Frage BS: Sie haben
seit dem Beginn der Platzbesetzerbewegung quasi
täglich an ihren Versammlungen teilgenommen. Manche
Stimmen vergleichen diesen Protest mit der Bewegung
des französischen Mai 1968. Halten Sie einen solchen
Vergleich für berechtigt?
JMK: Ich glaube, die
Dinge sind nicht miteinander vergleichbar. 1968
handelte es sich um eine Bewegung hin zu mehr
Individualität, für mehr sexuelle Freiheit,
angesichts eines antiquierten Familienmodells und
anderer überkommener Normen. Das Kapital hat dies in
den darauffolgenden Jahren wohl verstanden, hat den
Impuls aufgegriffen, umgebogen und benutzt, um die
Arbeitsbeziehungen zu individualisieren: ungleiche
Löhne je nach persönlichem Sich-Einbringen,
unterschiedliche Arbeitszeiten in den Unternehmen...
BS: ...Wie die beiden
französischen Soziologen Luc Boltanski und Eve
Chiapello es in ihrem Buch Le Nouvel esprit du
capitalisme (1999) ausführlich zu analysieren
versuchten.
JMK: Und 1968 ging
es Vielen auch darum, dass sie nicht mehr
diszipliniert und geschlossen hinter ein und
derselben Gewerkschaftsfahne hinterherlaufen wollten,
sondern wollten ihre eigenen Slogans erfinden. Heute
handelt es sich dagegen eher um eine umgekehrte
Bewegung. Das Kapital hat es geschafft, die
Arbeitsverhältnisse zu individualisieren,
gleichzeitig zu prekarisieren. Und hier wollen nun
viele Menschen wieder Kollektivität in die
Arbeitsverhältnisse bringen, diese kollektiv
diskutierbar machen. Zum Beispiel bei den kleineren
lokalen Nuit debout-Veranstaltungen,
denen ich beiwohnte, im Pariser Stadtteil
Denfert-Rochereau oder im Vorort Malakoff, wurde dies
sehr deutlich. Dort kamen etwa kleine
(Schein-)Selbstständige zu Wort, die ihre Arbeit,
ihre Probleme schilderten. Eine ähnliche Rolle
spielten die Taxifahrer, die zum Platz der Republik
kamen. Das ist eine Niederlage für die
wirtschaftsliberale Vision von Gesellschaft. Diese
hätte gerne, dass wir alle vor dem Fernsehbildschirm
oder vor Facebook hocken, jeder für sich.
Einer der zentralen Slogans
fordert derzeit ja auch die congervence des
luttes, das „Zusammenkommen der Kämpfe“. Vor
dem Hintergrund des Ausgeführten glaube ich, dass
diese derzeitige Bewegung vielleicht stärker ist als
die von Mai 1968, in dem Sinne, dass sie kollektive
Belange dort wieder begründet, wo sie verschwunden
schienen.
Frage BS: Hat die
Arbeit denn noch einen zentralen Stellenwert in
dieser Platzbesetzerbewegung? Manche behaupten,
nein...
JMK: Es ist kein
Zufall, dass die Sache sich an dem Entwurf für ein
„Arbeitsgesetz“ entzündete, und nicht etwa an dem
derzeit ebenfalls diskutierten Gesetzentwurf zur
Inneren Sicherheit – Loi Urvoas – oder
an den Protesten gegen den Ausnahmezustand. Diese
Bewegung wirft die Frage nach dem zentralen
Stellenwert von Arbeit, von Erwerbsarbeit in dieser
Gesellschaft auf, hinter den Fragen nach Prekarität,
nach Elend oder nach der Arbeit „illegaler“
Einwanderer. Wenn man bei den Debatten auf dem
besetzten Platz der Republik hinhört, dann schält
sich die Frage nach der Nützlichkeit von Arbeit
heraus: Was bringt es überhaupt, zu arbeiten, wenn
Andere sich daran bereichern – und wenn man den
Planeten darüber kaputt macht? Oder, wenn man sich
die Bewegungskomponente Hôpital debout
ansieht, die das Krankenhauswesen betrifft: Welchen
Nutzen hat Arbeit in diesem Gesundheitswesen, wenn
die Arbeitsorganisation doch keine Zeit lässt, sich
um die Patienten, um die Alten zu kümmern?
Allgemeiner bringt das geplante „Arbeitsgesetz“ diese
Nicht-Anerkennung der Arbeitenden insofern auf den
Punkt, als es dafür sorgt, dass sie viel leichter
gekündigt werden können.
Die Frage nach nützlicher Arbeit
taucht in der Platzbesetzerbewegung auch in der Form
der freiwilligen, ehrenamtlichen Arbeit auf. Sehen
sie sich die rund 100 Freiwilligen an, die den harten
Kern ausmachen und ehrenamtlich den Empfang, die
Logistik, die Essensausgabe, den Ordnerdienst...
betreiben. Sie arbeiten über fünfzig Stunden die
Woche! Weil es für sie eine nützliche Tätigkeit ist,
die man für man ein gemeinsames Ziel verrichtet. Und
es ist eben keine Erwerbsarbeit. In meinen Augen
würden sich die Gewerkschaften täuschen, wenn sie nun
als Alternative zum Bestehenden die 32-Stunden-Woche
in den Mittelpunkt rücken möchten, wie die CGT den
Anschein gibt. Eine auf 32 Stunden wöchentlich
reduzierte Arbeit, aber die keinen Sinn hat und den
Planeten zerstört – das interessiert die Leute von
Nuit debout nicht.
Frage BS: Stimmen
Sie der These zu, dass es in den derzeitigen
Sozialprotesten einen Generationenkonflikt gibt –
zwischen eher gewerkschaftlich organisierten und am
Arbeitsleben orientierten Älteren, und den Jüngeren
auf der anderen Seite?
JMK: Nein, für mich
das ist keine Generationenfrage. Auf dem Platz der
Republik findet man auch viele 40- und 50jährige. Ich
sehe viel eher Widersprüche in der Bewegung, die dann
überwunden werden können, wenn sie eine positive
Dynamik entwickelt.
Der erste Widerspruch: Die
Platzbesetzerbewegung spricht von der
convergence des luttes. Aber sie
„konvergiert“ leichter mit afrikanischen
Oppositionellen, die auch auf dem Platz mitmachen,
als mit den Gewerkschaften. Es gibt die Furcht vor
der Gefahr einer récupération
(Vereinnahmung, Einbindung), die zum Teil eingebildet
und zum Teil auch real ist. Aber es kommt der Moment,
wo man dieses Verhältnis klarstellen muss.
Récupération findet dann statt, wenn es einen
untransparenten, unausgesprochenen Prozess der
Einflussnahme gibt. Aber von Angesicht zu Angesicht
und offen mit einer Gewerkschafts- oder politischen
Organisation zu diskutieren, ist das Gegenteil davon.
Wichtig ist
in meinen Augen auch das Erlernen demokratischer
Prozesse. Dies findet statt, wenn jemand einen
Standpunkt – rational argumentierend – vor einer
Versammlung von 1.000 Menschen begründet, und auch
bereit ist, inhaltlichen Widerspruch hinzunehmen. Ein
solcher Prozess bringt normalerweise Regeln hervor,
seine eigenen Regeln, und dies braucht Zeit. Aber im
Namen demokratischer Offenheit lässt man auch eine
Vielzahl von Menschen zu Wort kommen, die
Selbstdarstellung betreiben, die betrunken ans
Mikrophon gehen... So lange die Bewegung eine
aufstrebende Dynamik hat, ist sie davon nicht
gefährdet. Diese Bewegung spricht viele Probleme
offensiv an, die seit zwanzig Jahren in der
französischen Gesellschaft (Medien, Parteien,
Gewerkschaften) diskutiert worden sind, sie hat keine
Angst. Aber wenn die Dynamik zurückgeht, dann besteht
die Gefahr, dass die kontraproduktiven Elemente
zunehmen.
Frage BS: Was für
Perspektiven sehen Sie für diese Bewegung?
JMK: Wahrscheinlich
wird diese Bewegung in etwas Interessantes einmünden.
Jedenfalls wenn man eine positive Lösung für die
genannten Probleme in den Vollversammlungen findet
und eine Verbindung (convergence) mit
den Gewerkschaften hinbekommt. Und zwar selbst dann,
wenn die Protestbewegung es nicht schaffen sollte,
das geplante „Arbeitsgesetz“ zu verhindern. Von
Anfang an hieß
es, es gehe contre la Loi travail et son monde:
„gegen das Arbeitsgesetz und gegen die Welt, die es
hervorbrachte“.
Diese Platzbesetzerbewegung wird nicht zum Großteil
von Gewerkschaften getragen, sondern eher von Jungen,
Prekären, Erwerbslosen und nicht gewerkschaftlich
oder politisch gebundenen Personen. Sie ist auch
nicht überwiegend als Abwehrkampf auf die
Verteidigung einer bestehenden Errungenschaft, eines
sozialen „Besitzstands“ ausgerichtet wie etwa die
Bewegung gegen die „Rentenreform“ von 2010. Letztere
war hauptsächlich gewerkschaftlich organisiert und
auf die Verteidigung einer konkreten sozialen
Errungenschaft ausgerichtet; nachdem sie eine
Niederlage erlebte, lief sie auseinander. Derzeit ist
die Protestbewegung jedoch anders strukturiert. Der
Fortgang der Bewegung hängt nicht hauptsächlich vom
Schicksal des Gesetzentwurfs, sondern von der Lösung
ihrer inneren Widersprüche ab.
Editorische Hinweise
Den Artikel
erhielten wir vom Autor für diese Ausgabe.
Eine GEKÜRZT Fassung davon erschien am 12.5.16 in der
Tageszeitung ,Neues Deutschland’ (ND)