150 Jahre SPD tun dem Kapital nicht weh
23. Mai 1863 - Geburtsstunde der deutschen Sozialdemokratie

Ein Leseauszug aus "Geschichte der deutschen Sozialdemokratie"

05-2013

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Ende der fünfziger Jahre kam es zu einer Neuaktivierung der Arbeiter- und demokratischen Bewegung. Die deutsche Bourgeoisie konnte auf die Dauer mit den spärlichen Ergebnissen der ansonsten gescheiterten Revolution sich nicht zufrieden geben. Sie benötigte die Herstellung eines einheitlichen, auch politisch verfaßten Wirtschaftsgebietes und Zugang zu politischen Entscheidungen zumindest in dem Maße, das zur Wahrnehmung ihrer wirtschaftlichen Interessen erforderlich war. Allerdings bestand keine Klarheit darüber, in welchen Formen diese Ziele angestrebt werden sollten, ob die Einheit unter preußischer Führung und unter Äusschluß Österreichs (kleindeutsche Lösung) verwirklicht werden oder der preu-ßisch-österreichische Dualismus auch in das neue Staatsgebilde eingehen sollte (großdeutsche Lösung). In der Verfassungsfrage herrschte von Anfang an Unklarheit in der Frage des allgemeinen Wahlrechts, hier traten Differenzen zwischen einer liberalen und einer eher radikal-demokratischen Richtung auf, wobei die erstere in hohem Maße mit den Anhängern der kleindeutschen Lösung zusammenging.

1859 wurde von der liberalen Bourgeoisie zur Förderung der deutschen Einheit der »Deutsche Nationalverein« gegründet. Da der Mitgliedsbeitrag nicht ratenweise gezahlt werden konnte, sondern jährlich einmal entrichtet werden mußte, war Arbeitern der Zugang kaum möglich. 1861 wurde in Preußen die liberale Fortschrittspartei gegründet, welche bald in einen schweren Konflikt mit der Krone über das Budgetrecht geriet.

Die neubelebte bürgerliche Bewegung suchte sich des Rückhalts der quantitativ anwachsenden Arbeiterklasse durch die Initiierung von Arbeiter(-bildungs-)vereinen zu versichern. Diese sollten die Arbeiter ideologisch an die Bourgeoisie binden, andererseits ihnen Kenntnisse vermitteln, welche in der Volksschule noch nicht gelehrt wurden, aber zur Wahrnehmung von Arbeitsfunktionen in der industriellen Produktion in wachsendem Maße unerläßlich waren. Viele Arbeiter wurden Mitglieder in den Arbeitervereinen und Arbeiterbildungsvereinen, teils aus Interesse an den Bildungsstoffen, die ihnen das öffentliche Schulwesen vorenthielt, teils aber auch deshalb, weil unter den harten Bedingungen des Vereinsrechts der einzelnen Länder diese Organisationen ihnen ein gewisses Maß an Kommunikation sicherten.

Die liberale Bourgeoisie der preußischen Fortschrittspartei und des Nationalvereins versuchte den Arbeitern nicht nur eine ideologische, sondern auch eine ökonomische Perspektive zu geben. Hermann Schulze-Delitzsch propagierte die Gründung von Sparkassen und von Konsumvereinen, die aus den Ersparnissen ihr Startkapital beziehen könnten.

1862 schickte der Nationalverein zwölf Arbeiter zur Londoner Weltausstellung. Nach ihrer Rückkehr berichteten sie auf einer Berliner Arbeiterversammlung. Dort wurde auch der Plan diskutiert, einen allgemeinen deutschen Arbeitertag einzuberufen, dessen Vorbereitung nach einiger Zeit einem dem Leipziger Arbeiterverein »Vorwärts« nahestehenden, aus öffentlichen Versammlungen hervorgegangenen »Zentralkomitee« übertragen wurde. Bald entstanden Differenzen in den einzelnen Zentren der Arbeitervereine (Leipzig, Berlin, Nürnberg, Hamburg) über Schulze-Delitzschs Genossenschaftspläne, das Verhältnis von Unternehmern und Arbeitern (insbesondere über die Frage, inwieweit Nicht-Lohnabhängige als »Arbeiter« gelten könnten) sowie das Problem des allgemeinen Wahlrechts, über welches die Liberalen sich nicht klar äußerten. Zur theoretischen Klärung dieser Konfliktpunkte wandte sich das Leipziger Zentralkomitee an den in Berlin lebenden Publizisten Ferdinand Lassalle mit der Bitte um eine Stellungnahme.

Ferdinand Lassalle (1825-1864)(5) hatte an der Revolution 1848 im Rheinland teilgenommen, war den Zeitgenossen bis dahin aber vor allem bekannt als Anwalt der Gräfin Hatzfeld in einem skandalträchtigen Scheidungsprozeß. Im preußischen Verfassungsstreit zwischen Bismarck und den Liberalen stand er auf der Seite der Fortschrittspartei, aber mit einer eigenen Konzeption. Er versuchte, die politischen Interessen des Proletariats als treibende Kraft der demokratischen Bewegung zu definieren - so in seinem 1862 publizierten »Arbeiterprogramm«, das er in einem Vortrag vor den liberal orientierten Maschinenbauarbeitern der Oranienburger Vorstadt (bei Berlin) entwickelt hatte, und erklärte, Gegenstand des Konflikts dürfe im Interesse der Fortschrittspartei nicht die Interpretation der oktroyierten Verfassung von 1848 sein, sondern die Schaffung neuer Machtverhältnisse, welche eine Neuformulierung der rechtlichen Grundlagen zugunsten der demokratischen Bewegung ermögliche.

Lassalle antwortete dem Leipziger Komitee in seinem »Offenen Antwortschreiben an das Zentralkomitee zur Berufung eines allgemeinen deutschen Arbeiterkongresses zu Leipzig«.(6)

Hier erklärte er, die preußische Fortschrittspartei habe sich im Verfassungsstreit als inkonsequent erwiesen. Deshalb müßten die Arbeiter eine eigene Partei gründen. Deren Hauptzweck sei die Erkämpfung des allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrechts. Sie müsse der Fortschrittspartei gegenüber selbständig sein und sie in Fragen des gemeinsamen Interesses vorwärtsdrängen. (^Ausführlich nahm Lassalle zu Schulze-Delitzschs Genossenschaftsplänen Stellung. Produktivgenossenschaften seien zweifellos geeignet, den Verfall des Handwerks aufzuhalten oder zu verlangsamen. Doch stehe den Arbeitern kein Kapital zur Verfügung, um solche Genossenschaften zu gründen. Konsumvereine seien nicht geeignet, die materielle Lage des Proletariats durch Verbilligung des Einkaufs - also durch eine Steigerung des Reallohns - zu verbessern. Dem stehe das »eherne Lohngesetz« entgegen, welches Lassalle in folgender Weise formulierte:

"2. Das eherne ökonomische Gesetz, welches unter den heutigen Verhältnissen, unter der Herrschaft von Angebot und Nachfrage nach Arbeit, den Arbeitslohn bestimmt, ist dieses: daß der durchschnittliche Arbeitslohn immer auf den notwendigen Lebensunterhalt reduziert bleibt, der in einem Volke gewohnheitsgemäß zur Fristung der Existenz und zur Fortpflanzung erforderlich ist. Dies ist der Punkt, um welchen der wirkliche Tageslohn in Pendelschwingungen jederzeit herum gravitiert, ohne sich jemals lange weder über denselben erheben, noch unter denselben hinunterfallen zu können. Er kann sich nicht dauernd über diesen Durchschnitt erheben - denn sonst entstünde durch die leichte, bessere Lage der Arbeiter eine Vermehrung der Arbeiterehen und der Arbeiterfortpflanzung, eine Vermehrung der Arbeiterbevölkerung und somit des Angebots von Händen, welche den Arbeitslohn wieder auf und unter seinen früheren Stand herabdrücken würde.

Der Arbeitslohn kann auch nicht dauernd tief unter diesen notwendigen Lebensunterhalt fallen, denn dann entstehen Auswanderungen, Ehelosigkeit, Enthaltung von Kindererzeugung und endlich eine durch Elend erzeugte Verminderung der Arbeiterzahl.

Dieses Gesetz kann von niemand bestritten werden. Ich könnte Ihnen für dasselbe ebenso viele Gewährsmänner anführen, als es große und berühmte Namen in der nationalökonomischen Wissenschaft gibt, und zwara«* der liberalen Schule selbst, denn gerade dieliberale ökonomische Schule ist es, welche selbst dieses Gesetz entdeckt und nachgewiesen hat.

Dieses eherne und grausame Gesetz, meine Herren, müssen Sie sich vor allem tief in die Seele prägen und bei allem Ihrem Denken von 'hinausgehen."(7)

 

Das Verhältnis zwischen Arbeiter und Unternehmer bestimmte Lassalle durch seine Lehre vom »Arbeitsertrag«: die Arbeiter erhielten nur denjenigen Teil ihres Arbeitsprodukts, der durch das »eherne Lohngesetz« bestimmt sei. Das Übrige eigne sich der Unternehmer an. Um den ihnen rechtmäßig zustehenden Arbeitsertrag zu erhalten, müßten sich die Arbeiter in »Produktivassoziationen« (= Produktionsgenossenschaften) zusammenschließen, da dort der Unterschied zwischen Arbeitern und Unternehmern aufgehoben sei. Diese Genossenschaften könnten allmählich die gesamte Produktion eines Landes bestimmen. Ihre Errichtung sei allerdings an die Voraussetzung staatlichen Kredits (»Staatshilfe«) gebunden, da die Arbeiter aus ihren Löhnen nicht die nötigen Mittel für den Anfang aufbringen könnten. Die Gewährung dieser Kredite entspreche der kulturfördernden und Gerechtigkeit garantierenden Funktion, die der Staat in der gesamten bisherigen Geschichte wahrgenommen habe(8) und die durch die Einführung des allgemeinen Wahlrechts wieder aktualisiert werden könne. Eine solche Wahlreform werde erst den tatsächlichen Charakter des preußischen Staates zum Ausdruck bringen, der ja zur Mehrheit aus armen oder in gedrückten Verhältnissen lebenden Menschen bestehe.(9)

Lassalles Konzeption, insbesondere das eherne Lohngesetz und sein Staatsbegriff, ist in der Folgezeit häufig von Marxisten kritisiert worden. Tatsächlich müßte das eherne Lohngesetz in der von Lassalle formulierten Fassung für alle Gesellschaften, nicht nur für die kapitalistische, gelten und damit selbst die von Lassalle geplante Reform vereiteln. An der Definition der Momente, welche die Lohnhöhe konstituieren (Angebot und Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt oder die Reproduktionskosten der Arbeitskraft), schieden sich von Anfang an die Lassallesche und die in der gleichen Zeit entwickelte Marxsche Theorie. Im Lassalleschen Staatsbegriff wird der Staat als eine neutrale Instanz begriffen, auf welche die einzelnen Bevölkerungsgruppen mit Hilfe des allgemeinen Wahlrechts Einfluß neh-

men könnten. Dem widersprachen die Erfahrungen und Urteile gerade der radikal demokratisch gesinnten Zeitgenossen Lassalles angesichts der prokapitalistischen Funktion des allgemeinen Wahlrechts im bonapartistischen Frankreich. Lassalles Urteil, es sei lediglich den »schlechten Wahlen« der Arbeiter zuzuschreiben, wenn es zu reaktionären Wahlergebnissen komme, verkannte ebenso die tatsächliche Sozialstruktur etwa des damaligen preußischen Staates wie mögliche Ursachen eines etwaigen konservativen Wahlverhaltens von Lohnabhängigen. Die Lehre vom »Arbeitsertrag« ist durch Marx noch 1875 einer scharfen Kritik unterzogen worden.(10)

Unter den politisch interessierten deutschen Arbeitern weckte Lassalles »Offenes Antwortschreiben«, das im März 1863 vom Leipziger Zentralkomitee mehrheitlich akzeptiert und veröffentlicht wurde, ein sehr zwiespältiges Echo. Arbeiterversammlungen in Leipzig, Hamburg und Solingen im März und April 1863 bekannten sich zu Lassalle.(11)

Eine Absage erhielt Lassalle von Arbeiterversammlungen in Nürnberg und Berlin, auf denen sich weiterhin die Konzeption der Fortschrittspartei und des Nationalvereins halten konnte. Im Mai 1863 gewann Lassalle große Arbeiterversammlungen in Rödelheim (bei Frankfurt) und Mainz für sich. Die Mehrheit der Mitglieder der Arbeitervereine in Deutschland blieb aber noch an der liberalen Politik orientiert.

Die Minorität, welche sich während einer Versammlungskampagne im Frühjahr 1863 zu Lassalle bekannt hatte, erschien immerhin massiv genug, um den Versuch einer Organisationsgründung auf der Basis der Positionen des »Offenen Antwortschreibens« zu wagen. So erfolgte am 23. Mai 1863 in Leipzig die Konstituierung des »Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins« (ADAV) durch zwölf Delegierte aus elf Städten (Barmen, Dresden, Düsseldorf, Elberfeld, Frankfurt/Main, Hamburg, Harburg, Köln, Leipzig, Mainz, Solingen). Sitz des Vereins wurde Leipzig. Der Verband erhielt eine sehr straffe Struktur: an seiner Spitze standen ein Präsident und ein 24köpfiger Vorstand, welche von der jährlich stattfindenden Generalversammlung gewählt werden sollten. Jedoch sollte die erste Amtszeit des 1863 zu wählenden Präsidenten fünf Jahre dauern. Der Präsident erhielt die Befugnis, Zeit und Ort der Vorstandssitzungen festzusetzen, mußte den Vorstand aber innerhalb von vier Wochen einberufen, wenn es dessen Mehrheit verlangte. Der Kassierer hatte alle Ausgaben zu tätigen, welche der Präsident anordnete. An der Spitze der örtlichen Mitgliederschaften des ADAV standen Bevollmächtigte, welche vom Vorstand ernannt wurden und durch diesen auch jederzeit abgesetzt werden konnten. Der Präsident konnte ihre vorläufige Suspendierung aussprechen. Die Vorstandsmitglieder waren über ganz Deutschland verteilt, so daß in Zukunft de facto die Ernennung des Bevollmächtigten auf den Präsidenten überging. Zum Präsidenten wurde Lassalle gewählt, doch regte sich bereits auf der Gründungsversammlung und danach in Hamburg und Harburg Opposition gegen die starke Stellung des Präsidenten. Ende August 1863 hatte der ADAV etwa 1000 Mitglieder.

Die Fortschrittspartei reagierte auf die Gründung des »Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins« durch die Zusammenfassung derjenigen Arbeiterbildungsvereine, welche ihr verbunden blieben, zum »Verband deutscher Arbeitervereine«. Eine führende Rolle spielte in dieser Organisation, bei deren Gründung der Drechsler August Be-bel (1840-1913) mitwirkte, der Frankfurter Bankier Leopold Sonnemann. Die Fortschrittspartei hat in der Folgezeit Lassalle scharf bekämpft. Teils wohl aufgrund dieser Erfahrungen, teils in Auswertung der Tatsache, daß die Fortschrittspartei je länger je mehr einem positiven Bekenntnis zum allgemeinen Wahlrecht aus dem Wege ging, vollzog Lassalle im Herbst 1863 eine folgenreiche »taktische Wendung«:« er sah eine Aufgabe des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins nicht mehr darin, die Fortschrittspartei im preußischen Verfassungsstreit nach vorn zu drängen und aus der Bundesgenossenschaft mit ihr auch Unterstützung für die Ziele des ADAV, allgemeines Wahlrecht und Produktivassoziationen mit Staatskredit, zu gewinnen. Da gerade in diesen beiden Punkten keine Übereinstimmung mit den Liberalen zu erzielen sei, müsse der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein sich eine unabhängige Stellung sowohl gegenüber der Fortschrittspartei als auch gegenüber der preußischen Regierung sichern. In der Folgezeit hat diese Wendung allerdings dazu geführt, daß Lassalle in politischer Tuchfühlung mit dem preußischen Ministerpräsidenten Bismarck stand. Er hat Gespräche mit ihm geführt, ihm seine Schriften zusenden lassen und Bismarck telegrafisch um Intervention gebeten, als der Bürgermeister von Solingen, welcher der Fortschrittspartei angehörte, eine seiner Versammlungen auflöste.(13) Lassalle mochte bei diesem Verhalten, das ihn teilweise kompromittierte, davon ausgehen, daß von Bismarck das allgemeine Wahlrecht eher zu erlangen sei als von den Liberalen. Diese Hoffnung war insofern realistisch, als Bismarck zumindest fürs erste von einer Wahlreform eine gefügige Kammermehrheit (vor allem durch die Stimmen der Bauern und des politisch in seiner Mehrheit - nach starker Aktivität in der Revolution 1848/49 - noch kaum in Bewegung geratenen ostelbischen Landproletariats) erwarten konnte, während das aufgrund des Dreiklassenwahlrechts zustandegekommene Abgeordnetenhaus bis 1866 in Opposition zu ihm stand.

Lassalle starb am 31. August 1864 in einem Duell. Der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein zählte im Herbst dieses Jahres 4610 Mitglieder. Er geriet nach Lassalles Tod zunächst in eine Nachfolge-krise, in deren Verlauf sich 1867 eine kleine Minderheit unter Führung der Gräfin Hatzfeld als »Lassallescher Deutscher Arbeiterverein« abspaltete. Diese neue Gruppierung hielt besonders starr an Lassalles Statut fest und orientierte sich deutlich an dem taktischen Konzept antiliberaler Agitation und eines etwaigen Bündnisses mit Bismarck. Im ADAV gewann bald der Chefredakteur des seit Dezember 1864 erscheinenden Verbandsorgans »Sozialdemokrat«, Johann Baptist von Schwekzer (1834-1875), eine zentrale Stellung.

Am »Sozialdemokrat« arbeiteten zunächst auch Marx, Engels und Wilhelm Liebknecht (1826-1900) mit. Sie trennten sich bereits im Februar 1865 von dieser Zeitung, der sie vorwarfen, gegenüber Bismarck nicht ebenso scharf Front zu machen wie gegenüber der Fortschrittspartei. (14) Bei der Wahl des Konstituierenden Norddeutschen Reichstags (Februar 1867) gewann der ADAV kein Mandat, im regulären Norddeutschen Reichstag (August 1867) dagegen zwei (in Hagen und in Lennep-Mettmann). 1867 wurde Schweitzer Präsident des »Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins«.

In dem Maße, in dem sich Mitte der sechziger Jahre herausstellte, daß die Fortschrittspartei und der Nationalverein sich auf eine kleindeutsche Lösung unter preußischer Führung hinorientierten, sahen sich die demokratischen Kräfte und die Liberalen, welche einen deutschen Nationalstaat mit Einschluß Österreichs auf demokratischer Grundlage anstrebten, zur Schaffung einer eigenen politischen Organisation gezwungen. Sie gründeten in Darmstadt die »Deutsche Volkspartei«, die jedoch sehr schwach blieb und lediglich in Württemberg eine relative Massenbasis besaß. Der Verband deutscher Arbeitervereine löste sich allerdings von Nationalverein und Fortschrittspartei und wandte sich der »Deutschen Volkspartei« zu. 1866 schlossen sich die sächsischen Arbeiterbildungsvereine unter Führung August Bebels zu einem Gauverband zusammen. Er bildete die proletarische Basis einer weiteren demokratischen Partei: der im August 1866 gegründeten Sächsischen Volkspartei, die sich selbst als Teil der Deutschen Volkspartei verstand. Sie gewann 1867 bei der Wahl zum Verfassunggebenden Norddeutschen Reichstag zwei Mandate (in Glauchau-Meerane und in Zwickau-Crimmit-schau). Als im August 1867 dann der reguläre Norddeutsche Reichstag gewählt wurde, erhielt die Sächsische Volkspartei vier Sitze. Der »Lassallesche Allgemeine Deutsche Arbeiterverein« brachte ebenfalls einen Kandidaten durch, so daß die drei Organisationen, welche eine Arbeiterbasis hatten, unter Einschluß der zwei Sitze des ADAV sieben Abgeordnete hatten.

Der ADAV und der Verband deutscher Arbeitervereine setzten sich in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre mit der neu beginnenden Gewerkschaftsbewegung auseinander, die durch die Einführung der Koalitionsfreiheit in Sachsen (1861), einen Setzerstreik in Leipzig (1865) und andere Ausstände mächtig vorangetrieben wurde. Wieder waren es die Drucker und die Zigarrenmacher, die in der gewerkschaftlichen Organisierung vorangingen. Die 7. Generalversammlung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins (1868) war nicht bereit, Schweitzer und Friedrich Wilhelm Fritzsche, dem führenden Mitglied des neuen Zigarrenarbeiterverbandes, den Auftrag zur Einberufung eines Arbeiterkongresses, auf dem die Gewerkschaftsfrage beraten werden sollte, zu erteilen, da nach dem »ehernen Lohngesetz« Arbeiterkoalitionen und Lohnkämpfe ohnehin sinnlos sein mußten. Schweitzer dagegen ging davon aus, daß Streiks und gewerkschaftliche Organisierung wichtige Durchgangserfahrungen der Arbeiter auf dem Weg zum politischen Kampf seien. Schweitzer und Fritzsche beriefen in ihrer Eigenschaft als Abgeordnete des Norddeutschen Reichstags und mit Zustimmung der Generalversammlung (welche ihre Ablehnung gewerkschaftlicher Organisierung dadurch relativierte, daß sie den Reichstagsabgeordneten Schweitzer und Fritzsche erlaubte, was sie den ADAV-Funktionären Schweitzer und Fritzsche versagte) für den September 1868 einen Arbeiterkongreß ein, auf welchem ein »Arbeiterschaftsverband« gegründet wurde. Er sollte sich aus mehreren »Arbeiterschaften« (= Berufsgewerkschaften) zusammensetzen, doch sollte in ihm das dreiköpfige Präsidium eine ähnlich bestimmende Rolle spielen wie der Präsident im ADAV. Einige bereits bestehende Gewerkschaften schlossen sich dem Arbeiterschaftsverband an. Die Fortschrittspartei reagierte auf die Gründung des Arbeiterschaftsverbandes mit der Schaffung von wirtschaftsfriedlichen »Gewerkvereinen«, denen Arbeiter und Unternehmer beitreten konnten. Sie haben als »Hirsch-Dunckersche Gewerkschaften« bis 1933 eine gewisse Rolle gespielt. August Bebel veröffentlichte im »Demokratischen Wochenblatt«, dem gemeinsamen Organ des »Verbandes deutscher Arbeitervereine« und der »Sächsischen Volkspartei«, Musterstatuten für nicht wirtschaftsfriedliche »Gewerkvereine«, welche besonderen Wert auf starke Berufsgewerkschaften legten, die in sich zentralisiert, jedoch nicht in einem starken Dachverband zusammengefaßt waren.

In der zweiten Hälfte der sechziger Jahre löste sich der »Verband deutscher Arbeitervereine« allmählich von der »Deutschen Volksparteii« (15) Eine wichtige Rolle in diesem Prozeß spielte dabei sein Verhältnis zur 1864 gegründeten »Internationalen Arbeiterassoziation«(I. Internationale). Der fünfte Vereinstag des Verbandes deutscher Arbeitervereine übernahm 1868 zentrale Punkte des Statuts der Internationale.(16) Die organisatorische Verselbständigung der Arbeitervereine gegenüber der »Deutschen Volkspartei« wurde durch innere Differenzierungen im ADAV beschleunigt. Dessen 8. Generalversammlung hatte 1869 - offensichtlich gestützt durch die Konkurrenz des »Verbandes deutscher Arbeitervereine« - die Stellung des Vorstandes gegenüber dem Präsidenten gestärkt.(17) Schweitzer versuchte diese Schwächung seiner Position dadurch aufzuheben, daß er eine Vereinigung mit der Hatzfeldschen Organisation (welche sich zwischenzeitlich dem Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein noch einmal angeschlossen, sich bald aber wieder von ihm getrennt hatte) herbeiführte und aus diesem Anlaß die von der 8. Generalversammlung beschlossene Statutenänderung suspendierte. Daraufhin erließen einige opponierende Funktionäre des ADAV zusammen mit der inzwischen von August Bebel geführten Leitung des »Verbandes deutscher Arbeitervereine« und drei Mitgliedern der Organisation Hatzfeldscher Richtung einen Aufruf zu einem »Allgemeinen deutschen sozialdemokratischen Arbeiterkongreß« am 7. und 8. August 1869 in Eisenach. Hier wurde die »Sozialdemokratische Arbeiterpartei« gegründet. Ihr Programm(18) enthielt u. a. die Forderung nach dem allgemeinen, direkten und geHeimen Wahlrecht und nach Produktivgenossenschaften mit Staatskredit »unter demokratischen Garantien«, jedoch noch keine Vorschläge zur Eigentumsfrage. Die Sozialdemokratische Arbeiterpartei (die sogenannten »Eisenacher«) hatte als Leitung einen »Aus-schuß« in Braunschweig. Parteiorgan wurde der aus dem »Demokratischen Wochenblatt« hervorgegangene »Volksstaat« (nachmals »Vorwärts«). Der Verband deutscher Arbeitervereine löste sich einen Tag nach der Gründung der neuen Partei auf. Die nach Bebels Musterstatuten organisierten, der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei nahestehenden Gewerkschaften nannten sich »Internationale Gewerksgenossenschaften«.

1869 war die Koalitionsfreiheit im Gebiet des Norddeutschen Bundes eingeführt worden. 1870 bekannte sich die Sozialdemokratische Partei zum Beschluß des Baseler Kongresses der Internationalen Arbeiterassoziation von 1869 über die Forderung nach der Überführung von Grund und Boden in Gemeineigentum.(19) Dies bedeutete die endgültige Trennung von der ausschließlich radikaldemokratischen Programmatik der »Deutschen Volkspartei«, die damit ihre Massenbasis verlor und bald aufhörte zu bestehen.

Anfang 1870 beschieß die Generalversammlung des Arbeiterschaftsverbandes auf Vorschlag Schweitzers gegen sehr starke Widerstände die Auflösung der Einzel-Arbeiterschaften und die Gründung eines zentralisierten »Allgemeinen Unterstützungsverbandes«. Diese Entscheidung mußte schon ein Jahr später zugunsten der Möglichkeit, nach Bedarf Berufsgewerkschaften zu gründen, abgeschwächt werden. Sie hatte auch zwischenzeitlich nicht voll realisiert werden können.

Die Sozialdemokratische Arbeiterpartei und der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein bekämpften sich in der Folgezeit heftig. Beim Beginn des deutsch-französischen Krieges 1870 nahmen sie eine unterschiedliche Haltung ein: Während sich die Abgeordneten der »Eisenacher« Partei, Bebel und Liebknecht, in der Frage der Kriegskredite (wahrscheinlich im Gegensatz zur Mehrheit der Parteimitglieder, die den Krieg offenbar bejahten), der Stimme enthielten da sie weder die französischen Kriegstreiber noch den preußischen Despotismus unterstützen wollten, stimmten die Abgeordeten des ADAV dafür. Der Braunschweiger Ausschuß mißbilligte die Empfehlung des von Wilhelm Liebknecht geleiteten »Volksstaat«, in diesem Krieg nicht Partei zu ergreifen. Als nach der Niederlage Napoleons III. Preußen und die mit ihm verbündeten Staaten den Krieg nunmehr auch gegen die neue Republik fortsetzten, wandten sich der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein und die Sozialdemokratische Arbeiterpartei gegen diese Politik. Der Braunschweiger Ausschuß wurde durch preußisches Militär verhaftet. Bei den Wahlen zum neuen deutschen Reichstag (März 1871) erhielten beide Parteien zusammen knapp 3 Prozent der Stimmen. Die Lassalleaner hatten zwar mehr Stimmen, bekamen jedoch keines der Direktmandate. (Es wurde nach dem absoluten Mehrheitswahlrecht gewählt.) Die Sozialdemokratische Arbeiterpartei brachte zwei Kandidaten durch. Einer von ihnen, August Bebel, bekannte sich am 25. Mai 1871 im Reichstag zu den Betrebungen der gerade niedergeworfenen Pariser Kommune. 1871 erklärte Schweitzer seinen Rücktritt vom Präsidentenamt des ADAV. Sein Nachfolger wurde Wilhelm Hasenclever. Bei den Reichstagswahlen 1874 erzielten beide Parteien zusammen mehr als 6 Prozent der Stimmen. Der ADAV gewann drei Mandate, die Sozialdemokratische Arbeiterpartei sechs.

Beide Organisationen hatten sich auch nach der Reichsgründung heftig bekämpft, waren aber auch gleichermaßen staatlichen Repressionen ausgesetzt, unter anderem Gefängnis- und Festungshaft für ihre führenden Funktionäre. Im gewerkschaftlichen Bereich wirkte sich dieSpaltung besonders schwächend aus. Diese Tatsachen veran-laßten die Leitungen des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins und der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei, Verhandlungen miteinander aufzunehmen, welche auf dem Einigungskongreß von Gotha (22.-27. Mai 1875) zur Gründung der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands führten. Die ADAV hatte zuletzt 15 322 Mitglieder, die SDAP 9121.(20)

Auch der Allgemeine Unterstützungsverband war noch stärker als die Internationalen Gewerksgenossenschaften. Der ADAV hatte seine Schwerpunkte während der ganzen Zeit seines Bestehens in Norddeutschland gehabt, die Sozialdemokratische Arbeiterpartei vor allem in Sachsen und - in geringerem Maße - in Württemberg.

Das vom Einigungskongreß verabschiedete Gothaer Programm (21) enthielt einige der Hauptthesen der Lassalleaner, so die Forderung nach dem vollen Arbeitsertrag, Produktivassoziationen mit Staatskredit (wie ja auch das Eisenacher Programm von 1869), die Nennung des »ehernen Lohngesetzes« sowie die von Lassalle nicht explizit aufgestellte, aber in der Tradition des ADAV insbesondere durch die Vermittlung Schweitzers auf ihn zurückgeführte Behauptung, gegenüber dem Proletariat seien alle anderen Klassen nur eine reaktionäre Masse«. (22) Karl Marx und Friedrich Engels haben das Gothaer Programm scharf kritisiert, zugleich aber die Hoffnung ausgesprochen, daß die realen Kämpfe der neuen Partei diese über die Unklarheiten ihres Programms aufklären würden.

Die Sozialistische Arbeiterpartei war in der Folgezeit harten staatlichen Verfolgungen ausgesetzt, die bald über die Verhängung von Strafen gegen einzelne Mitglieder hinausgingen, zunächst zu Teilverboten der Organisationen führten und mit dem Sozialistengesetz 1878 ihren Höhepunkt erreichten.

Fußnoten

5) Zur Biographie und Politik Lassalles vgl. Shlomo Na'aman, Lassalle, Hannover 1970.

6) Ferdinand Lassalle, Offenes Antwortschreiben an das Zentralkomitee zur Berufung eines allgemeinen deutschen Arbeiterkongresses zu Leipzig, Mit Anhang: Die französischen Nationalwerkstätten von 1848, in: Ferdinand Lassalle, Gesammelte Reden und Schriften, Herausgegeben und eingeleitet von Eduard Bernstein, 12 Bde, Berlin 1919, 3. Bd., S. 39-107.

7) Ebd., S. 58 f.; Hervorhebungen durch Lassalle.

8) Ebd., S. 72 f.

9) Ebd., S. 77-81.

10) Karl Marx, Randglossen zum Programm der deutschen Arbeiterpartei, in: Karl Marx, Friedrich Engels, Werke. Hrsg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. 39 Bde, Berlin 1964- 1968 (hinfort zitiert als: MEW), Bd. 19, S. 15-32, hier: S. 18-21.

11) Zu Lassalles Kampagne vgl. Franz Mehring, Geschichte der deutschen Sozialdemokratie, 2 Bde, Berlin 1960, Zweiter Teil [= 2. Bd.]: Von Lassalles »Offenem Antwortschreiben« bis zum Erfurter Programm, 1863 bis 1891, S. 7-156.

12) Ebd., S. 89-95.

13) Vgl. Ferdinand Lassalle, Die Feste, die Presse und der Frankfurter Abgeordnetentag, Drei Symptome des öffentlichen Geistes, Eine Rede, gehalten in den Versammlungen des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins zu Barmen, Solingen und Düsseldorf, in: Lassalle, Gesammelte Reden und Schriften, a. a. O., 3. Bd., S. 333-402, hier: S. 395 f.

14) Karl Marx/Friedrich Engels, Erklärung, MEW 16, S. 79; Marx an Engels in Manchester [London,] 18. Febr.[uar 18] 65, MEW 31, S. 75-77, hier: S. 75.

15) Hierzu vgl. Gustav Mayer, Die Trennung der proletarischen von der bürgerlichen Demokratie in Deutschland, 1863-1870, in: Mayer, Radikalismus, Sozialismus und bürgerliche Demokratie, a. a. O., S. 108-178.

16) Vgl. Programm des Verbandes deutscher Arbeitervereine, angenommen auf dem Vereinstag in Nürnberg am 6. September 1868, GdA l, S. 568 f.

17) Auf derselben Generalversammlung wurde auf Antrag Schweitzers auch der enge Anschluß des ADAV an die I. Internationale beschlossen, vgl. Mehring, Geschichte der deutschen Sozialdemokratie, a. a. O., 2. Bd., S. 335. Korporative Mitgliedschaft von ADAV oder Sozialdemokratischer Arbeiterpartei in der IAA war wegen der Vereinsgesetze nicht möglich.

18) Programm der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei, in: Wolfgang Abendroth, ""Aufstieg und Krise der deutschen Sozialdemokratie, Das Problem der Zweckentfremdung einer politischen Partei durch die Anpassungstendenz von Institutionen an vergebene Machtverhältnisse, Frankfurt/Main 1964, S. 91 f.

19) Beschluß des Kongresses der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei in Stuttgart zur Grund- und Boden-Frage, angenommen am 6. Juni 1870, in: GdA l, S. 582.

20) Mehring, Geschichte der deutschen Sozialdemokratie, a. a. O., 2. Bd., S. 451.

21) Programm der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands, in: Abendroth, Aufstieg und Krise der deutschen Sozialdemokratie, a. a. O., S. 93 f.

22) Zur Entstehung dieses Schlagwortes vgl. Mehring, Geschichte der deutschen So-J zialdemokratie, a. a. O., 1. Bd., S. 211.

Editorische Hinweise

Der Leseauszug stammt aus: v. FReyberg u.a., Geschichte der deutschen Sozialdemokratie 1863-1975, Köln 1977, S. 15-28

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