Durch
Rechtsbruch zu besserem Recht. Diese Maxime gilt auch
für das Arbeitskampfrecht. Ohne
verbotene Streiks kein Ende des Streikverbots – der
Streik wäre noch heute verboten,
wenn nicht vor über 150 Jahren Arbeiter trotz
Streikverbots gestreikt hätten.(1)
Zugleich forderte 1864 der
Berliner Buchdruckerverein, ein Ende des Streikverbots
und das Recht der Koalition »im
Interesse einer annäherungsweisen Ausgleichung des
Übergewichts des Unternehmers
über den unbemittelten Arbeiter«.(2)
Der Rechtsbruch und die Forderung nach
einem besseren Recht gingen also Hand in Hand.
Das Verständnis der Arbeiter, was Recht
und was nicht Recht ist, war eben ein anderes als
das herrschende Verständnis von Recht und
Unrecht. Auch heute noch sind bestimmte
Streikziele verboten. So der Streik, der direkt
unternehmerische Entscheidungen erzwingen will,(3)
insbesondere direkt Betriebsschließungen
oder Betriebsverlagerungen verhindern will.(4)
Oder der Streik mit politischen Zielen.(5)
Trotzdem gibt es zahlreiche Beispiele, in denen
sich die Gewerkschaften an dieses Verbot des
politischen Streiks nicht gehalten haben.(6)
Nur wenn ein Streik gegen das geltende Recht
verstößt und sich über die herrschende
Rechtsprechung hinwegsetzt, kann eine neue
gerichtliche Entscheidung herausgefordert werden.
Nur so können die Gerichte gezwungen
werden, ihre eigenen Rechtspositionen zu
überprüfen. Nur so haben die Gerichte Gelegenheit,
ihre Rechtsprechung zu ändern. Ich spreche hier
nicht für den Rechtsbruch mit
unübersehbaren Folgen. Vielmehr geht es um den
kalkulierten Rechtsbruch, also um einen
Rechtsverstoß mit abschätzbaren Folgen, die
bewusst in Kauf genommen werden.(7)
Gleichzeitig sollten
jedoch immer auch politische Forderungen gestellt
werden, die auf gesetzlichem Wege
Einschränkungen des Streikrechts aufheben, wie das schon
der Berliner Buchdruckerverein
1864 mit seiner Forderung nach Aufhebung des
Koalitionsverbots und des
Streikverbots tat. Aber es geht heute nicht mehr nur um
die Aufhebung von Einschränkungen
von Streikzielen, es geht zunehmend auch um den Schutz
des Rechts auf Streik selbst. Dieses
fundamentale Freiheitsrecht ist zwar heute als
Grundrecht anerkannt und trotzdem zunehmend
gefährdet.
Die Tarifbindung hat in
den letzten 15 Jahren nicht nur in den neuen, sondern
auch in den alten Bundesländern
erheblich abgenommen. Eine Veröffentlichung in den
WSIMitteilungen
(8)
kommt zu dem Ergebnis, dass von 1996 bis 2011, also in
15 Jahren, die
Flächentarifbindung bezogen auf die Beschäftigten in
Ostdeutschland um 19% und in
Westdeutschland um 16% zurückging. Michael Kittner weist
in seinem Buch »Arbeitskampf«
darauf hin, dass dies zur Zunahme von Konflikten um
einen Tarifvertrag in einzelnen
Betrieben oder einzelnen Unternehmen führen muss; denn
mit der Abnahme der Tarifbindung
ist »der Verteilungskonflikt nicht aus der Welt«.(9)
Diese betrieblichen
Konflikte werden angesichts einer rasch wachsenden Zahl
von ungesicherten
Arbeitsverhältnissen geführt. Die Zahl der Leiharbeiter
hat inzwischen wieder die
Größenordnung der Zeit vor der Krise erreicht und die
ganz überwiegende Zahl der
Neueingestellten bekommt nur befristete Arbeitsverträge.
Insbesondere wenn einzelne Unternehmen oder
Betriebe durch Streik in die Tarifbindung
gezwungen werden sollen, setzen die Arbeitgeber
gezielt Leiharbeiter und Arbeitnehmer mit
befristeten Arbeitsverträgen ein und suchen durch
ihren Einsatz gewerkschaftlichem Handeln
die Grundlage zu entziehen. Sie nutzen dabei die
Möglichkeiten, die ihnen die bestehende
Rechtsordnung bietet. Das zwingt dazu, die
geltende Rechtsprechung und die bestehende
Gesetzgebung zu überprüfen. Zum Schutz des
Grundrechts auf Streik.
Ich möchte also folgende
Frage beantworten:
Welche Forderungen müssen
zur Verteidigung des Grundrechts auf Streik gestellt
werden?
1.
Meine erste Antwort auf
diese Frage:
Der Einsatz von Leiharbeitern in bestreikten
Betrieben muss verboten werden!
Meine Begründung für
diese Forderung: Zur Streikarbeit(10)
meinte das Bundesarbeitsgericht schon in einer
Entscheidung aus dem Jahr 1957,
»dass die Solidarität der Arbeitnehmer untereinander und
namentlich in einem bestimmten
Betrieb auch von der Rechtsordnung berücksichtigt werden
muss. Es ist dem Arbeitnehmer
nicht zuzumuten, den Streikenden in den Rücken zu
fallen.«(11)
Die richtige Konsequenz daraus
wäre, Anweisungen zur Streikarbeit zu verbieten. Das
Bundesarbeitsgericht verbietet jedoch
Streikarbeit nicht. Es erlaubt nur dem Einzelnen, einer
Anweisung zur Streikarbeit nicht zu folgen. Der
Einzelne darf also Streikarbeit verweigern.
Auch der Einsatz von Leiharbeitern in einem
bestreikten Unternehmen wird nur in dieser
Weise eingeschränkt, dass der einzelne
Leiharbeiter das Recht hat, diesen Einsatz zu
verweigern.(12)
Zwar verpflichtet das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz(13)
die Leiharbeitsfirma, den
Leiharbeiter auf sein Arbeitsverweigerungsrecht
hinzuweisen und den Lohn auch weiter
zu zahlen, wenn er die Arbeit verweigert. Aber
der Leiharbeiter selbst kann nach
erfolgreichem Streik keinen höheren Lohn erwarten. Von
ihm wird also ein ganz besonderes
Maß an Solidarität verlangt. Eine Farce, weil die
Entscheidung zur Arbeitsverweigerung auf
den einzelnen Leiharbeiter abgewälzt wird. Er
muss diese Entscheidung ganz allein treffen.
»Dem Arbeitnehmer wird in der zugespitzten
Situation zugemutet, Mut gegenüber den
Zumutungen des Arbeitgebers für unzumutbare
Arbeiten zu zeigen.«(14)
Diese Zumutungen treffen einen
Leiharbeiter, obwohl er es, wie alle anderen
Arbeitnehmer, gewohnt ist, den
Anweisungen seiner Vorgesetzten zu folgen, und dazu auch
in aller Regel verpflichtet ist.
Eine solche Entscheidung
darf einem Leiharbeiter nicht aufgezwungen werden
können. Der Leiharbeitsfirma darf
nicht erlaubt sein, solche unsittlichen Anweisungen zur
Streikarbeit zu geben. Der
Leiharbeitsfirma muss verboten sein, Leiharbeiter in
bestreikten Betrieben
einzusetzen, unabhängig von der Bereitschaft des
einzelnen Leiharbeiters, die Arbeit zu
verweigern.
Ein Verbot durch Gesetz
ist auch deswegen naheliegend, weil es dieses Verbot
durch Tarifvertrag schon gibt.(15)
Die Leiharbeitsfirmen, die an den Tarifvertrag des DGB
gebunden sind, haben sich also
schon freiwillig diesem Verbot unterworfen. Es geht also
nur darum, dass alle
Leiharbeitsfirmen von diesem Verbot erfasst werden. Auch
die Leiharbeitsfirmen,
die nicht an diesen Tarifvertrag gebunden sind.
Auch Leiharbeitsfirmen aus dem Ausland.(16)
Am besten verbietet man auch den Entleihern den
Einsatz von Leiharbeiten in bestreikten
Betrieben. Alle Schlupflöcher, die ein
Tarifvertrag nicht schließen kann, müssen geschlossen
werden. Es geht also nur darum, dieses Verbot für
alle, unabhängig von ihrer
Tarifgebundenheit und unabhängig davon, ob sie ihren
Standort im In- oder Ausland haben,
verbindlich zu machen. Und es wäre ja auch nicht
das erste Mal, dass einem Tarifvertrag eine
entsprechende gesetzliche Regelung folgt.(17)
2.
Aber es reicht nicht, den
Einsatz von Leiharbeitern in bestreikten Betrieben zu
verbieten. Denn die
Geschäftsführung eines bestreikten Unternehmens kann
über den Einsatz von
Arbeitskräften mit befristeten Arbeitsverträgen dasselbe
Ziel erreichen wie über den Einsatz
von Leiharbeitern. Ein Verbot des Einsatzes von
Leiharbeitskräften hilft da nicht
weiter.
Als zweite politische
Forderung schlage ich also vor:
Einem bestreikten Unternehmen muss der Abschluss von
befristeten Arbeitsverträgen für
den Einsatz in einem bestreikten Betrieb verboten
werden!
Meine Begründung für
diese zweite Forderung
Nach der herrschenden
Rechtsprechung haben Arbeitnehmer, die direkt mit einem
bestreikten Unternehmen einen
befristeten Arbeitsvertrag vereinbaren, nicht einmal
mehr das Recht zur
Arbeitsverweigerung. Dies gilt jedenfalls dann, wenn der
Arbeitsvertrag ausdrücklich zu dem
Zweck abgeschlossen wurde, die durch den Streik
ausgefallenen Arbeitszeiten
auszugleichen.(18)
Dann sind diese befristet eingestellten Arbeitnehmer
verpflichtet, den Weisungen der
Geschäftsführung zufolgen, zu arbeiten und den
Streikenden in den Rücken zu
fallen. Aber was wir schon im Zusammenhang mit dem
Einsatz von Leiharbeitern in
bestreikten Betrieben gesagt hatten, gilt auch hier:
Selbst wenn es ein individuelles
Arbeitsverweigerungsrecht gäbe, würde es nicht
weiterhelfen. Entscheidend ist, dass es dem
Arbeitgeber erlaubt ist, einem Arbeitnehmer einen
derart unsittlichen Arbeitsvertrag
anzubieten. Es kommt darauf an, das zu verbieten.
Alles andere ist mit dem Grundrecht auf
Streik nicht vereinbar. Egal ob durch den Einsatz
von Leiharbeitern oder durch den Einsatz
von Arbeitern, mit denen bestreikte Unternehmen
direkt befristete Arbeitsverträge
abschließen – das Grundrecht auf Streik wird verletzt.(19)
Ich meine dabei nicht die Situation, in
der die Arbeit weitergeht, weil sich zu wenige an
dem Streik beteiligen. Da hilft kein Gesetz.
Da hilft nur, dass die Gewerkschaft mehr
Kolleginnen und Kollegen organisiert und
mobilisiert. Ich meine die Situation, in der die
Arbeit, die die Streikenden niedergelegt haben,
weitergeht, weil die Streikenden ersetzt werden
und weil die Belegschaft wieder aufgefüllt
wird. Wenn die Arbeit aus diesem Grund
weitergeht, ist das Grundrecht auf Streik verletzt.
Zur Verdeutlichung seien einige Sätze zum
Grundrecht auf Streik(20)
erlaubt. Dieses Recht ergibt sich
aus der im Grundgesetz(21)
garantierten Koalitionsfreiheit, also aus
dem Recht der abhängig Beschäftigten,
Koalitionen, insbesondere Gewerkschaften zu
bilden. Im Zuge der
Notstandsgesetzgebung wurde der Arbeitskampf als
Grundrecht ausdrücklich in Art. 9
Abs. 3 GG aufgenommen.
Zunächst ist das
Streikrecht nichts anderes als die Freiheit, gemeinsam
mit anderen Kolleginnen und
Kollegen mit der Arbeit aufzuhören. Dieses Recht, mit
der Arbeit aufzuhören, hat es
nicht immer gegeben. Sklaven hatten dieses Recht nicht.
Auch nicht Bauern, die
Frondienste auf den Feldern ihrer Herren leisten
mussten. Die Arbeitskraft musste
erst zur Ware werden, so dass Arbeitsverträge über diese
Ware abgeschlossen werden
konnten; Arbeitsverträge, die gekündigt werden können
und damit das Recht einschließen,
nach Ablauf der Kündigungsfrist mit der Arbeit
aufzuhören. Das war bis 1900 kein Problem,
weil die meisten Arbeiter Tagelöhner waren oder
auch noch bis 1914 Arbeitsverträge mit nur
wenigen Tagen Kündigungsfrist hatten.(22)
Erst seit knapp 50 Jahren sind Streiks ohne
Kündigung der Arbeitsverträge möglich.(23)
Seitdem sagt man: Das Arbeitsverhältnis wird
suspendiert. Daraus folgt die Pflicht des
Arbeitgebers, alle Streikenden nach Ende des Streiks
weiterzubeschäftigen. Aber unabhängig von diesen
Fragen der Kündigung und der Einhaltung
der Kündigungsfristen bei Beginn des Streiks und
der Frage der Weiterbeschäftigung nach
dem Ende des Streiks bleibt es dabei: Das
Streikrecht ist zunächst nichts anderes ist als die
Freiheit, gemeinsam mit anderen Kolleginnen und
Kollegen mit der Arbeit aufzuhören, die
Arbeit niederzulegen.(24)
Wer einen Arbeitsvertrag hat, ist eben kein Sklave.
Aber das beschreibt nicht vollständig das
Grundrecht auf Streik. Es fehlt die Kehrseite der
Medaille, die Beschreibung der Wirkung, die
gerade aus dem vereinten Handeln, aus der
gemeinsamen Arbeitsniederlegung entsteht. Das
ganze geölte Räderwerk eines bestreikten
Betriebes gerät ins Stocken und steht – wenn alle
ihre Arbeit einstellen – still. Braucht es jetzt
eine zusätzliche Rechtfertigung dafür, dass
Arbeiter die Arbeit gemeinsam niederlegen
können? Eigentlich nicht. Die Begründung »Wer
einen Arbeitsvertrag hat, ist kein Sklave«
sollte ausreichen. Auch im Grundgesetz wird das
Recht auf Streik ohne Vorbehalt garantiert.
Trotzdem werden wir eine zusätzliche
Rechtfertigung für die Wirkung, auf die es im Streik
ankommt, vortragen. Auch deswegen, weil das
Bundesverfassungsgericht einem
vorbehaltslosen Grundrecht andere Grundrechte
gegenüberstellt und dann die
entgegenstehenden Positionen unter Berücksichtigung der
Bedeutung und Tragweite des
Grundrechts auf Streik zum Ausgleich bringen muss.(25)
Alle wichtigen
Unternehmensentscheidungen treffen entweder die
Unternehmenseigner selbst oder deren
Geschäftsführer oder Vorstände. Sie allein
entscheiden über die Verwendung der Gewinne,
die Investitionen, über Betriebsverlagerungen,
Betriebseinschränkungen oder gar die
Stilllegung eines ganzen Betriebes. Diese
Entscheidungsrechte leiten die Unternehmenseigner
aus dem Eigentum an dem Unternehmen her, ohne
jemals zu fragen, wer diese Werte
geschaffen hat, die die Rechtsordnung später zum
Eigentum der Unternehmenseigner erklärt.
Es werden Entscheidungen allein von den
Unternehmenseignern getroffen, obwohl sie
fundamentale Folgen für diejenigen haben, die
diesen ganzen Betrieb tagtäglich in Gang
halten. Das ist die strukturelle Unterlegenheit
der Arbeitnehmer, von der auch das
Bundesverfassungsgericht spricht. Diese
Unterlegenheit können die abhängig
Beschäftigten zumindest
zeitweise nur mit Hilfe ihres Grundrechts auf Streik
ausgleichen. Anders können sie
sich nicht behaupten. Das Bundesarbeitsgericht sagt,
ohne dieses Grundrecht auf Streik
bliebe den Gewerkschaften nur »kollektives Betteln«.(26)
Die Unternehmen würden ohne das
Grundrecht auf Streik das »ob« von Verhandlungen und das
»wie« des Verhandlungsergebnisses
»diktieren«. Das ist die Rechtfertigung dafür, dass
durch Streik Druck ausgeübt wird,
indem »dem Arbeitgeber wirtschaftliche Schäden zufügt
werden«.(27)
Sie sollen ihn zum Einlenken
bewegen. Nur das führt zu einer Verhandlungsmacht der
abhängig Beschäftigten. Nur diese
durch den Streik aufgebaute Verhandlungsmacht verhindert
ein Diktat der bestreikten
Unternehmen.
Genau wegen dieser
Möglichkeit, durch den Streik Verhandlungsmacht
aufzubauen, bekämpfen die
Unternehmer das Recht auf Streik seit jeher. Die
Methoden der Unternehmer zur
Bekämpfung dieses Grundrechts sind zahlreich:
So fordern sie immer wieder das Verbot des
Grundrechts auf Streik zumindest für bestimmte
Bereiche und unter Berufung auf das Gemeinwohl,
wobei zur Durchsetzung zunächst an
Geldzahlungen, Kündigungen usw. zu denken wäre.
Wie wenig die Bundesregierung von dem
Recht auf Streik hält, zeigt sie gerade in einem
anderen Land, in Griechenland, wo die
streikenden U-Bahnfahrer und Seeleute
zwangsverpflichtet werden – auf der Grundlage eines
Gesetzes aus Zeit der griechischen
Militärdiktatur und mit Gewalt. Mit dem Beharren auf
Sparprogrammen und Lohnkürzungen ist die deutsche
Bundesregierung für diese Politik
direkt verantwortlich.
Auch andere Wege können
zum Ziel führen. Es sei an die Initiative von 2002/2003
erinnert. Diese Initiative wollte
das Streikrecht dadurch aushebeln, dass das Recht zur
Änderung von Tarifverträgen auf
die Betriebsräte verlagert werden sollte – auf die
Betriebsräte, die kein
Streikrecht haben, sondern einer gesetzlichen
Friedenspflicht unterworfen sind.
Die Unternehmer versuchen immer
wieder Löhne und Gehälter mit Betriebsräten unter
Verstoß gegen die Tarifsperre(28)
des Betriebsverfassungsgesetzes zu regeln.
Wieder ein anderer Weg besteht darin, einen
Tarifvertrag zumindest zum Teil durch Gesetz
wieder aufzuheben. So ließ das
Bundesverfassungsgericht ein Gesetz zu, das den
Unternehmen erlaubte, tarifliche Urlaubsansprüche
mit bezahlten gesetzlichen
Freistellungsansprüchen zur medizinischen Versorgung und
Rehabilitation zu verrechnen: Auf
fünf Tage Rehabilitation konnte der Unternehmer zwei
Urlaubstage aus Tarifvertrag
anrechnen, den tariflichen Urlaubsanspruch also um zwei
Tage verkürzen.(29)
Warum sollen die Gewerkschaften
noch zum Streik aufrufen, wenn später durch Gesetz der
erstreikte Tarifvertrag wieder
zunichte gemacht werden kann?
Wieder ein anderer Weg, das Grundrecht auf Streik
auszuhebeln, besteht darin, dem Streik
jede Wirkung zu nehmen. Und das ist der Ansatz,
um den es hier geht: Die Arbeit, die die
Streikenden niedergelegt haben, lässt die
Geschäftsführung des bestreikten Unternehmens von
anderen Arbeitskräften weitermachen; z.B. über
eine Leihfirma. Und wenn das nicht geht
über den Abschluss von befristeten
Arbeitsverträgen. Entscheidend ist nur, dass die Wirkung
des Streiks konterkariert wird, dass die Arbeit
trotz Streik weitergeht. Und die Gerichte
machen mit: Wenn Streikposten verhindern, dass
diese Arbeitnehmer in den Betrieb kommen,
dann holt sich der Unternehmer beim
Arbeitsgericht einen Titel und lässt im
Wiederholungsfall ein Ordnungsgeld von bis zu
100.000 € festsetzen. Anstatt das
Grundrecht auf Streik zu
schützen, werden diejenigen geschützt, die dieses
Grundrecht aushebeln.
3.
Dem muss ein Riegel
vorgeschoben werden. Der Einsatz von Leiharbeitern oder
von Arbeitskräften mit
befristeten Arbeitsverträgen in bestreikten Betrieben
ist nach internationalen Normen
unzulässig(30)
und in Frankreich verboten(31).
Was in Frankreich verboten ist,
sollte den Unternehmern in Deutschland nicht erlaubt
sein. Zum Schutz des Grundrechts
auf Streik müssen die Gesetze geändert werden. Es geht
nicht anders. Wie sagte B.
Brecht: Dass Du Dich wehren musst, wenn Du nicht
untergehen willst, das wirst Du doch
einsehen.
Ich wiederhole noch
einmal die beiden politischen Forderungen und zwar als
gesetzliche Vorschrift:
Zum Schutz des Grundrechts auf Streik ist der Einsatz
von Leiharbeitnehmer in
bestreikten Betrieben verboten.
Dieses Verbot ist als
Ergänzung in das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz
aufzunehmen. Außerdem ist
das Teilzeit- und Befristungsgesetz um folgende
Vorschrift zu ergänzen:
Zum Schutz des Grundrechts auf Streik ist einem
bestreikten Unternehmen der
Abschluss von befristeten Arbeitsverträge zum Einsatz in
einem bestreikten Betrieb
verboten.
Um die Einhaltung dieser
beiden Verbote zu sichern,(32)
müssen dem Verbot im
Arbeitnehmerüberlassungsgesetz und dem Verbot im
Teilzeit- und Befristungsgesetz folgende
Sätze folgen:
Die Gewerkschaft, die zum Streik aufgerufen hat,
ist berechtigt, zur Durchsetzung
dieses Verbots beim Arbeitsgericht Unterlassungsanträge
zu stellen und die Androhung und
Festsetzung eines Ordnungsgeldes zu beantragen.
In § 36 Abs. 3 SGB III
muss die Vorschrift zur Arbeitsvermittlung in bestreikte
Betriebe geändert werden(33)
und lauten:
Die Agentur für Arbeit darf nicht in einem durch einen
Arbeitskampf unmittelbar
betroffenen Bereich vermitteln.
Bis jetzt darf die
Agentur für Arbeit in diesem Bereich »nur dann
vermitteln, wenn der
Arbeitssuchende und der Arbeitgeber dies trotz eines
Hinweises auf den Arbeitskampf
verlangen.«
Das alles soll der
Bundestag beschließen. Unter Umständen ist auch eine
Bundesratsinitiative sinnvoll.
Und schließlich fordern
wir generell: Keine Personaleinstellungen während eines
Streiks.
Die Mitbestimmungsrechte
des Betriebsrates müssen auch während eines Streiks
weiter gelten(34).
Zur Verhinderung von Einstellungen während eines Streiks
soll das
Betriebsverfassungsgesetz in § 99 Abs. 2 ergänzt werden.
Der Betriebsrat kann die
Zustimmung auch verweigern, wenn eine Einstellung
während eines Streiks vorgenommen
werden soll.
Die Arbeitsgerichte
müssen ihre Rechtsprechung aufgeben, die die
Mitbestimmungsrechte des
Betriebsrates in einem bestreikten Betrieb einschränkt.
Diese einschränkende Rechtsprechung
schützt die Arbeitgeber, nicht aber das
Grundrecht auf Streik und die Tarifautonomie. Zur
Unterstützung einer Änderung in der
Rechtsprechung ist der Gesetzgeber zu einer
entsprechenden Klarstellung im
Betriebsverfassungsgesetz aufgefordert. In Verbindung
mit den vorgeschlagenen Verboten
kann dann der Betriebsrat die Einstellung auch nach § 99
Abs. 2 Nr. 1 BetrVG verweigern,
weil der Arbeitgeber mit der Einstellung gegen ein
Gesetz, und zwar gegen das Verbot
im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz bzw. gegen das Verbot
im Teilzeit- und
Befristungsgesetz verstößt.
Es ist möglich, dass das
alles noch nicht reicht, insbesondere wenn man an den
zunehmenden Missbrauch von
Werkverträgen denkt. Aber ein Anfang wäre gemacht.
Gerade weil die Zahl der Beschäftigten, die einer
Tarifbindung unterliegen, in den letzten 15
Jahren erheblich abgenommen hat, müssen die eine
Chance haben, die sich dem
entgegenstemmen. Streikende müssen besser geschützt
werden. Unsere Freiheit beginnt da,
wo die Freiheit der Unternehmenseigner aufhört.
Über 80% der Erwerbstätigen(35)
in Deutschland haben einen
Arbeitsvertrag. Wer einen Arbeitsvertrag hat, will weder
Sklave sein noch betteln.
Anmerkungen
1) Michael Kittner,
Arbeitskampf, München 2005, S. 231ff.
2) Michael Kittner, Arbeitskampf, München 2005, S. 212
3) Däubler, Arbeitskampfrecht, 3. Aufl., § 13 Rn. 32ff.
4) Däubler, Arbeitskampfrecht, 3. Aufl., § 13 Rn. 40ff.
5) Däubler, Arbeitskampfrecht, 3. Aufl., § 13 Rn. 47ff.
6) Däubler, Arbeitskampfrecht, 3. Aufl., § 13 Rn. 51
7)
So wäre z.B. auch eine gewaltfreie aktive
Blockade eines bestreikten Betriebes zu prüfen. Es sei
in diesem Zusammenhang
ausdrücklich verwiesen auf Donat/Kühling, nach denen
»die Entscheidung des BAG zu
Betriebsblockaden heute kritisch gelesen werden muss…
Arbeitskampfmaßnahmen, die die Arbeitgeberseite
nicht stören oder behindern, sind zahnlos… Unter den
heutigen Produktionsverhältnissen kann durch
Streikmaßnahmen allein eine Kampfparität häufig
nicht mehr hergestellt werden. Aktive
Produktionsbehinderungen kompensieren diese
strukturelle Schwäche der Arbeitnehmer in einer für den
Arbeitgeber und möglicherweise betroffene Dritte
(Zulieferer) zumutbaren Weise … Nach dem derzeitigen
Stand von Rspr. und Lehre können allerdings
Unterlassungs- und Schadenersatzforderungen nicht
ausgeschlossen werden« (AuR 2009, 1-2/1, 5); also
ein weites Betätigungsfeld für kalkulierten Rechtsbruch.
8) Peter Ellguth/Susanne Kohaut,
Tarifbindung und betriebliche Interessenvertretung:
Aktuelle Ergebnisse aus
dem IAG-Betriebspanel 2011, in: WSI-Mitteilungen 4/2012,
297-305, 300
9) Michael Kittner, Arbeitskampf,
München 2005, S. 720
10) Streikarbeit liegt nach der
Rechsprechung des BAG vor, »wenn von einem Arbeitnehmer
Verrichtungen gefordert werden,
die bisher von den Streikenden erledigt werden und die
lediglich wegen des Streiks ihm, in
dessen bisherigen Arbeitskreis sie an sich nicht
fallen, übertragen werden.« (BAG v. 25.7.1957 – 1 AZR
194/56 – AP Nr. 3 zu § 615 BGB
Betriebsrisiko, bestätigt durch BAG v. 10.9.1985 – 1 AZR
262/84 – DB 1985, 2354, 2355 re.
Sp.; ebenso BGH v 191.1978 – II ZR 192/76 – AP Nr. 56 zu
Art. 9 GG Arbeitskampf; vgl.
Däubler/Däubler, Arbeitskampfrecht, 3. Aufl., § 32 Rn.
63
11) BAG 25.7.1957 – 1 AZR 194/56
12) »Der Leiharbeitnehmer ist
nicht verpflichtet, bei einem Entleiher tätig zu sein,
soweit dieser durch einen
Arbeitskampf unmittelbar betroffen ist.« (§ 11 Abs. 5
Satz 1 AÜG)
13)
Arbeitnehmerüberlassungsgesetz (AÜG)
14)
Berg/Platow/Schoof/Unterhinninghofen,
Tarifvertragsgesetz und Arbeitskampfrecht, 3. Aufl.,
Teil 3 Rn. 306
15) Die DGB-Tarifgemeinschaft hat
mit den Leiharbeitsfirmen-Verbänden BZA und dem iGZ
Leiharbeitstarifverträge abgeschlossen, in denen
ausdrücklich untersagt ist, unabhängig von der
Bereitschaft des einzelnen
Leiharbeiters, die Arbeit zu verweigern (§ 17 Abs. 1 MTV
BZA und Protokollnotiz 10. MTV iGZ).
Über den Inhalt dieses Tarifvertrages im Übrigen
soll hier nicht gesprochen werden.
16) Aus diesem Grund
sollte vorsorglich das Verbot für Verleiher und
Entleiher gelten. Zum »Arbeitskampf mit
Auslandsbezug: Die Frage der anwendbaren
Rechtsordnung«, vgl. Däubler/Däubler, Arbeitskampfrecht,
3. Aufl.,
§ 32
17) Vgl. Kittner, Arbeits- und
Sozialordnung, 2012: Einleitung zum
Entgeltfortzahlungsgesetz, Geschichtliche
Entwicklung
18) Däubler/Ögüt,
Arbeitskampfrecht, § 19 Rn. 71: »Nach der herrschenden
Meinung bleibt es dem Arbeitgeber
unbenommen, den für den Zeitraum der
Arbeitskampfmaßnahme bestehenden Arbeitskräftebedarf
durch Neueinstellungen zu
regulieren …. Wird der Arbeitsvertrag ausdrücklich zum
Zweck der Überbrückung der Zeiten
der Suspendierung der Arbeitspflicht von streikenden
Arbeitnehmern abgeschlossen, so geht die
herrschende Meinung davon aus, dass es für den
neueingestellten Arbeitnehmer im Rahmen seiner
arbeitsvertraglichen Verpflichtungen keinen Raum
mehr gebe für eine Verweigerung der Streikarbeit. Dies
trotz der faktisch gleichen
Wirkung der Neueinstellungen als Minderung des mit dem
Streik beabsichtigten
Druckaufbaus (ebenso wie beim Einsatz eines
Drittunternehmens).«
19) »Problematisch ist, dass
Rückwirkungen der Arbeitgeber-Kampfmittel auf das
Streikrecht selten geprüft und
Konsequenzen daraus gezogen werden. Das BAG tut dies
aber bei wesentlich leichteren Beeinträchtigungen des
Arbeitgebers bei wieder entdeckten oder
weiterentwickelten Streikformen, wie z.B. dem Ende und
Wiederbeginn des Streiks bei
Feiertagen, Wellenstreiks oder streikbegleitenden
Flashmob-Aktionen. Hier »weist« es die
Arbeitgeber – z.T. ungefragt – auf die
Möglichkeiten der Aussperrung… bzw. bei der
Hausrechtsausübung hin bzw.
entwickelt diese Rechtsinstitute weiter. Das sucht man
beim gravierenden Fall einer beeinträchtigen
Grundrechtsausübung vergebens. Wenn z.B. der
Einsatz weniger Streikbrecher … in Verbindung mit
automatischen Produktionsprozessen genügt, die
normale Produktion weitgehend aufrecht zu erhalten und
dem Streik die Effektivität zu
nehmen …, dann muss auch geprüft werden, welche der
überschießenden Arbeitgebermittel
zurückgeführt können und müssen (z.B. Einsatz
außerbetrieblicher Streikbrecher …) …«,
Berg/Platow/Schoof/Unterhinninghofen,
Tarifvertragsgesetz und
Arbeitskampfrecht, 3. Aufl., Teil 3 Rn. 312
20 Grundrecht auf Streik als subjektives Recht;
vgl. Däubler/Däubler, Arbeitskampfrecht, 3. Aufl., § 12
Rn. 31
21) Art. 9 Abs. 3 GG
22) »Zwischen 1899 und 1914
ging ein Drittel der Arbeitnehmer ohne Einhaltung der
Kündigungsfrist in den Ausstand.
Das hing damit zusammen, dass § 122 GewO eine
vierzehntägige Kündigungsfrist vorsah, die im
Arbeitsvertrag noch weiter verkürzt werden
konnte.« (Däubler, Arbeitskampfrecht, 3. Aufl., § 3 Rn.
2)
23) BAG 28.01.1955 GS
1/54; BAG 21.4.1971 GS 1/68
24) Nach herrschender Sicht ist
dafür ein Streikaufruf unabdingbar. Nach meiner Meinung
und der vieler anderer Juristen
reicht auch eine spontan und nur vorübergehend gebildete
Koalition von Arbeitnehmern, also ein
nichtgewerkschaftliches vereintes Handeln einer
Arbeitnehmergruppe. Es geht um die zu Unrecht so
genannten »wilden« Streiks.
Ebenso Däubler/Däubler, Arbeitskampfrecht, 3. Aufl., §
12 Rn 16ff., insbesondere Rn. 25, wo
auf das europäische Recht Bezug genommen wird;
Däubler spricht sich zu Recht dagegen aus, solchen
»adhoc «-Koalitionen nur das
Recht der gemeinsamen Änderungskündigung einzuräumen;
vgl. auch
Berg/Platow/Schoof/Unterhinninghofen,
Tarifvertragsgesetz und Arbeitskampfrecht, 3. Aufl.,
Teil 3 Rn. 202
25) Vgl. BVerfG 3.04.2001 1 BvL
32/97; vgl. auch Donat/Kühling, AuR 1-2/2009, S. 5ff.
26) BAG 10.6.1980 DB 80, 1694
27) Donat/Kühling, AuR 1-2/ 2009,
S. 5
28) § 77 Abs. 3 BetrVG
29) Vgl. BVerfG 3.04.2001 1 BvL
32/97
30) Die Einstellung von
Arbeitnehmern zum Streikbrechereinsatz ist nach dem
ILO-Sachverständigenausschuss
und nach dem ILO-Ausschuss für Vereinigungsfreiheit eine
schwerwiegende Verletzung der
Vereinigungsfreiheit; Däubler/Lörcher,
Arbeitskampfrecht, 3. Aufl., § 10 Rn. 93ff.
31)
Berg/Platow/Schoof/Unterhinningenhofen,
Tarifvertragsgesetz und Arbeitskampfrecht.
Kompaktkommentar, 3. Aufl. 2010,
AKR 3. Teil Rn. 303ff., insbesondere Rn. 306 und dort
Fn. 591
32) Es kommt darauf an,
dass ein bestreiktes Unternehmen nicht unerkannt gegen
die Verbote verstoßen kann,
dass gegen Verstöße rasch vorgegangen werden kann und
dass die Sanktionen bei Verstößen so schwer sind, dass
das Verbot wirkt.
33)
Berg/Platow/Schoof/Unterhinningenhofen,
Tarifvertragsgesetz und Arbeitskampfrecht.
Kompaktkommentar, 3. Aufl. 2010,
AKR 3. Teil Rn. 305
34) Däubler/Dette,
Arbeitskampfrecht, 3. Aufl., § 19 Rn. 132, 150
35) Zu den Erwerbstätigen gehören
auch die Freischaffenden und Beamte, also alle, die
arbeiten müssen, um zu leben.
Editorische Hinweise
Der Autor, Benedikt Hopmann,
arbeitet als Rechtsanwalt in
Berlin.
Aus Anlass des seit drei
Monaten andauernden Streiks bei Neupack lud am 12.
Februar 2013 der Ortsverein
Hamburg des ver.di-Fachbereichs 08 zu einer
Veranstaltung mit dem Thema
»Unser Recht auf Streik steht doch nur auf dem Papier…«
Dort
nahm RA Benedikt Hopmann zu dem
Thema der Veranstaltung unter folgendem
Gesichtspunkt Stellung:
Bestreikte Unternehmen können
einen Streik dadurch leer laufen lassen, dass sie die
Streikenden sofort durch
Leiharbeiter oder durch Arbeitskräfte mit befristeten
Arbeitsverträgen ersetzen.
Wir
veröffentlichen sein Referat
hier in einer überarbeiteten Fassung ab.