie in Zukunft im Rahmen der "Neuen Weltordnung" noch wichtige Aufgaben übernehmen müssen.

Da sie aber selber innen- und außenpolitische sowie wirtschaftliche Probleme hat, ist zunächst ihre eigene Stabilisierung erforderlich. Hierbei muss sie sich von ihren "Lasten" befreien: das Kurdenproblem lösen, die Demokratisierung vorantreiben und internationale Menschenrechtsstandards anerkennen.

So wird die Türkei seit längerer Zeit auch und gerade von ihren Verbündeten gedrängt, sich fest in Europa und im Westen einzubinden und sich hierbei Reformen zu öffnen, wobei die politische Lösung der Kurdenfrage eine herausgehobene Stellung einnimmt.

Clinton in der Türkei

Vor seiner Teilnahme am OSZE-Gipfel in Istanbul absolvierte US-Präsident Clinton Mitte November 1999 einen offiziellen Staatsbesuch in der Türkei. In seiner Rede vor dem türkischen Parlament am 15.11.99 unterstrich er, dass er einen Beitritt der Türkei in die EU befürworte. Bezüglich der Kurden sagte der US-Präsident, dass sich ihnen "das wesentlichste Geburtsrecht, das auf ein ganz normales Leben", eröffnen müsse.

"Hürriyet" fasste die wichtigsten Botschaften Clintons wie folgt zusammen: "Es geht nicht, dass jede ethnische Gruppe Unabhängigkeit bekommt. Aber die ethnischen und religiösen Gruppen sollen ihre Rechte in den Staaten, in denen sie leben, bekommen." Clinton soll sowohl beim damaligen Staatspräsidenten Demirel als auch bei Ministerpräsident Ecevit die Rechte der Kurden thematisiert haben. Dazu Ecevit: "Es ist wichtig, dass die anzuerkennenden Rechte nicht zum Separatismus und zum Terror führen."

Hinsichtlich der türkisch-europäischen Beziehungen sagte Clinton weiter, die volle Partnerschaft der Türkei mit der EU sei "eine der vier oder fünf Schlüsselfragen" in diesem Teil der Welt. Zu einem ungeteilten, demokratischen und friedlichen Europa gehöre eine stabile und prosperierende Türkei"

OSZE-Gipfel in Istanbul

Am 18. und 19. November 1999 fand das Gipfeltreffen der 54 OSZE-Staaten (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) in Istanbul statt. Mit der Auswahl des Tagungsorts wurde die Türkei international aufgewertet und zugleich ihren Nachbarstaaten signalisiert, dass das Land künftig eine wichtigere diplomatische Rolle übernehmen sollte.

Die Mitgliedsstaaten unterzeichneten dort die "Charta für Europäische Sicherheit". Nach der Charta kann sich kein Staat mehr auf das Argument "Keine Einmischung in innere Angelegenheiten" berufen. Die Charta betont ausdrücklich, dass innerstaatliche Konflikte in einem OSZE-Land die Sicherheit aller anderen Mitgliedsstaaten gefährden können - erstmals werden so der Souveränität der OSZE-Staaten klare Grenzen gesetzt. Zudem werden Freiheitsrechte für die Minderheiten eingefordert.

Die Ereignisse des Jahres "2000 minus 1"

Wie wir uns noch erinnern können, ist der Vorsitzende der PKK, Abdullah Öcalan, im Oktober 1998 durch eine internationale Zusammenarbeit gezwungen worden, Syrien zu verlassen. Die Route der Treibjagd bis zu seiner Verschleppung aus Kenia in die Türkei am 15. Februar 1999 führte über 3 Kontinente. Nach allem, was heute über die Hintergründe des Komplotts bekannt ist, lag die Regie bei dieser Operation in den Händen der USA und spielten mehrere NATO-Staaten dabei eine entscheidende Rolle. Und die EU unter dem Vorsitz der Bundesrepublik Deutschland diente bei diesem schmutzigen Geschäft als Feigenblatt.

Wir erinnern uns auch noch an die nach der Ankunft Öcalans in Rom von Bundeskanzler Schröder und Außenminister Fischer sowie ihren italienischen Amtskollegen D’Alema und Dini am 27. und 28. November 1998 gemachten Versprechungen: "Wir werden eine europäische Initiative zur Lösung der Kurdenfrage starten."

Aber nach dieser öffentlichen Ankündigung geschah im positiven Sinne nichts. Sie haben bei den Kurden Hoffnungen geweckt und sie später im Stich gelassen. Öcalan wurde letztendlich an seine Gegner in der Türkei ausgeliefert, dort am 29. Juni 1999 zum Tode verurteilt und sitzt auf Imrali in Isolationshaft.

Nach diesen Geschehnissen hatte die PKK 3 Optionen:

a) sich zu ergeben,

b) den bewaffneten Kampf noch zu intensivieren und auszuweiten, der sich dann zu einem Bürgerkrieg wie in Bosnien hätte entwickeln können, oder

c) alle militärischen Aktionen einzustellen und zu versuchen, auf demokratischem Wege eine Lösung zu erreichen.

Und die PKK, die seit 1993 selber dreimal einen einseitigen Waffenstillstand verkündete, um die Türkei zu einer friedlichen Lösung zu bewegen, hat die Hauptbotschaft der am internationalen Komplott gegen Öcalan Beteiligten verstanden. Diese lautete: "Rechte werden nicht mehr durch Revolutionen und Waffengewalt erreicht, sondern durch Reformen und mit friedlich-demokratischen Mitteln."

Auch deshalb entschied sie sich für die 3. Option. Um eine friedliche Lösung der Kurdenfrage innerhalb der Staatsgrenzen der Türkei zu suchen, stellte die PKK den bewaffneten Kampf im Sommer 1999 ein und begann, ihre Kämpfer von türkischem Territorium zurückzuziehen. Zudem wurden 2 Delegationen mit Friedensbotschaftern, bestehend aus je 8 Personen -eine aus den Bergen, eine aus Europa- als Zeichen des guten Willens in die Türkei geschickt.

Die Beitrittskandidatur der Türkei und der Druck von außen

Wie nach einer vorgeschriebenen Regie erledigten alle direkt oder indirekt Beteiligten ihre Aufgaben. Die PKK brachte ihre Waffen zum Schweigen, zog ihre Kampfverbände zurück und änderte schließlich auf dem letzten Parteitag im Januar 2000 offiziell ihre Strategie, was sogar im diesjährigen Verfassungsschutzbericht als "ein grundlegender Wandel" bezeichnet wird.

Und die Türkei versprach dem Westen, also der EU und den USA, dass sie die "Kopenhagener Kriterien" voll erfüllen, sich demokratisieren, die gegen Öcalan verhängte Todesstrafe aussetzen sowie die Kurdenfrage Schritt für Schritt lösen werde.

Erst durch diese gewaltigen Veränderungen und Zugeständnisse der beiden Konfliktparteien haben die Europäer der Türkei in Helsinki die Türen zur EU geöffnet.

Wenn die PKK ihre Waffen nicht zum Schweigen gebracht hätte und der Krieg noch andauern würde, wäre der Weg in die EU versperrt geblieben. Deswegen ist es nicht übertrieben zu sagen, dass auch die einseitigen Schritten der PKK dazu beigetragen haben, dass der Türkei auf dem EU-Gipfel in Helsinki am 10.12.99, am Tag der Menschenrechte, der Status eines Beitrittskandidaten verliehen wurde.

Beispiele der Einflussnahme von außen aus jüngster Zeit

Beispiel 1: Verheugen in Ankara

Am 8. März 2000 reiste der für die EU-Erweiterung zuständige Kommissar Günter Verheugen als erster hochrangiger EU-Vertreter seit dem Dezember 1999 in die Türkei. In seinen Gesprächen mit Ministerpräsident Ecevit, dessen Stellvertreter Bahceli und Außenminister Cem ging es um die zwischen Ankara und der EU-Kommission auszuhandelnde Vereinbarung über eine "Beitrittspartnerschaft" und die Reformschritte, die von der Türkei erwartet werden, bevor die eigentlichen Beitrittsverhandlungen aufgenommen werden können.

Bei diesen Gesprächen reagierte Ecevit besonders allergisch darauf, dass Verheugen vom "Kurdenproblem" sprach, welches es in der Türkei gar nicht gebe, da hier die Staatsbürger nicht nach ethnischen Kriterien eingeteilt würden. Verheugen ließ sich indes nicht einschüchtern und benutzte demonstrativ die Bezeichnung "Kurdenproblem" abermals. Schon vor seiner Abreise hatte Verheugen deutlich gemacht, dass es ohne eine substanzielle Veränderung der türkischen Kurdenpolitik keinen EU-Beitritt geben werde. Ein Brüsseler Diplomat wird mit der Feststellung zitiert: "Gleichgültig wie man es nennt, ob kurdisch oder südöstlich, es bleibt ein Problem". Dies scheint man auch in Ankara inzwischen verstanden zu haben. Nach Angaben der "Turkish Daily News" analysiert eine Arbeitsgruppe im türkischen Außenministerium derzeit die rechtliche Situation ethnischer und religiöser Minderheiten in den EU-Staaten, woraus danach notwendige Korrekturen in der Kurdenpolitik abgeleitet werden sollen.

Beispiel 2: Dokument über Rechte der "kurdisch-stämmigen türkischen Bürger"

Zum ersten Mal hat die Türkei ein internationales Dokument unterzeichnet, in der die Wörter "Kurden" oder "Kurdisch" vorkommen. Zum Abschluss eines Treffens im April 2000 zwischen Vertretern der EU und der türkischen Regierung fand sich in einer gemeinsamen Erklärung die Formulierung "Verbesserung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der kurdisch-stämmigen türkischen Bürger".

Der EU-Ratsvorsitzende Jaime de Gama, der für die Erweiterung zuständige Kommissar Günter Verheugen und der türkische Außenminister Ismail Cem waren sich einig geworden, in dem Dokument die Wörter "das kurdische Volk” durch die Wörter "kurdisch-stämmige türkische Bürger" zu ersetzen. In der gemeinsamen Erklärung wurde die Erfüllung der Kopenhagener Kriterien, die auch die Rechte der "kurdisch-stämmigen türkischen Bürger" beinhaltet, und die Abschaffung der Todesstrafe gefordert.

Der derzeitige EU-Ratspräsident de Gama erklärte, man habe die Gesetzesvorlagen der türkischen Regierung zur Abschaffung der Todesstrafe und zur Gewährung der Meinungs- und Pressefreiheit studiert und bewerte sie positiv. Die türkische Regierung habe versichert, nach und nach und Schritt für Schritt die Rechte der Kurden zu gewähren.

Beispiel 3: Bundespräsident Rau auf Staatsbesuch in Ankara

Schon vor Beginn seines dreitägigen Staatsbesuchs in Ankara Anfang April 2000 kritisierte Bundespräsident Rau, dass die Türkei in den vergangenen 14 Jahren bezüglich der Menschenrechtslage zu wenig Fortschritte gemacht habe. Hierbei betonte er, dass ein geplantes Treffen mit türkischen Menschenrechtlern in der Residenz des deutschen Botschafters auf seinen persönlichen Wunsch hin in das Besuchsprogramm aufgenommen worden sei "und ich tue das nicht heimlich, sondern ganz offen, damit die türkische Regierung weiß, auf welcher Seite die Deutschen stehen".

Unter Anspielung auf die ungelöste Kurdenfrage forderte Rau die Achtung und den Schutz aller Bevölkerungsgruppen, "auch jene, die türkische Staatsbürger sein, aber ihre kulturellen Eigenheiten behalten wollen". Sprachliche, kulturelle und ethnische Vielfalt und deren Anerkennung bedeuteten nicht Teilung oder Verfall der staatlichen Einheit. Toleranz und Pluralismus seien geradezu das Gegenteil von Separatismus.

Beispiel 4: Forderungen der Clinton-Administration

Der für europäische Angelegenheiten zuständige stellvertretende Außenminister der USA und frühere US-Botschafter in Ankara, Marc Grossman, hat die Türkei im März 2000 aufgefordert, den Ausnahmezustand in den 5 kurdischen Provinzen aufzuheben, die Folter gänzlich abzuschaffen, volle Meinungsfreiheit zu gewähren und die Demokratisierung voranzutreiben.

Grossman sagte wörtlich: "Obwohl im letzten Jahr einige Gesetze zur Verbesserung der Menschenrechtslage geändert worden sind, ist diese Aufgabe damit nicht endgültig gelöst." Die Antworten und Lösungen vieler Probleme lägen in der Formel "Mehr Demokratie, volle Freiheiten".

Was geschieht in der Türkei?

In der Türkei finden negative und positive Entwicklungen parallel statt. Einerseits verzeichnen wir massive Menschenrechtsverletzungen, Repressalien und Verfolgungen. Andererseits ist aber trotz allem dank der einseitigen Schritte der PKK eine mildere Atmosphäre entstanden und eine Diskussionswelle über die bestehenden Probleme der Türkei in Gang gesetzt worden.

Es gibt etliche Gründe, sowohl pessimistisch als auch optimistisch zu sein. Beginnen wir mit den negativen Entwicklungen:

a) Repressalien aus jüngster Zeit

Seit dem Helsinki-Gipfel im Dezember 1999 nahmen die Menschenrechtsverletzungen wieder erheblich zu. Die Verfolgung und Unterdrückung von KurdInnen und Menschenrechtlern gehen unvermindert weiter. Von Dezember bis Mai wurden massenhaft kurdische HADEP-Politiker sowie kurdische Gewerkschafter und Menschenrechtler festgenommen und verhaftet.

Nach ihrer Rückkehr von einer internationalen Tagung in Deutschland wurden die 3 gewählten kurdischen HADEP-Bürgermeister aus Diyarbakir, Siirt und Bingöl am 19. Februar 2000 verhaftet und misshandelt. Erst nach heftigen Protesten im In- und Ausland wurden sie nach 9 Tagen freigelassen. Der Prozess gegen sie wird aber fortgeführt.

Am 24. Februar 2000 wurden fast alle HADEP-Vorstandsmitglieder zu hohen Gefängnisstrafen verurteilt.

Der ehemalige Vorsitzende des Menschenrechtsvereins Akin Birdal musste am 28. März erneut ins Gefängnis, obwohl er noch unter den gesundheitlichen Folgeschäden des 1998 auf ihn verübten Attentats leidet.

Der ehemalige Ministerpräsident Erbakan wurde am 10. März 2000 wegen einer Rede aus dem Jahr 1994 zu einem Jahr Gefängnis verurteilt.

Über 10.000 politische Gefangene, über 100 Intellektuelle, 80 Journalisten sitzen immer noch in den Gefängnissen der Türkei.

12 Zeitungen und Zeitschriften dürfen in den Ausnahmezustandsregionen nicht vertrieben werden. Wegen des Vertriebsverbots nach Kurdistan, zugenommener Unterdrückung, Verfolgung der Mitarbeiter und Festnahmen hat die prokurdische Tageszeitung Özgür Bakis am 22.4.00, genau am Tag der kurdischen Presse, ihr Erscheinen eingestellt. Kurdische Zeitungen und Zeitschriften, wie Azadiya Welat oder Pine, die Außenminister Cem gern bei sich trug, um seinen europäischen Kollegen zu zeigen, wie demokratisch die Türkei ist, dürfen ihre Zielklientel nicht erreichen. Dies gilt auch für kurdische Bücher.

50.000 vertriebene kurdische Familien möchten in ihre Dörfer zurück und es wird ihnen nicht erlaubt.

Auch in diesem Jahr unternahm die türkische Armee im Rahmen ihres "alljährlichen Frühjahrsputzes" militärische Operationen gegen die PKK diesseits und jenseits der türkisch-irakischen Grenze mit Dutzenden Toten auf beiden Seiten.

Am 12. Mai 2000 wurde die erst Mitte April wiedereröffnete Zweigstelle des Menschenrechtsvereins IHD in Diyarbakir erneut geschlossen, am 17. Mai auch die in Van.

In fünf Provinzen gilt immer noch der 1987 verhängte Ausnahmezustand. Damit hat der dortige Regionalgouverneur sehr weitreichende Befugnisse. So kann er den Medien Restriktionen auferlegen, missliebige Personen deportieren und sogar ganze Dörfer zwangsevakuieren lassen.

Im jüngsten 61-seitigen Bericht des US-Außenministeriums zur Menschenrechtslage in der Türkei wird Ankara zwar bescheinigt, einige Gesetzänderungen auf dem Weg gebracht habe, um Missstände zu beseitigen. In der Praxis aber seien schwere Menschenrechtsverletzungen weiterhin an der Tagesordnung. Dazu gehörten Folter und Misshandlungen durch Sicherheitskräfte, Ermordungen und Verschwindenlassen von Bürgerrechtlern, Einschränkungen der Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit, massive Behinderungen der Arbeit missliebiger politischer Parteien und Menschenrechtsgruppen, die Vertreibung hunderttausender Kurden aus ihren Dörfern und das kurdische Sprachverbot in Massenmedien und Schulen. Massive Menschenrechtsverletzungen gebe es vor allem in den überwiegend kurdisch besiedelten Gebieten der Türkei. Hier forderten die inzwischen deutlich zurückgegangenen Zusammenstöße 1999 zwar weniger Opfer als in den Jahren zuvor, aber von einer Normalisierung oder gar einer politischen Lösung der Kurdenfrage ist man noch weit entfernt.

b) Der Staat im Staate wäscht seine schmutzigen Hände

Parallel zu massiven Menschenrechtsverletzungen finden Razzien gegen sogenannte islamische Terrororganisationen statt, vielleicht auch um damit ein Gegengewicht herzustellen und die Kurden und demokratischen Kräfte zu beruhigen.

Mitte Januar 2000 wurde die "Hisbollah" und später auch andere Organisationen zum meistdiskutierten Thema in der Türkei. Die einen sehen in der Hisbollah ein zur Bekämpfung der PKK eingesetztes Instrument des Staates. Für die anderen ist sie eine pro-iranische islamistisch-fundamentalistische Organisation, die das Land Türkei und die türkische Nation zu spalten versucht.

Welche Version ist richtig? Hat der türkische Staat eine solche mörderische Bande aufgezogen, um sie gegen Oppositionelle und den kurdischen Widerstand einzusetzen, oder haben ausländische Mächte solche Organisationen gegründet und in der Türkei etabliert, um diese zu schwächen?

Der Name "Hisbollah" fiel erstmals Ende der 80er Jahre. Ihren eigentlichen Ruhm erlangte sie aber in den 90er Jahren, als täglich auf den Straßen von Diyarbakir, Batman und Silvan Dutzende Menschen am hellichten Tag vor aller Augen bestialisch getötet wurden, wofür die Hisbollah verantwortlich gemacht wurde.

Ihre Operationsgebiete waren also die vom Krieg beherrschten und von insgesamt über 300.000 Sicherheitskräften - Armee-, Gendarmerie- und Polizeiangehörigen - belagerten Städte Kurdistans. Aber der Staat, der 10- bis 15-jährige Zeitungsverkäufer, Menschenrechtler und Gewerkschafter verfolgte und 85% der kurdischen Bevölkerung polizeilich hat registrieren lassen, der also über alles Bescheid wissen musste, sah fast nichts, als kurdische Intellektuelle und Oppositionelle zu Tausenden auf offener Straße regelrecht hingerichtet wurden.

Bedenkt man, dass es über 10.000 politisch motivierte Morde im Ausnahmezustandsgebiet gegeben hat, wird das Ausmaß dieser Grausamkeiten deutlich. Zielobjekte dieser Bande waren fast ausschließlich Kurden und ihre Operationsgebiete waren bis vor wenigen Monaten die kurdischen Städte.

Hätte die PKK nicht einseitig ihre Waffen zum Schweigen gebracht, und würden die bewaffneten Auseinandersetzungen noch andauern, dann hätten Operationen gegen solche Mörderbanden wohl bis heute nicht stattgefunden.

Der Zeitpunkt der Operationen hängt auch mit der innenpolitischen Tagesordnung der Türkei zusammen. Bis Mitte Januar haben die Vollstreckung oder Aussetzung der Todesstrafe gegen Öcalan und die Vorschläge von kurdischer Seite zur friedlichen Lösung der Kurdenfrage und zur Demokratisierung des Landes die politischen Diskussionen in der Türkei beherrscht.

In der Absicht, mit der Tugendpartei (Fazilet Partisi), gegen die bereits im Mai 1999 ein Parteiverbotsverfahren eingeleitet wurde, abzurechnen und sie in die Knie zu zwingen, hat der Staat die Hisbollah und andere islamische Terrorbanden auf die Tagesordnung gebracht. Der Bevölkerung sollte vor Augen geführt werden, welche Grausamkeiten eine Organisation, die wie die Tugendpartei den Islam auf ihre Fahnen geschrieben hat, begehen kann. So wollte man einerseits die Unterstützung der Bevölkerung für die Tugendpartei schwächen und ihrem Ansehen Schaden zufügen. Und darüber hinaus wurde den Kurden und demokratischen Kräften, vor allem aber der PKK signalisiert: "Ihr wolltet Gegenschritte zum Friedensprozess, also bitte: wir rechnen mit den Mörderbanden und mit Hisbollah ab."

In Wirklichkeit spricht vieles dafür, dass staatliche Institutionen ihre Drecksarbeit von den anderen haben erledigen lassen und heute versuchen ihre "Altlasten" auf die anderen abzuschieben. Und dass hinter der islamischen "Hisbollah" und anderen Terrororganisationen diejenigen stecken, die auch hinter Gladio und JITEM, hinter der Konterguerilla und dem Susurluk-Skandal stecken. Sie sind "uneheliche Kinder" des türkischen Staates, der sie im Sumpf des Krieges in Kurdistan gezeugt hat, also Geschwister der o. g. paramilitärischen Organisationen, deren Väter im innersten Zentrum des Staates, im "Staat im Staate" sitzen.

Und diese Einschätzung gilt auch für die anderen Terrororganisationen, gegen die heute noch Operationen durchgeführt werden und auf deren Konto z. B. die Attentate auf prominente Journalisten wie Ugur Mumcu oder Ahmet Taner Kislali gehen.

c) Im Gegensatz zu den negativen Entwicklungen sind auch positive zu verzeichnen

Die Aussetzung des Todesurteils gegen Öcalan

Am 12. Januar 2000 beschlossen die Vorsitzenden der türkischen Regierungsparteien Bülent Ecevit (Demokratische Linkspartei / DSP), Devlet Bahceli (Partei der Nationalistischen Bewegung / MHP) und Mesut Yilmaz (Mutterlandspartei / Anap), das Parlament erst nach einem frühestens in eineinhalb Jahren erwarteten Grundsatzurteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte über eine Hinrichtung des PKK-Vorsitzenden Abdullah Öcalan entscheiden zu lassen. Hierzu war Ankara am 30.11.99 vom Straßburger Menschenrechtsgerichtshof aufgefordert worden. Damit hat sich eine türkische Regierung erstmals bereit erklärt, die Entscheidung einer europäischen Instanz abzuwarten und damit auf ein Stück nationaler Souveränität zu verzichten. Die Akte Öcalan soll allerdings sofort dem Rechtsausschuss des Parlaments zur weiteren Befassung zugeleitet werden, falls die PKK oder ihre Anhänger versuchen, "diesen Prozess gegen die Interessen des Staates zu verwenden", so Ministerpräsident Ecevit.

Vor der Entscheidung der Regierungsparteien hatten Ecevit, der damalige Staatspräsident Demirel und auch Armeekreise vor möglichen innen- und außenpolitischen Folgen einer Hinrichtung gewarnt, insbesondere vor einem Wiederaufflammen des Bürgerkriegs in den kurdischen Gebieten sowie der Gefährdung der gerade erst begonnenen Heranführung der Türkei an die EU. So wie schon seit Wochen die EU und die USA dafür plädiert hatten, die Straßburger Entscheidung abzuwarten, hatte noch am Tag der Entscheidung die portugiesische EU-Ratspräsidentschaft davor gewarnt, dass eine Hinrichtung Öcalans den Weg der Türkei nach Europa verbauen könnte.

Öcalan selbst appellierte an beide Seiten, die Aussetzung der Urteilsvollstreckung nicht als Sieg oder Niederlage zu betrachten, sondern als Chance für die Etablierung von Frieden und Demokratie. Bei einer anderen Entscheidung hätte nicht nur er selbst, sondern "auch der Staat, die Menschen, jeder hätte verloren". Die Regierung werde ihre Entscheidung nicht bereuen: "Der erreichte Punkt ist ein neuer Anfang" und "Wir werden unseren Beitrag leisten", so Öcalan in einer über seine Anwälte verbreiteten Erklärung vom 14. Januar. Die Türkei brauche Reformen. So bedürfe es für den inneren Frieden auch einer Amnestie.

Die Wahl von Sezer

Im dritten Wahlgang wurde am 5. Mai 2000 der Vorsitzende des Verfassungsgerichtes Ahmet Necdet Sezer mit der absoluten Mehrheit (330 von 533 abgegebenen Stimmen) zum neuen Staatspräsidenten gewählt. Er hat sein Amt am 16. Mai 2000 angetreten und ist das erste türkische Staatsoberhaupt, das nicht aus den Reihen des Militärs oder der Politik kommt.

In der Vergangenheit weckte er mehrmals Aufmerksamkeit durch seine öffentlich geäußerte Kritik an Demokratiedefiziten in der Türkei, so vor einem Jahr in einer Rede zum 37. Jahrestag der Gründung des Verfassungsgerichts, als er forderte, die in der 1982 von den Putschgenerälen ausgearbeiteten Verfassung enthaltenen Einschränkungen der Meinungsfreiheit aufzuheben und dabei auch beklagte, dass die hierin legitimierten Sprachverbote nicht mit der Europäischen Menschenrechtskonvention vereinbar seien. Die Garantie der Menschenrechte sei aber "die unverzichtbare Voraussetzung zivilisierter Gesellschaften".

Viele in- und ausländische Beobachter, gerade auch die reformorientierten Kräfte aus Politik, Wirtschaft und der Bürgerrechtsbewegung, sehen in dem neuen Präsidenten, der in dieser Funktion auch Vorsitzender des einmal monatlich tagenden Nationalen Sicherheitsrats ist, einen absolut integeren Hoffnungsträger für die demokratische Umgestaltung des Landes, der dazu beitragen kann, die Türkei auf dem Weg in die EU an die von ihm selbst geforderten internationalen Standards bei den Menschenrechten heranzuführen.

Doch manchen gehen Sezers bisher geäußerte liberale Vorstellungen von mehr Demokratie schon zu weit: so bezeichnete ihn die der Armee nahestehende, rechtsnationalistische Zeitung "Ortadogu" sogar als Freund der Fundamentalisten und Separatisten. Und der Vorsitzende der an der Regierung beteiligten Nationalistischen Bewegungspartei MHP, Devlet Bahceli, wird von "Hürriyet" so zitiert: "Als Verfassungsgerichtspräsident gab Sezer verschiedene Meinungen ab, aber als Präsident werden seine Ansichten die Ansichten des Staates sein müssen."

Der Generalstab "empfiehlt" der Regierung demokratische Reformen

"Entgegen einer weitverbreiteten Ansicht treten die türkischen Streitkräfte entschieden für Demokratisierung, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit ein und wünschen Fortschritte auf dem Weg zur Vollmitgliedschaft in der EU", erklärte ein Vertreter des Generalstabes Anfang Mai 2000 einer überraschten Runde von hohen Regierungsvertretern. "Ich spreche damit für die Befehlshaber." Die bis in die Formulierungsvorschläge für die Verfassungsänderungen bereits ausgearbeiteten "Empfehlungen" sehen u.a. vor:

die Abschaffung der Todesstrafe und Unterzeichnung des entsprechenden Europaratsprotokolls;

die Aufhebung der Verfassungsbestimmung, die bisher alle Dekrete und Gesetze der Militärregierung von 1980 der gerichtlichen Kontrolle entzieht;

die Reform des Nationalen Sicherheitsrats (Milli Güvenlik Kurulu; MGK), also des monatlich tagenden Gremiums, über das die Militärs unmittelbar Einfluss auf die Staatsgeschäfte ausüben und das daher als großer Stolperstein auf dem Weg nach Europa gilt. Der MGK berät über alle aktuellen innen- und außenpolitischen Fragen und "teilt dem Kabinett seine Ansichten zur Beschlussfassung mit", wie es in der Verfassung heißt. Ihm gehören bisher Generalstabschef Kivrikoglu und die Oberkommandierenden der vier Teilstreitkräfte auf der militärischen Seite und der Ministerpräsident sowie die Minister für Äußeres, Inneres und Verteidigung auf der zivilen Seite an; den Vorsitz führt der Staatspräsident und die Geschäftsführung liegt in den Händen eines Generals. Nach den Vorschlägen des Generalstabes soll der Sicherheitsrat in der Verfassung zu einem "beratenden Organ" herabgestuft werden, das dem Kabinett lediglich "Empfehlungen" gibt und die Zahl der Zivilisten darin aufgestockt werden;

die Änderung der Verfassung bis Ende 2001 und Abschaffung der Einschränkungen von Grundrechten. Bis 2004 soll das Justiz-, Bildungs- und Arbeitswesen demokratisch gestaltet werden.

Die "Empfehlungen" des Generalstabs wurde von der Regierung als "Befehl" verstanden und diesbezügliche Schritte bereits eingeleitet. Und von der Vertreterin der EU in Ankara, Karen Fogg, wurden die Vorschläge des Generalstabes begrüßt und als "ausgesprochen positiv" bezeichnet.

Fazit: Beginn einer neuen Epoche?

Erinnern wir uns noch einmal an die Kernaussagen westlicher Politiker:

US-Präsident Clinton forderte für die Kurden "das wesentlichste Geburtsrecht, das auf ein ganz normales Leben";

Verheugen sagte, dass es ohne eine substanzielle Veränderung der türkischen Kurdenpolitik keinen EU-Beitritt geben wird;

Zum ersten Mal in ihrer Geschichte unterzeichnete die Türkei eine internationale Erklärung, in der die Wörter "Kurden" oder "Kurdisch" vorkommen. Hierin wird die Erfüllung der Kopenhagener Kriterien, die auch die Rechte der "kurdisch-stämmigen türkischen Bürger" beinhaltet, und die Abschaffung der Todesstrafe gefordert;

EU-Ratsvorsitzende de Gama erklärte, dass die türkische Regierung versichert habe, die Rechte der Kurden nach und nach, Schritt für Schritt zu gewähren.

Wenn wir diese Erklärungen der westlichen Politiker in eine Beziehung setzen zu den letzten Erklärungen der politischen Funktionsträger in der Türkei, ergeben sie gemeinsam einen Sinn und ermutigen uns in der Hoffnung auf Frieden und Demokratie.

All diese Erklärungen stammen aus der jüngsten Zeit. Zusammengefasst ergeben sie folgendes Bild:

Ohne die Erfüllung der Kopenhagener Kriterien wird es keinen Beitritt zur EU geben.

Um aber die Kopenhagener Kriterien zu erfüllen, muss die Türkei insbesondere die Kurdenfrage lösen.

Das heißt im Endeffekt: Ohne die Lösung der Kurdenfrage wird es keinen EU-Beitritt geben.

Die "Kopenhagener Kriterien" sind ist die Formel, mit der versucht wird, die Türkei zu demokratisieren und die Kurdenfrage zu lösen. Und die Kurden sagen "ja" zu diesem neuen Kurs.

Cüneyt Ülsever fasste seine Einschätzung nach dem Clinton-Besuch in seiner Hürriyet-Kolumne am 17.11.99 sinngemäß so zusammen: "Seitdem Apo durch die USA an die Türkei ausgeliefert wurde, sage ich, soweit ich kann, dass die lebendige Auslieferung Apos den Beginn einer neuen Epoche für die Türkei bedeutet. Zu den Vorbereitungen der Türkei gehören Hausaufgaben. Clinton hat diese Hausaufgaben noch einmal erwähnt. Schlüssel für die Vorbereitung der Türkei für das nächste Jahrhundert ist die Stabilität. Sie geht über die Demokratie und Menschenrechte. Das heißt, dass die Stabilität der Türkei mit der Lösung der Kurdenfrage sehr eng verbunden ist."

Der Abgeordnete und Ko-Vorsitzende der Parlamentariergruppe "Türkei" des Europäischen Parlaments Daniel-Cohn Bendit äußerte kürzlich in einem Interview mit der französischen Tageszeitung "Le Monde", die Türkei habe 2 Alternativen: entweder Bagdad oder Barcelona. Bagdad bedeute, dass sich nichts ändere und der Staat eine unitaristische, zentralistische und kemalistische Republik bleibe wie bisher. Barcelona hingegen bedeute, dass die Türkei sich zu den Werten des Westens bekenne, sich umgestalte und eine föderative Struktur wie in Spanien annehme, in der die kurdischen Regionen als Teil der Türkischen Republik einen Status hätten wie dort Katalonien. Diese Türkei habe eine Zukunft in Europa.

Die Türkei hat sich zu positiven Veränderungen zugunsten aller Beteiligten durchringen müssen. Und die Kurden haben auf dem Weg zur Neugestaltung des gesellschaftlichen Lebens in der Türkei tatkräftige Hilfe geleistet.

Viele Signale deuten darauf hin, dass die Türkei sich verändern muss und wird, und zwar innerhalb der nächsten 4 Jahre. Diesen Zeitrahmen hat die EU als Empfehlung vorgegeben und zuletzt haben auch die Generäle diesen Terminplan unterstrichen. Es gibt kein Zurück mehr.

Deswegen gibt es trotz aller Rückschläge und Widersprüche begründete Hoffnung darauf, dass Frieden und Demokratie auch in einem Land wie der Türkei möglich sind.

Memorandum deutscher Friedens- und Menschenrechtsorganisationen

In einem Ende Mai 2000 veröffentlichten Memorandum, das durch die Initiative des Dialog-Kreises "Krieg in der Türkei - Die Zeit ist reif für eine politische Lösung" zustande kam und von vielen Friedens- und Menschenrechtsverbänden in der Bundesrepublik Deutschland unterstützt wurde, werden fünf Schritte aufgeführt, die als erste unternommen werden sollten, um einen Beitrag zur Lösung des türkisch-kurdischen Konflikts zu leisten. Zum Abschluss zitieren wir aus diesem Memorandum:

" Die von uns vorgeschlagenen ersten fünf friedenspolitischen Weichenstellungen in der Türkei beziehen sich alle auf Vertrauen bildende Maßnahmen. Sie können relativ einfach und schnell vollzogen werden und eine erhebliche Entspannung bewirken. Damit würden günstige Voraussetzungen für weitere Schritte gerade auch in Bezug auf den beabsichtigten EU-Beitritt im demokratisch-politischen, menschenrechtlichen, wirtschaftlichen, entwicklungspolitischen, sozialen und rechtlichen Bereich geschaffen.

1. Die Einstellung der militärischen Operationen der türkischen Armee gegenüber der sich aus der Türkei zurück ziehenden Guerilla und ihren Sammelplätzen außerhalb des Landes wäre ein unübersehbares Zeichen für die Bereitschaft Ankaras zu einer friedenspolitischen Lösung. Ihm kommt eine herausragende Bedeutung zu.

2. Die Beendigung des Ausnahmezustandes und die Auflösung der dazu gehörenden Institutionen (Supergouverneur, Spezialteams und Dorfschützer) sind die Voraussetzung für die Normalisierung des gesellschaftlichen Lebens und die Entwicklung der kommunalen Selbstverwaltung durch die gewählten Volksvertreter. In diesen Zusammenhang gehört auch die unbehinderte Organisationsfreiheit für Verbände und Parteien. Hierdurch kann ein Schub an Bereitschaft zur Bewältigung der Kriegsschäden und eine Eigenzuständigkeit der Menschen vor Ort gefördert werden.

3. Freilassung und Amnestie für alle 'Meinungstäter' und Abschaffung bzw. Außerkraftsetzung aller die freie Meinungsäußerung und die Medien einschränkender Gesetze. Das Ziel ist, die Einschüchterung in der Meinungsäußerung zu überwinden, und die öffentliche Diskussion über die Gestaltung von Gesellschaft gleichberechtigt zu ermöglichen.

4. Die am Krieg Beteiligten - seien es Türken, seien es Kurden - werden durch ein Amnestiegesetz für die Kriegshandlungen, sowie für die politischen Einstellungen und Handlungen, die damit verbunden waren (z.B. Separatismusvorwurf), außer Strafverfolgung gesetzt. Das Ziel ist es, den Kriegsteilnehmern und Verantwortlichen eine Rückkehr und die Aufnahme eines verantwortlichen zivilen Lebens zu ermöglichen. Dadurch können mögliche Ansatzpunkte für eine erneute Eskalation von Gewalt auf beiden Seiten überwunden werden.

5. Die fünfte Weichenstellung ist die Aufhebung aller Einschränkungen für die sprachlichen, kulturellen und religiösen Ausdrucksformen der Menschen in der Türkei verschiedener ethnischer und religiöser Herkunft. Die Türkei muss endlich als Vielvölkerstaat akzeptiert werden. Dadurch würde die laizistische und nationale Grundausrichtung des Staates nicht in Frage gestellt, jedoch die unterschiedlichen Identitäten respektiert werden. Viele konfliktträchtige Problembereiche würden so überwunden, welche die Geschichte des türkischen Nationalstaates in der Vergangenheit schwerwiegend belastet haben. Gleichzeitig ließen sich wichtige 'Kopenhagener Kriterien' erfüllen.

In der Zeit notwendiger friedenspolitischer Weichenstellungen gilt nach wie vor der Satz aus dem 'Aufruf zu einem europäischen Friedensdialog' (aus dem Jahre 1995): "Freundschaft zur Türkei kann in dieser historischen Situation nur heißen, ihrer großen Gesellschaft aus Türken, Kurden, Armeniern, aus Moslems, Christen und anderen Völkern und Religionen beizustehen, um Gespräche und Verhandlungen für das zukünftige friedliche Zusammenleben endlich beginnen zu lassen." Friedenspolitische Weichenstellungen sind also auch von den EU-Staaten zu fordern."

Fußnote

Wir konnten hier natürlich nicht sämtliche Stationen der Route auf dem Wege in die EU aufgeführt werden. Zu diesem Thema gibt es mittlerweile auch schon einige Publikationen, weshalb an dieser Stelle einige Etappen nur kurz gestreift wurden.

Wer mit unserer Einschätzung der Zusammenhänge nicht einverstanden ist, möge doch selber einmal versuchen, auf die nachfolgenden Fragen Antworten zu finden:

Warum hat die Türkei so einen Druck auf Syrien nicht schon vorher ausgeübt, sondern erst im Herbst 1998, nachdem die PKK einen einseitigen Waffenstillstand erklärt und ihre Waffen zum Schweigen gebracht hatte?

Weshalb war Syrien damit einverstanden, dass Öcalan das Land verlassen musste? Haben die USA dabei wirklich keine Rolle gespielt? Welche Gegenleistungen wurden Syrien angeboten? Die Golanhöhen oder Wasser? Der Rückzug der Israelis aus dem Libanon oder die Streichung aus der Liste der "terroristischen Staaten"?

Wieso haben die Nachbarstaaten der Türkei, vor allem Griechenland und Russland, die selber Konflikte mit der Türkei haben, Öcalan nicht aufnehmen wollen? Welche Kräfte spielten dabei eine Rolle?

Was hat die EU, die sich noch in Luxemburg mit "Folterern nicht an einen Tisch setzen" wollte, dazu bewogen, ihre Tore der Türkei in Helsinki zu öffnen?

Welchen Einfluss können die USA auf die Türkei ausüben, damit sich deren Position gegenüber der sich de facto als eigenständiger Staat entwickelten kurdischen Selbstverwaltung in Irakisch-Kurdistan verändert?

Welche Schritte für die Demokratisierung und die friedliche Lösung der Kurdenfrage sind erforderlich, damit die Türkei sich "stabilisieren" kann?

Welche Rolle spielt die "Neue Weltordnung" unter der Vorherrschaft der USA dabei, dass dieser Krisenherd in einer sehr wichtigen geostrategischen Region zur Ruhe kommt und welche Rolle soll die Türkei im 21. Jahrhundert mit ihrer Brückenkopffunktion zwischen Europa und Nahem Osten hierin übernehmen?

Warum haben die Militärs ihre "Geheime Verfassung" geändert, die Gefahr des "Separatismus" relativiert und "Neustrukturierungen bezüglich der Pflege der kulturellen und regionalen Besonderheiten" verkündet?

Und schließlich: ist es wirklich vorstellbar, dass der "Staat im Staate" ohne Druck von außen selber seine Teilentmachtung betreibt?

Nicht zuletzt vor dem Hintergrund solcher Fragestellungen sind wir zu der in der obigen Analyse skizzierten Einschätzung gekommen.

Köln, Ende Mai 2000