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Und ewig winkt die Marktwirtschaft?
Zum Bericht der "DGB-Kommission Rechtsextremismus"

Von Martin Dieckmann

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Das Thema lautet nicht mehr nur: Rechtsextremismus und Gewerkschaften. Mittlerweile werden, auch von den Gewerkschaften selbst, rechtsextreme Einstellungen innerhalb der Gewerkschaftsmitgliedschaft offen thematisiert. Anfang Mai wird der Bericht der Kommission Rechtsextremismus erscheinen, deren Einrichtung 1998 auf dem 16. Bundeskongress des DGB beschlossen wurde. Der vorliegende "erste Entwurf", fertig gestellt Ende 1999 und mit der geplanten Veröffentlichung lediglich redaktionell überarbeitet, zeigt einerseits, wie offen man sich der Problematik stellt und andererseits, wie halbherzig zugleich die Schlussfolgerungen ausfallen.

Nach der Lektüre des Berichts könnte man versucht sein, nicht mehr zu fragen, wie es denn zu rechtsextremen Einstellungen bei Gewerkschaftsmitgliedern kommt, sondern welche Gründe eigentlich dagegen sprechen, dass ein Nationalist oder gar Rassist nicht Gewerkschaftsmitglied sein solle. Das stellt früher hartnäckig gepflegte Traditionsbilder, die der historischen Arbeiterbewegung entlehnt sind, in Frage – und vor allem werden unangenehme Fragen an die so genannte Modernisierung der Gewerkschaften als Dienstleistungsorganisationen gestellt.

Rechtsextremismusforschung – Versuch einer Bestandsaufnahme

Vorweg einige Bemerkungen zum methodischen Vorgehen der AutorInnen des Berichts. Diese hatten offensichtlich nicht den Anspruch, einen eigenen theoretischen und dazu noch empirischen Forschungsbeitrag zu formulieren. Sie wollten lediglich das Spektrum und den Stand der vorhandenen Rechtsextremismusforschung zusammenfassend darstellen. Warum zu welcher Thematik dieser oder jener Autor zitiert und seine Ergebnisse als empirischer Beleg angeführt werden, wird jedoch nicht begründet. Die eigene Untersuchungsperspektive bleibt dabei unklar, der Verzicht auf eine eigenständige Präzisierung der Problematik führt jedoch dazu, dass am Ende ein Sammelsurium von Ansätzen übrig bleibt – allenfalls wird auf Widersprüchlichkeiten zwischen den verschiedenen Forschungsansätzen verwiesen.

Im ersten Teil des Berichts geht es zu nächst um die empirische Bestandsaufnahme. Hierbei wird unterschieden zwischen der Handlungsebene und der Ebene rechtsextremer Einstellungen. Innerhalb der ersten Ebene wird noch einmal unterschieden zwischen reinem Protestverhalten und zielgerichtetem Handeln, etwa dauerhaftem Wählerverhalten.

Ungleich bedeutender als diese Handlungsebene sind für die AutorInnen des Berichts die Einstellungen, also nationalistische, rassistische, antisemitische oder "wohlstandschauvinistische" Muster, die sich bis weit hinein in die Wählerschaft der Volksparteien der "politischen Mitte" finden – zuletzt mit einer deutlichen Tendenz hin zur Unterstützung der Sozialdemokratie. Das Fazit kommt hier als doppelt düstere Botschaft daher: So genannte rechtsextremistische Einstellungen artikulieren sich immer stärker in der Unterstützung der "politischen Mitte", und diese Tendenz ist weitaus stärker ausgeprägt als die Unterstützung von rechtsextremen Parteien bei Wahlen.

Wenn jedoch diese rechtsextremistischen Einstellungen vor allem als Radikalisierung "aus der Mitte der Gesellschaft" zu erklären sind, dann ist daraus unschwer zu folgern, dass die Gewerkschaftsmitgliedschaft davon nicht unberührt bleiben kann. Die im Bericht angeführten Forschungsergebnisse spitzen diesen Befund noch zu: Erwähnt wird nicht nur die 1998 im Auftrag des WDR 2 erstellte Studie von infratest/dimap, die mit einem
Befund Schlagzeilen machte, wonach junge Gewerkschaftsmitglieder in überdurchschnittlichem Ausmaß rechtsextreme Einstellungen aufwiesen. Die AutorInnen verweisen darüber hinaus auch auf frühere Studien, die zu ähnlichen Ergebnissen kamen, und das gar nicht einmal nur in Bezug auf Jugendliche. So stellte man etwa Ende der achtziger Jahre, anlässlich der Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus, fest, dass der Anteil der Gewerkschaftsmitglieder unter den REP-Wählern besonders hoch war. Und Mitte der neunziger Jahre war eine Studie zu den politischen Orientierungen junger ArbeitnehmerInnen zu den gleichen Ergebnissen gekommen wie die infratest/dimap-Untersuchung 1998: "Festzuhalten bleibt, dass unter gewerkschaftlich organisierten Jugendlichen insbesondere in den industriellen Kernsektoren die ausgrenzende nationale Orientierung größere Zustimmung findet als in der nicht organisierten Vergleichsgruppe." (1)

Die empirische Bestandsaufnahme im Bericht schwankt zwischen Skepsis gegenüber den Forschungsergebnissen und recht unkritischer Übernahme einzelner Daten. Mal wird zu Recht darauf verwiesen, dass empirische Ergebnisse von theoretischen Grundannahmen abhängig sind; ein anderes Mal werden Tabellen mit Einstellungs-Werten als Belegstellen fürs eigene Argumentieren ausgewertet. So wird, kaum hinterfragt, eine Studie zitiert, in der ein Antisemitismus-Potenzial von 6 Prozent ausgemacht wird. Dass nicht wenige Studien auf mindestens die doppelte Prozentzahl kommen, wird schlicht nicht erwähnt. Derartige Unterschiede in den Ergebnissen hängen eben davon ab, welche Merkmale welchen Einstellungen im Einzelnen zugeschrieben werden. Das wissen die AutorInnen und sprechen es auch so aus, sie bedienen sich aber dann selbst dieser Technik plausibler Statistiken. Sind das Spuren von Verschleierung, von politischer Vorsicht oder nur von Unsicherheit?

Theorie: Probleme mit der Theorie

In einem zweiten Teil des Berichts wollen die AutorInnen die theoretischen Erklärungsansätze selbst diskutieren. Mehr genannt als wirklich diskutiert werden hintereinander folgende Ansätze: die kritische Sozialpsychologie (unter die Adorno und Fromm subsumiert werden), die angeblich den Erklärungszusammenhang einzig in der familiären
Sozialisation suche; dann "Deprivations"- bzw. Status-Theorien, wonach es sich beim so genannten Rechtsextremismus um einen "Aufstand der Modernisierungsverlierer" handele; ferner die Thesen über die Folgen des "Sozialen Wandels" von Heitmeyer. Letzterer sieht die Ursachen rechtsextremistischer Einstellungen vor allem in Identitätsproblemen, besonders unter Jugendlichen, Individualisierung würde als Vereinzelung erfahren – mit der Folge einer Schwächung des Selbstwertgefühls. (Eine These, die Heitmeyer mittlerweile hat revidieren müssen.)

Der Bericht stellt diese Ansätze gleichsam exemplarisch heraus, dies geschieht aber derart pauschalisierend, dass es den AutorInnen leicht fällt, den einzelnen Ansätzen und Thesen unzulässige Verallgemeinerungen vorzuhalten. Allein die kritische Sozialpsychologie auf den Forschungsstand der Studien von Adorno und Fromm zu reduzieren, erschwert die mehrfach von den AutorInnen eingeforderte Differenzierung. Übrig bleibt dann, aus allem das Beste nehmen und passend zusammen zu setzen. Ein Flicken-Konzept, bei dem ein paar ziemlich große – und vielleicht auch besser passende – Stücke erst gar nicht berücksichtigt werden. Von der langjährigen rassismuskritischen Theoriediskussion und Forschung scheint die Kommission kaum Notiz genommen zu haben, was daran liegen mag, dass man sich ausschließlich mit deutschen TheoretikerInnen und ForscherInnen auseinandersetzt. Dabei wäre es auch für die deutschen Verhältnisse angebracht, auf Arbeiten über Rassismus und Nationalismus im Zusammenhang von Globalisierung und Migration einzugehen, z.B. die auch hierzulande bekannten Studien von Stuart Hall oder Etienne Balibar und Immanuel Wallerstein. Schließlich kann es ja ein recht fruchtbarer Ansatz sein, die "deutsche Mehrheit" in Deutschland auch mal als "Minderheit" im internationalen Herrschaftszusammenhang zu thematisieren – fruchtbar insofern, weil so erst die Segmentierungen und Klassenspaltungen der Lohnabhängigen in Zusammenhang mit den Strukturen der kapitalistischen Weltgesellschaft begriffen werden können. Statt dessen bleibt es im Bericht bei der Binnenbetrachtung von InländerInnen.

Die AutorInnen heben die Bedeutung dessen hervor, was sie "politische Kultur" nennen, womit der Gesamtzusammenhang von Medien-Diskursen, politischem Klima und Kampagnen – wie etwa die öffentlichen Asyl-Debatten – und Verstärkung von reaktionären, rechtsextremen Einstellungen gemeint ist. Das Ganze liest sich aber auch wie ein wenig eleganter Kunstgriff, womit die Einzelansätze zusammen geführt werden, ohne dass die "politische Kultur" selbst begrifflich klarer bestimmt wird.

Gewerkschaften: Solidarität und "Solidarität" sind nicht dasselbe

Warum sollten ausgerechnet Gewerkschaftsmitglieder immun sein gegen die herrschenden reaktionären Diskurse? Diese Frage stellen die AutorInnen explizit und spitzen sie dahingehend weiter zu, dass sie auf drei Essentials der vorherrschenden Gewerkschaftspolitik hinweisen: Standort-Konkurrenz (im nationalen wie betrieblichen Maßstab), Leistungsprinzip und das Nützlichkeitsprinzip. Was haben Gewerkschaften, die derartige Prinzipien anerkennen, noch gegen reaktionäre Ausgrenzungsstrategien und ausgrenzendes Verhalten einzuwenden?

Hier werden die AutorInnen deutlich. Sie konstatieren einen Wandel der Gewerkschaften von "traditionellen Wertegemeinschaften zu modernen Dienstleistungsorganisationen": "Dadurch mag es gelungen sein, die Gewerkschaften als starke Solidargemeinschaften zu erhalten. Die Umstellung der Mitgliedermotivation von Gemeinschaftsgefühlen auf Nutzenkalküle erweist sich für die Ausprägung der Sozialbeziehungen in Betrieb und Gesellschaft als zweischneidiges Schwert. Denn dieselben Nutzenkalküle, die zum Eintritt in die Gewerkschaft bewegen und unter stabilen gesellschaftlichen Bedingungen ein funktional-kollegiales Verhalten nahelegen, können in Krisenzeiten zur Diskriminierung und Ausgrenzung ausländischer Arbeitnehmer führen."

Diese Überlegung der AutorInnen lässt sich so erweitern: Solidarität, die sich einzig aus dem eigenen Interesse ableitet, ist eben substanziell etwas anderes als Solidarität, in der die Anderen mehr sind als nur Instrument des eigenen Interesses – und damit bloß funktionaler Teil eines individuellen (oder auch kollektiven) Nutzenkalküls. Was die AutorInnen hier nebenbei einflechten, könnte ein regelrechter Sprengsatz sein, der sowohl traditionelle Selbstgewissheiten gewerkschaftlicher Identität wie die neuen Modernisierungsideologien in die Luft jagen kann. Als ob sie das wüssten, versuchen die AutorInnen jedoch sogleich, diesen kritischen Sprengsatz zu entschärfen. So fordern sie, "demokratische Werte" – wie: "Gleichheit, Toleranz, Solidarität und Selbstbestimmung" – müssten mit dem "Leistungsprinzip" "in Einklang" gebracht werden. Die soziale Marktwirtschaft lässt grüßen.

Und die Moral von der Geschicht’: Moral

Diese Abstraktion der "Wertorientierungen" von gesellschaftlich-praktischen Verhältnissen und zwischenmenschlichen Beziehungen setzt sich im letzten Teil fort, in dem es um Gegenstrategien und mögliche Handlungsfelder geht. Genannt wird ein ganzes Maßnahmenbündel, von der betrieblichen Praxis über Reformvorschläge für die Bildungsarbeit sowie Praxis in Schulen und Berufsschulen bis hin zur offiziellen Politik, das sich letztlich aber reduziert auf Einübungspraktiken von "demokratischen Werten". Wenn in diesem Zusammenhang noch auf Partnerschaftsmodelle bei VW, gemeinsam von Geschäftsleitung und Betriebsrat vereinbart, hingewiesen wird, ist am Ende der Horizont so eng gezogen, dass die anfänglich umrissene Problematik schon wieder aus dem Blickfeld verschwunden ist. Diese Optik wird geradezu bizarr, soll doch ausgerechnet der betriebliche Herrschaftszusammenhang demokratische Orientierungen fördern. Einmal von den praktischen Verhältnissen abgelöst, sind die so genannten demokratischen Werte nichts mehr wert, sie taugen dann höchstens dazu, den Beherrschten Toleranz gegenüber den Herrschenden beizubringen. Gegenüber so genannten rechtsextremistischen Einstellungen ist das gleichbedeutend mit dem sprichwörtlichen Projekt, Eulen nach Athen zu tragen.

Eine Art hilfloser Anti-Rassismus artikuliert sich da. Es werden Vorschläge gemacht zur pädagogischen Einübung von Toleranz gegenüber "Minderheiten", die gut gemeint sein mögen, jedoch die rassistischen und nationalistischen Konstruktionen gar nicht in Frage stellen. Als ob es um "Minderheiten" ginge und nicht um die Probleme, die die "Mehrheiten" mit sich selbst haben. Ganz zu schweigen davon, wie "Minderheiten" sich selbst organisieren können und dies teilweise auch schon tun – und was unter anderem auch aktive GewerkschafterInnen dazu beitragen könnten. Davon findet sich in dem Bericht kein einziges Wort.

Dem puren Ökonomismus – darunter auch dem Glauben, der bloße "Interessengegensatz" zwischen Lohnabhängigen und Kapital berge in sich ein emanzipatives Potenzial – wird entgegen gehalten, letztlich käme es auf die Wertorientierung an. In ein und derselben objektiven sozialen Situation würden sich Menschen für krass entgegengesetzte Handlungen entscheiden. Dem ist zuzustimmen, doch diese so genannten Wertorientierungen gehören selbst zur gesellschaftlichen Praxis, es handelt sich um Bedürfnisse – zum Beispiel um das Bedürfnis nach Selbstbestimmung, nach gemeinschaftlichen Lebensformen jenseits von Konkurrenz und Leistungsprinzip. Wertorientierungen zielen, selbst wenn sie noch so utopisch ausgerichtet sein mögen, auf wirkliche, auf gelebte Verhältnisse und folgen nicht Abstraktionen von konkreten sozialen Beziehungen. Weil die AutorInnen eine fundamentale Kritik der herrschenden Verhältnisse umgehen, zielen ihre Gegenstrategien auf nicht mehr als eine staatsbürgerliche Einübung demokratischer Gesinnung. Sie tun dabei etwas, was sie unbedingt vermeiden wollen. Sie moralisieren.

Die Alternative bestände darin, die theoretische Kritik als Teil einer praktischen Kritik zu begreifen – Emanzipation von Ressentiments, von den Identitätszwängen völkischer und nationalistischer Art, und Emanzipation von der eigenen alltäglichen Existenz als Beherrschte sind nicht aufeinander reduzierbar, aber sie gehören zwingend zusammen. Die demokratische Perspektive, in der die AutorInnen ihre Überlegungen formulieren, führt durch die Verewigung von repressiven Verhältnissen zu einer Entwertung realer Demokratie. Reale Demokratie ist aber nur zu haben in einer solidarischen, selbstbestimmten Praxis, in der sich Menschen von genau jenen Verhältnisses emanzipieren.

Das könnte ein abschließendes Urteil sein, wären da nicht hin und wieder Textstellen, die verraten, dass mehr beim Schreiben gedacht als geschrieben wurde, etwa diese: "Warum haben es Gewerkschaften versäumt, die Standortdebatte und das darin absolut gesetzte Konkurrenz- und Leistungsprinzip als mitverantwortlich für die rechtsextremen Orientierungen ihrer Klientel ins öffentliche Bewusstsein zu rücken? Warum haben sie deren Ausgrenzungsbereitschaft nicht in Verbindung gebracht mit einer Gesellschaft, die einen wachsenden Teil ihrer Mitglieder von der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Teilhabe ausschließt?"

Irgendwer hat sich da nicht getraut, eine Position zu formulieren und hat sich ins Fragen geflüchtet. Immerhin.

Dieser Artikel ist erschienen in express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 4/2000

Anmerkung: 1) Josef Held, Politische Orientierungen jugendlicher ArbeitnehmerInnen, 1994; zitiert nach dem Kommissions-Bericht.