Sprechpositionen, die eigentlich die eigene koloniale und antisemitische Geschichte reflektieren sollten, sind unversehens zu Wahrheitspositionen geworden. Der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung verbietet einem der bedeutendsten Theoretiker des Postkolonialismus das Wort. Verleumdung statt einer notwendigen Debatte?

Der Antisemitismus-Beauftragte der Bundesregierung Klein hat den kamerunischen Philosophen Achille Mbembe des Antisemitismus beschuldigt und verlangt, dass er die Ruhrtriennale 2020 nicht eröffnen dürfe. Ganz abgesehen davon, dass das Kulturfestival mittlerweile abgesagt ist, sollen also seine „Reflections on Planetary Living“ inkriminiert werden. Geplant war, dass Achille Mbembe sein „Konzept des Reparierens unseres Planeten und unserer Gesellschaften“ beschreibt, und das was er das „planetarisches Leben“ nennt.

Das würde man in Corona-Zeiten gerne hören und lesen. Dieses Konzept der Reparatur findet sich im Übrigen nicht nur bei Achille Mbembe. 2016 zeigte das Frankfurter Museum für Moderne Kunst die Arbeiten des algerisch-französischen Künstlers Kader Attia, der zur Zeit in Berlin und Algier lebt, und seine Erfahrungen in verschiedenen Kulturen und ihre jeweilige traumatische Historie in ein ästhetisches Konzept von Sichtbarmachen und sichtbarem Reparieren der Wunden übersetzt hat. Seine Ausstellung in Frankfurt begann mit dem begehbaren Nachbau eines kurzen Straßenstücks in der Altstadt von Hebron, in dem die verrammelten Läden palästinensischer Betreiber*innen rundherum und auch von oben eingezäunt sind, um die besonders radikalen jüdischen Siedler von den Palästinenser*innen zu trennen. Die Siedler*innen werfen als Zeichen der Missachtung und des Hohns regelmäßig Müll auf das Dach aus Zaun; Müll, den die Palästinenser*innen nicht beseitigen können. 2016 gab es noch keinen Antisemitismusbeauftragten. Der hätte vielleicht auch Kader Attia des Antisemitismus beschuldigt.

Vergleichen heißt nicht gleichsetzen

Mit Achille Mbembe soll nun einer der wichtigsten Denker des Postkolonialismus, der nicht nur Frantz Fanon und Aimé Césaire in sein Denken integriert, sondern auch europäische und nicht zuletzt jüdische Philosoph*innen von Spinoza bis Hannah Arendt, mundtot gemacht werden. Der Grund besteht in seiner Kritik gegenüber der israelischen Besatzungs- und Siedlungspolitik, die er sich in seinem Buch „Politik der Feindschaft“ mit analytischer Schärfe vornimmt und bei der er auch Vergleiche mit dem südafrikanischen Apartheidsystem nicht scheut. Vergleichen ist aber bekanntlich nicht gleichsetzen. Mbembe kommt in seiner Beschäftigung zum Schluss, dass die „Metapher Apartheid“ nicht tauge – was seine Kritik nicht weniger scharf macht.

Das Problem: Mit dem BDS-Beschluss des Bundestages steht Kritik an Israel generell unter dem Anfangsverdacht des Antisemitismus. Die Singularität der Shoa, die im industriell und bürokratisch organisierten Massenmord ihre Einzigartigkeit besitzt, auf Israel auszuweiten und damit all seine Herrschaftspraktiken über die Palästinenser*innen zu legitimieren, entlässt allerdings Israel aus den Regeln des Völkerrechts, so unvollständig und ambivalent sie sein mögen. Das Recht des Stärkeren wird aus der Bedrohungsannahme begründet. Das aber ist mitnichten eine Besonderheit der israelischen Variante des Otherings. „Den Kern der aktuellen Trennungsprojekte bildet also die Vernichtungsangst“, schreibt Mbembe 2017 mit Bezug auf den Aufschwung rechter und neofaschistischer Bewegungen in Europa, die sich seit der großen Bewegung der Geflüchteten in Rassismus- und Abweisungsideen ergießen. Sie können sich dabei auf den Diskurs der rechten Regierung in Israel stützen. Kein Wunder, dass die AfD beim BDS-Beschluss des Bundestages die schärfsten Formulierungen wählte und gleich noch jede humanitär Unterstützung in den palästinensischen Gebieten verbieten wollte.

Die Entstehungsbedingungen Israels

Das Gedächtnis eines „planetarischen Bewusstseins“ fußt bei Mbembe ausdrücklich auf der Auseinandersetzung mit und Inkorporation der Shoah, genauso wie auf der Beschäftigung mit der Sklaverei, die so wenig eine Randnotiz europäischer und nordamerikanischer Geschichte ist wie der europäische Antisemitismus und die Judenvernichtung durch NS-Deutschland. Der Antisemitismusvorwurf richtet sich daher auch nicht auf Mbembes Beschäftigung mit der Judenvernichtung, denn sie ist für ihn fundamental in der Beschreibung einer Politik der Trennung. Die Vorwürfe gegen Mbembe richten sich vor allen Dingen auf seine Sichtweise der israelischen Besatzungspolitik und seine vergleichenden Bezüge zur südafrikanischen Apartheid. Die Zitierweise der Mbembe-Verurteiler lässt dabei gezielt Sätze oder Einschübe weg, aus denen deutlich hervorgeht, dass sich Mbembe sehr wohl der Entstehungsbedingungen Israels bewusst ist. So beschreibt er das israelische Trennungsprojekt, das ja nun ohne Zweifel manifest vorliegt, so: „Die darunter liegenden apokalyptischen Ressourcen und Katastrophen sind weitaus komplexer und geschichtlich tiefer verwurzelt als alles, was den südafrikanischen Calvinismus möglich machte.“

Dass er sich dabei auf drei jüdische Kritikerinnen des Zionismus stützt – Judith Butler, Idith Zertal und Jacquline Rose – mag nicht jeder*m gefallen, macht ihn aber noch nicht zum Antisemiten: Keine*r von ihnen bezweifelt das aus der Geschichte begründete Existenzrecht Israels, aber alle vier setzen sich kritisch mit den im europäischen Kolonialismus verwurzelten zionistischen Ideen auseinander, die sich von einem zionistischen Befreiungsprojekt der Staatsgründung zu einem raumgreifenden Siedlerkolonialismus entwickelt haben, der längst über die grüne Linie von 1948 hinausgeht. Und mit der neuen Regierung Gantz-Nethanyahu drohen sehr schnell neue Annexionen in den C-Gebieten der Westbank, die diesen Siedler-Charakter verstärken werden. Dieser zeichnet sich nicht nur durch eine systematische Politik der Trennung aus, wie sie in den zum Teil fünf Metern hohen Mauern zwischen Israel und der Westbank deutlich werden, sondern auch durch zweierlei Recht, das nicht von ungefähr an den französische Code de l’indigénat erinnert, der ausgehend von der algerischen Kolonie in allen französischen Kolonien zwei parallele Rechtssysteme begründete und zu einer Trennung zwischen „Weißen“ und „Indigenen“ führte.

Politik der Trennung

Zweierlei Recht in Israel und den besetzten Gebieten bedeutet: Auf der einen Seite Menschen, die ein Recht auf Rechte haben, auf der anderen Seite Palästinenser*innen, die einer verwickelten, undurchdringlichen Verwaltung durch Besatzungsmacht, palästinensischen Behörden und internationalen Hilfsorganisationen gegenüberstehen, in der ein Überleben halbwegs gesichert ist, aber alle anderen Rechte ständigen Einschränkungen oder gänzlicher Aufhebung unterliegen. Die Palästinenser*innen im Gaza-Streifen und in der Westbank sind eingekreist von Mauern und Sicherheitstechnologien und israelischen Zonen. Nicht nur Mbembe kritisiert, dass die palästinensischen Gebiete so zu einem Versuchslabor für Techniken der Überwachung, Kontrolle und Trennung geworden sind, die an vielen Orten der Welt Anwendung finden. Es gibt wenig Hoffnung, in Zeiten von Corona, da wir einen Rückfall in nationale Grenzen und nationales Denken erleben, diese Politik der Trennung zu überwinden.

Die Kritik an der Politik der Feindschaft, die man in der gegenwärtigen israelischen Regierung genauso beobachten kann wie in Brasilien, den USA oder Ungarn, als antisemitisch zu brandmarken, heißt sie zu kriminalisieren. Damit droht in Zeiten einer Pandemie und einer fortschreitenden Klimakatastrophe die emanzipatorische Idee einer globalen Demokratie gleich mit obsolet zu werden, die doch am besten geeignet wäre, Lösungswege dafür auszuhandeln.

Entwicklung einer globalen demokratischen Politik

Der Antisemitismusvorwurf gegen Mbembe ist ein Versuch der persönlichen Beschädigung, aber bedroht darüber hinaus auch die in Deutschland gerade im Aufschwung begriffene Debatte, die die Aufarbeitung der nationalsozialistischen Verbrechen um die Beschäftigung mit dem kolonialen Erbe erweitert. Dabei handelt es sich nicht allein um eine nachholende Aufarbeitung der kolonialen Verbrechen, sondern auch um die Entwicklung einer globalen demokratischen Politik, die ohne einen Abschied von kolonialen Denkmustern nicht zu haben ist. So wie es Mbembe in seinem inkriminierten Buch „Politik der Feindschaft“ schreibt: Zu einer neuen Globalität gehört ein Teilen. „Damit dieses Teilen möglich wird und diese globale Demokratie, die Demokratie aller Spezies, Gestalt annimmt, ist die Forderung nach Gerechtigkeit und Wiedergutmachung unverzichtbar.“ 

So wie die anhaltende und immer umkämpfte Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und seinen Verbrechen bislang die Grundlage für die Entwicklung demokratischer Spielregeln hierzulande war, gilt dies bezüglich des Kolonialismus genauso für eine demokratische Verfasstheit der Welt, noch dazu „aller Spezies“.  Das denkt dann Kolonisierung nicht nur als Eroberung, Versklavung, Vernichtung und Besiedlung, sondern auch als Ausbeutung der Natur. Im Kern des rassischen Prinzips war „Rasse nicht nur ein biologischer Signifikant, sondern verwies auf einen Körper ohne Welt und Boden“. Das Plantagensystem bedeute so zugleich die Umwandlung eines „Ökosystems in ein Agrarsystem“, so Mbembe. Daraus denkt er die „conditio humana“ weiter in die „conditio terrae“: „eine Neudefinition des Menschen in einer planetarische Ökologie“. Worauf ein planetarisches Bewusstsein in Mbembes Sinne hinauslaufen könnte, lässt sich diesen Gedanken entnehmen.

Gegen ein Denken im Werden

Dass solche Positionen mit einem absurden Vorwurf inkriminiert werden, ist kein Zufall, sondern neokoloniales Denken. Manche glauben immer noch, dass man der Welt vorschreiben könne, wie sie zu denken habe. Das ist insofern also eine sehr deutsche und europäische Debatte, die neokoloniale Züge trägt. Mag sein, dass man es hierzulande in bestimmten Kreisen schafft, zumindest offiziell einen Postkolonialismus light zu lehren, der sich um die siedlerkolonialen Aspekte der israelischen Politik herumdrückt und ganz en passant die Verbrechen des europäischen Kolonialismus gegen den Holocaust aufwiegt und relativiert. Würde das erreicht, so geschieht das auf der Grundlage von gezielter Verleumdung eines der wichtigsten Denker der Gegenwart. Statt eines Denkens im Werden gäbe es dann zu einem zentralen Thema eines neuen globalen Diskurses ein Denkverbot.

Editorische Hniweise

Katja Maurer ist Mitautorin des  gerade erschienen Buches „Haitianische Renaissance – Der lange Kampf um postkoloniale Emanzipation“, das sich am Beispiel Haitis mit der Geschichte der Sklaverei und der kolonialen und neokolonialen Moderne auseinandersetzt, die bis in die heutigen Hilfsstrukturen hinein eine eigenständige und selbstbestimmte Entwicklung unmöglich macht. Sie leitete 18 Jahre lang die Öffentlichkeitsarbeit von medico international. Heute verantwortet sie die medico-Sprache, das Rundschreiben und bloggt regelmäßig auf der medico-Website.

Wir spiegelten den Artikel von der Medico-Website:
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