Betrieb & Gewerkschaft
Zum Besseren Schutz des Grundrechts auf Streik

von Benedikt Hopmann

05-2013

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Durch Rechtsbruch zu besserem Recht. Diese Maxime gilt auch für das Arbeitskampfrecht. Ohne verbotene Streiks kein Ende des Streikverbots – der Streik wäre noch heute verboten, wenn nicht vor über 150 Jahren Arbeiter trotz Streikverbots gestreikt hätten.(1) Zugleich forderte 1864 der Berliner Buchdruckerverein, ein Ende des Streikverbots und das Recht der Koalition »im Interesse einer annäherungsweisen Ausgleichung des Übergewichts des Unternehmers über den unbemittelten Arbeiter«.(2) Der Rechtsbruch und die Forderung nach einem besseren Recht gingen also Hand in Hand. Das Verständnis der Arbeiter, was Recht und was nicht Recht ist, war eben ein anderes als das herrschende Verständnis von Recht und Unrecht. Auch heute noch sind bestimmte Streikziele verboten. So der Streik, der direkt unternehmerische Entscheidungen erzwingen will,(3) insbesondere direkt Betriebsschließungen oder Betriebsverlagerungen verhindern will.(4) Oder der Streik mit politischen Zielen.(5) Trotzdem gibt es zahlreiche Beispiele, in denen sich die Gewerkschaften an dieses Verbot des politischen Streiks nicht gehalten haben.(6) Nur wenn ein Streik gegen das geltende Recht verstößt und sich über die herrschende Rechtsprechung hinwegsetzt, kann eine neue gerichtliche Entscheidung herausgefordert werden. Nur so können die Gerichte gezwungen werden, ihre eigenen Rechtspositionen zu überprüfen. Nur so haben die Gerichte Gelegenheit, ihre Rechtsprechung zu ändern. Ich spreche hier nicht für den Rechtsbruch mit unübersehbaren Folgen. Vielmehr geht es um den kalkulierten Rechtsbruch, also um einen Rechtsverstoß mit abschätzbaren Folgen, die bewusst in Kauf genommen werden.(7)

Gleichzeitig sollten jedoch immer auch politische Forderungen gestellt werden, die auf gesetzlichem Wege Einschränkungen des Streikrechts aufheben, wie das schon der Berliner Buchdruckerverein 1864 mit seiner Forderung nach Aufhebung des Koalitionsverbots und des Streikverbots tat. Aber es geht heute nicht mehr nur um die Aufhebung von Einschränkungen von Streikzielen, es geht zunehmend auch um den Schutz des Rechts auf Streik selbst. Dieses fundamentale Freiheitsrecht ist zwar heute als Grundrecht anerkannt und trotzdem zunehmend gefährdet.

Die Tarifbindung hat in den letzten 15 Jahren nicht nur in den neuen, sondern auch in den alten Bundesländern erheblich abgenommen. Eine Veröffentlichung in den WSIMitteilungen (8) kommt zu dem Ergebnis, dass von 1996 bis 2011, also in 15 Jahren, die Flächentarifbindung bezogen auf die Beschäftigten in Ostdeutschland um 19% und in Westdeutschland um 16% zurückging. Michael Kittner weist in seinem Buch »Arbeitskampf« darauf hin, dass dies zur Zunahme von Konflikten um einen Tarifvertrag in einzelnen Betrieben oder einzelnen Unternehmen führen muss; denn mit der Abnahme der Tarifbindung ist »der Verteilungskonflikt nicht aus der Welt«.(9)

Diese betrieblichen Konflikte werden angesichts einer rasch wachsenden Zahl von ungesicherten Arbeitsverhältnissen geführt. Die Zahl der Leiharbeiter hat inzwischen wieder die Größenordnung der Zeit vor der Krise erreicht und die ganz überwiegende Zahl der Neueingestellten bekommt nur befristete Arbeitsverträge. Insbesondere wenn einzelne Unternehmen oder Betriebe durch Streik in die Tarifbindung gezwungen werden sollen, setzen die Arbeitgeber gezielt Leiharbeiter und Arbeitnehmer mit befristeten Arbeitsverträgen ein und suchen durch ihren Einsatz gewerkschaftlichem Handeln die Grundlage zu entziehen. Sie nutzen dabei die Möglichkeiten, die ihnen die bestehende Rechtsordnung bietet. Das zwingt dazu, die geltende Rechtsprechung und die bestehende Gesetzgebung zu überprüfen. Zum Schutz des Grundrechts auf Streik.

Ich möchte also folgende Frage beantworten:

Welche Forderungen müssen zur Verteidigung des Grundrechts auf Streik gestellt werden?

1.

Meine erste Antwort auf diese Frage:
Der Einsatz von Leiharbeitern in bestreikten Betrieben muss verboten werden!

Meine Begründung für diese Forderung: Zur Streikarbeit(10) meinte das Bundesarbeitsgericht schon in einer Entscheidung aus dem Jahr 1957, »dass die Solidarität der Arbeitnehmer untereinander und namentlich in einem bestimmten Betrieb auch von der Rechtsordnung berücksichtigt werden muss. Es ist dem Arbeitnehmer nicht zuzumuten, den Streikenden in den Rücken zu fallen.«(11) Die richtige Konsequenz daraus wäre, Anweisungen zur Streikarbeit zu verbieten. Das Bundesarbeitsgericht verbietet jedoch Streikarbeit nicht. Es erlaubt nur dem Einzelnen, einer Anweisung zur Streikarbeit nicht zu folgen. Der Einzelne darf also Streikarbeit verweigern. Auch der Einsatz von Leiharbeitern in einem bestreikten Unternehmen wird nur in dieser Weise eingeschränkt, dass der einzelne Leiharbeiter das Recht hat, diesen Einsatz zu verweigern.(12) Zwar verpflichtet das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz(13) die Leiharbeitsfirma, den Leiharbeiter auf sein Arbeitsverweigerungsrecht hinzuweisen und den Lohn auch weiter zu zahlen, wenn er die Arbeit verweigert. Aber der Leiharbeiter selbst kann nach erfolgreichem Streik keinen höheren Lohn erwarten. Von ihm wird also ein ganz besonderes Maß an Solidarität verlangt. Eine Farce, weil die Entscheidung zur Arbeitsverweigerung auf den einzelnen Leiharbeiter abgewälzt wird. Er muss diese Entscheidung ganz allein treffen. »Dem Arbeitnehmer wird in der zugespitzten Situation zugemutet, Mut gegenüber den Zumutungen des Arbeitgebers für unzumutbare Arbeiten zu zeigen.«(14) Diese Zumutungen treffen einen Leiharbeiter, obwohl er es, wie alle anderen Arbeitnehmer, gewohnt ist, den Anweisungen seiner Vorgesetzten zu folgen, und dazu auch in aller Regel verpflichtet ist.

Eine solche Entscheidung darf einem Leiharbeiter nicht aufgezwungen werden können. Der Leiharbeitsfirma darf nicht erlaubt sein, solche unsittlichen Anweisungen zur Streikarbeit zu geben. Der Leiharbeitsfirma muss verboten sein, Leiharbeiter in bestreikten Betrieben einzusetzen, unabhängig von der Bereitschaft des einzelnen Leiharbeiters, die Arbeit zu verweigern.

Ein Verbot durch Gesetz ist auch deswegen naheliegend, weil es dieses Verbot durch Tarifvertrag schon gibt.(15) Die Leiharbeitsfirmen, die an den Tarifvertrag des DGB gebunden sind, haben sich also schon freiwillig diesem Verbot unterworfen. Es geht also nur darum, dass alle Leiharbeitsfirmen von diesem Verbot erfasst werden. Auch die Leiharbeitsfirmen, die nicht an diesen Tarifvertrag gebunden sind. Auch Leiharbeitsfirmen aus dem Ausland.(16) Am besten verbietet man auch den Entleihern den Einsatz von Leiharbeiten in bestreikten Betrieben. Alle Schlupflöcher, die ein Tarifvertrag nicht schließen kann, müssen geschlossen werden. Es geht also nur darum, dieses Verbot für alle, unabhängig von ihrer Tarifgebundenheit und unabhängig davon, ob sie ihren Standort im In- oder Ausland haben, verbindlich zu machen. Und es wäre ja auch nicht das erste Mal, dass einem Tarifvertrag eine entsprechende gesetzliche Regelung folgt.(17)

2.

Aber es reicht nicht, den Einsatz von Leiharbeitern in bestreikten Betrieben zu verbieten. Denn die Geschäftsführung eines bestreikten Unternehmens kann über den Einsatz von Arbeitskräften mit befristeten Arbeitsverträgen dasselbe Ziel erreichen wie über den Einsatz von Leiharbeitern. Ein Verbot des Einsatzes von Leiharbeitskräften hilft da nicht weiter.

Als zweite politische Forderung schlage ich also vor:
Einem bestreikten Unternehmen muss der Abschluss von befristeten Arbeitsverträgen für den Einsatz in einem bestreikten Betrieb verboten werden!

Meine Begründung für diese zweite Forderung

Nach der herrschenden Rechtsprechung haben Arbeitnehmer, die direkt mit einem bestreikten Unternehmen einen befristeten Arbeitsvertrag vereinbaren, nicht einmal mehr das Recht zur Arbeitsverweigerung. Dies gilt jedenfalls dann, wenn der Arbeitsvertrag ausdrücklich zu dem Zweck abgeschlossen wurde, die durch den Streik ausgefallenen Arbeitszeiten auszugleichen.(18) Dann sind diese befristet eingestellten Arbeitnehmer verpflichtet, den Weisungen der Geschäftsführung zufolgen, zu arbeiten und den Streikenden in den Rücken zu fallen. Aber was wir schon im Zusammenhang mit dem Einsatz von Leiharbeitern in bestreikten Betrieben gesagt hatten, gilt auch hier: Selbst wenn es ein individuelles Arbeitsverweigerungsrecht gäbe, würde es nicht weiterhelfen. Entscheidend ist, dass es dem Arbeitgeber erlaubt ist, einem Arbeitnehmer einen derart unsittlichen Arbeitsvertrag anzubieten. Es kommt darauf an, das zu verbieten. Alles andere ist mit dem Grundrecht auf Streik nicht vereinbar. Egal ob durch den Einsatz von Leiharbeitern oder durch den Einsatz von Arbeitern, mit denen bestreikte Unternehmen direkt befristete Arbeitsverträge abschließen – das Grundrecht auf Streik wird verletzt.(19) Ich meine dabei nicht die Situation, in der die Arbeit weitergeht, weil sich zu wenige an dem Streik beteiligen. Da hilft kein Gesetz. Da hilft nur, dass die Gewerkschaft mehr Kolleginnen und Kollegen organisiert und mobilisiert. Ich meine die Situation, in der die Arbeit, die die Streikenden niedergelegt haben, weitergeht, weil die Streikenden ersetzt werden und weil die Belegschaft wieder aufgefüllt wird. Wenn die Arbeit aus diesem Grund weitergeht, ist das Grundrecht auf Streik verletzt. Zur Verdeutlichung seien einige Sätze zum Grundrecht auf Streik(20) erlaubt. Dieses Recht ergibt sich aus der im Grundgesetz(21) garantierten Koalitionsfreiheit, also aus dem Recht der abhängig Beschäftigten, Koalitionen, insbesondere Gewerkschaften zu bilden. Im Zuge der Notstandsgesetzgebung wurde der Arbeitskampf als Grundrecht ausdrücklich in Art. 9 Abs. 3 GG aufgenommen.

Zunächst ist das Streikrecht nichts anderes als die Freiheit, gemeinsam mit anderen Kolleginnen und Kollegen mit der Arbeit aufzuhören. Dieses Recht, mit der Arbeit aufzuhören, hat es nicht immer gegeben. Sklaven hatten dieses Recht nicht. Auch nicht Bauern, die Frondienste auf den Feldern ihrer Herren leisten mussten. Die Arbeitskraft musste erst zur Ware werden, so dass Arbeitsverträge über diese Ware abgeschlossen werden konnten; Arbeitsverträge, die gekündigt werden können und damit das Recht einschließen, nach Ablauf der Kündigungsfrist mit der Arbeit aufzuhören. Das war bis 1900 kein Problem, weil die meisten Arbeiter Tagelöhner waren oder auch noch bis 1914 Arbeitsverträge mit nur wenigen Tagen Kündigungsfrist hatten.(22) Erst seit knapp 50 Jahren sind Streiks ohne Kündigung der Arbeitsverträge möglich.(23) Seitdem sagt man: Das Arbeitsverhältnis wird suspendiert. Daraus folgt die Pflicht des Arbeitgebers, alle Streikenden nach Ende des Streiks weiterzubeschäftigen. Aber unabhängig von diesen Fragen der Kündigung und der Einhaltung der Kündigungsfristen bei Beginn des Streiks und der Frage der Weiterbeschäftigung nach dem Ende des Streiks bleibt es dabei: Das Streikrecht ist zunächst nichts anderes ist als die Freiheit, gemeinsam mit anderen Kolleginnen und Kollegen mit der Arbeit aufzuhören, die Arbeit niederzulegen.(24) Wer einen Arbeitsvertrag hat, ist eben kein Sklave. Aber das beschreibt nicht vollständig das Grundrecht auf Streik. Es fehlt die Kehrseite der Medaille, die Beschreibung der Wirkung, die gerade aus dem vereinten Handeln, aus der gemeinsamen Arbeitsniederlegung entsteht. Das ganze geölte Räderwerk eines bestreikten Betriebes gerät ins Stocken und steht – wenn alle ihre Arbeit einstellen – still. Braucht es jetzt eine zusätzliche Rechtfertigung dafür, dass Arbeiter die Arbeit gemeinsam niederlegen können? Eigentlich nicht. Die Begründung »Wer einen Arbeitsvertrag hat, ist kein Sklave« sollte ausreichen. Auch im Grundgesetz wird das Recht auf Streik ohne Vorbehalt garantiert. Trotzdem werden wir eine zusätzliche Rechtfertigung für die Wirkung, auf die es im Streik ankommt, vortragen. Auch deswegen, weil das Bundesverfassungsgericht einem vorbehaltslosen Grundrecht andere Grundrechte gegenüberstellt und dann die entgegenstehenden Positionen unter Berücksichtigung der Bedeutung und Tragweite des Grundrechts auf Streik zum Ausgleich bringen muss.(25) Alle wichtigen Unternehmensentscheidungen treffen entweder die Unternehmenseigner selbst oder deren Geschäftsführer oder Vorstände. Sie allein entscheiden über die Verwendung der Gewinne, die Investitionen, über Betriebsverlagerungen, Betriebseinschränkungen oder gar die Stilllegung eines ganzen Betriebes. Diese Entscheidungsrechte leiten die Unternehmenseigner aus dem Eigentum an dem Unternehmen her, ohne jemals zu fragen, wer diese Werte geschaffen hat, die die Rechtsordnung später zum Eigentum der Unternehmenseigner erklärt. Es werden Entscheidungen allein von den Unternehmenseignern getroffen, obwohl sie fundamentale Folgen für diejenigen haben, die diesen ganzen Betrieb tagtäglich in Gang halten. Das ist die strukturelle Unterlegenheit der Arbeitnehmer, von der auch das Bundesverfassungsgericht spricht. Diese Unterlegenheit können die abhängig Beschäftigten zumindest zeitweise nur mit Hilfe ihres Grundrechts auf Streik ausgleichen. Anders können sie sich nicht behaupten. Das Bundesarbeitsgericht sagt, ohne dieses Grundrecht auf Streik bliebe den Gewerkschaften nur »kollektives Betteln«.(26) Die Unternehmen würden ohne das Grundrecht auf Streik das »ob« von Verhandlungen und das »wie« des Verhandlungsergebnisses »diktieren«. Das ist die Rechtfertigung dafür, dass durch Streik Druck ausgeübt wird, indem »dem Arbeitgeber wirtschaftliche Schäden zufügt werden«.(27) Sie sollen ihn zum Einlenken bewegen. Nur das führt zu einer Verhandlungsmacht der abhängig Beschäftigten. Nur diese durch den Streik aufgebaute Verhandlungsmacht verhindert ein Diktat der bestreikten Unternehmen.

Genau wegen dieser Möglichkeit, durch den Streik Verhandlungsmacht aufzubauen, bekämpfen die Unternehmer das Recht auf Streik seit jeher. Die Methoden der Unternehmer zur Bekämpfung dieses Grundrechts sind zahlreich: So fordern sie immer wieder das Verbot des Grundrechts auf Streik zumindest für bestimmte Bereiche und unter Berufung auf das Gemeinwohl, wobei zur Durchsetzung zunächst an Geldzahlungen, Kündigungen usw. zu denken wäre. Wie wenig die Bundesregierung von dem Recht auf Streik hält, zeigt sie gerade in einem anderen Land, in Griechenland, wo die streikenden U-Bahnfahrer und Seeleute zwangsverpflichtet werden – auf der Grundlage eines Gesetzes aus Zeit der griechischen Militärdiktatur und mit Gewalt. Mit dem Beharren auf Sparprogrammen und Lohnkürzungen ist die deutsche Bundesregierung für diese Politik direkt verantwortlich.

Auch andere Wege können zum Ziel führen. Es sei an die Initiative von 2002/2003 erinnert. Diese Initiative wollte das Streikrecht dadurch aushebeln, dass das Recht zur Änderung von Tarifverträgen auf die Betriebsräte verlagert werden sollte – auf die Betriebsräte, die kein Streikrecht haben, sondern einer gesetzlichen Friedenspflicht unterworfen sind. Die Unternehmer versuchen immer wieder Löhne und Gehälter mit Betriebsräten unter Verstoß gegen die Tarifsperre(28) des Betriebsverfassungsgesetzes zu regeln. Wieder ein anderer Weg besteht darin, einen Tarifvertrag zumindest zum Teil durch Gesetz wieder aufzuheben. So ließ das Bundesverfassungsgericht ein Gesetz zu, das den Unternehmen erlaubte, tarifliche Urlaubsansprüche mit bezahlten gesetzlichen Freistellungsansprüchen zur medizinischen Versorgung und Rehabilitation zu verrechnen: Auf fünf Tage Rehabilitation konnte der Unternehmer zwei Urlaubstage aus Tarifvertrag anrechnen, den tariflichen Urlaubsanspruch also um zwei Tage verkürzen.(29) Warum sollen die Gewerkschaften noch zum Streik aufrufen, wenn später durch Gesetz der erstreikte Tarifvertrag wieder zunichte gemacht werden kann?  Wieder ein anderer Weg, das Grundrecht auf Streik auszuhebeln, besteht darin, dem Streik jede Wirkung zu nehmen. Und das ist der Ansatz, um den es hier geht: Die Arbeit, die die Streikenden niedergelegt haben, lässt die Geschäftsführung des bestreikten Unternehmens von anderen Arbeitskräften weitermachen; z.B. über eine Leihfirma. Und wenn das nicht geht über den Abschluss von befristeten Arbeitsverträgen. Entscheidend ist nur, dass die Wirkung des Streiks konterkariert wird, dass die Arbeit trotz Streik weitergeht. Und die Gerichte machen mit: Wenn Streikposten verhindern, dass diese Arbeitnehmer in den Betrieb kommen, dann holt sich der Unternehmer beim Arbeitsgericht einen Titel und lässt im Wiederholungsfall ein Ordnungsgeld von bis zu 100.000 € festsetzen. Anstatt das Grundrecht auf Streik zu schützen, werden diejenigen geschützt, die dieses Grundrecht aushebeln.

3.

Dem muss ein Riegel vorgeschoben werden. Der Einsatz von Leiharbeitern oder von Arbeitskräften mit befristeten Arbeitsverträgen in bestreikten Betrieben ist nach internationalen Normen unzulässig(30) und in Frankreich verboten(31). Was in Frankreich verboten ist, sollte den Unternehmern in Deutschland nicht erlaubt sein. Zum Schutz des Grundrechts auf Streik müssen die Gesetze geändert werden. Es geht nicht anders. Wie sagte B. Brecht: Dass Du Dich wehren musst, wenn Du nicht untergehen willst, das wirst Du doch einsehen.

Ich wiederhole noch einmal die beiden politischen Forderungen und zwar als gesetzliche Vorschrift:
Zum Schutz des Grundrechts auf Streik ist der Einsatz von Leiharbeitnehmer in bestreikten Betrieben verboten.

Dieses Verbot ist als Ergänzung in das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz aufzunehmen.  Außerdem ist das Teilzeit- und Befristungsgesetz um folgende Vorschrift zu ergänzen:
Zum Schutz des Grundrechts auf Streik ist einem bestreikten Unternehmen der Abschluss von befristeten Arbeitsverträge zum Einsatz in einem bestreikten Betrieb verboten.

Um die Einhaltung dieser beiden Verbote zu sichern,(32) müssen dem Verbot im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz und dem Verbot im Teilzeit- und Befristungsgesetz folgende Sätze folgen:
Die Gewerkschaft, die zum Streik aufgerufen hat, ist berechtigt, zur Durchsetzung dieses Verbots beim Arbeitsgericht Unterlassungsanträge zu stellen und die Androhung und Festsetzung eines Ordnungsgeldes zu beantragen.

In § 36 Abs. 3 SGB III muss die Vorschrift zur Arbeitsvermittlung in bestreikte Betriebe geändert werden(33) und lauten:
Die Agentur für Arbeit darf nicht in einem durch einen Arbeitskampf unmittelbar betroffenen Bereich vermitteln.

Bis jetzt darf die Agentur für Arbeit in diesem Bereich »nur dann vermitteln, wenn der Arbeitssuchende und der Arbeitgeber dies trotz eines Hinweises auf den Arbeitskampf verlangen.«

Das alles soll der Bundestag beschließen. Unter Umständen ist auch eine Bundesratsinitiative sinnvoll.

Und schließlich fordern wir generell: Keine Personaleinstellungen während eines Streiks.

Die Mitbestimmungsrechte des Betriebsrates müssen auch während eines Streiks weiter gelten(34). Zur Verhinderung von Einstellungen während eines Streiks soll das Betriebsverfassungsgesetz in § 99 Abs. 2 ergänzt werden.

Der Betriebsrat kann die Zustimmung auch verweigern, wenn eine Einstellung während eines Streiks vorgenommen werden soll.

Die Arbeitsgerichte müssen ihre Rechtsprechung aufgeben, die die Mitbestimmungsrechte des Betriebsrates in einem bestreikten Betrieb einschränkt. Diese einschränkende Rechtsprechung schützt die Arbeitgeber, nicht aber das Grundrecht auf Streik und die Tarifautonomie. Zur Unterstützung einer Änderung in der Rechtsprechung ist der Gesetzgeber zu einer entsprechenden Klarstellung im Betriebsverfassungsgesetz aufgefordert. In Verbindung mit den vorgeschlagenen Verboten kann dann der Betriebsrat die Einstellung auch nach § 99 Abs. 2 Nr. 1 BetrVG verweigern, weil der Arbeitgeber mit der Einstellung gegen ein Gesetz, und zwar gegen das Verbot im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz bzw. gegen das Verbot im Teilzeit- und Befristungsgesetz verstößt.

Es ist möglich, dass das alles noch nicht reicht, insbesondere wenn man an den zunehmenden Missbrauch von Werkverträgen denkt. Aber ein Anfang wäre gemacht. Gerade weil die Zahl der Beschäftigten, die einer Tarifbindung unterliegen, in den letzten 15 Jahren erheblich abgenommen hat, müssen die eine Chance haben, die sich dem entgegenstemmen. Streikende müssen besser geschützt werden. Unsere Freiheit beginnt da, wo die Freiheit der Unternehmenseigner aufhört. Über 80% der Erwerbstätigen(35) in Deutschland haben einen Arbeitsvertrag. Wer einen Arbeitsvertrag hat, will weder Sklave sein noch betteln.

Anmerkungen

1) Michael Kittner, Arbeitskampf, München 2005, S. 231ff.
2) Michael Kittner, Arbeitskampf, München 2005, S. 212
3) Däubler, Arbeitskampfrecht, 3. Aufl., § 13 Rn. 32ff.
4) Däubler, Arbeitskampfrecht, 3. Aufl., § 13 Rn. 40ff.
5) Däubler, Arbeitskampfrecht, 3. Aufl., § 13 Rn. 47ff.
6) Däubler, Arbeitskampfrecht, 3. Aufl., § 13 Rn. 51

7
)  So wäre z.B. auch eine gewaltfreie aktive Blockade eines bestreikten Betriebes zu prüfen. Es sei in diesem Zusammenhang ausdrücklich verwiesen auf Donat/Kühling, nach denen »die Entscheidung des BAG zu Betriebsblockaden heute kritisch gelesen werden muss… Arbeitskampfmaßnahmen, die die Arbeitgeberseite
nicht stören oder behindern, sind zahnlos… Unter den heutigen Produktionsverhältnissen kann durch Streikmaßnahmen allein eine Kampfparität häufig nicht mehr hergestellt werden. Aktive Produktionsbehinderungen kompensieren diese strukturelle Schwäche der Arbeitnehmer in einer für den Arbeitgeber und möglicherweise betroffene Dritte (Zulieferer) zumutbaren Weise … Nach dem derzeitigen Stand von Rspr. und Lehre können allerdings Unterlassungs- und Schadenersatzforderungen nicht ausgeschlossen werden« (AuR 2009, 1-2/1, 5); also ein weites Betätigungsfeld für kalkulierten Rechtsbruch.
8) Peter Ellguth/Susanne Kohaut, Tarifbindung und betriebliche Interessenvertretung: Aktuelle Ergebnisse aus
dem IAG-Betriebspanel 2011, in: WSI-Mitteilungen 4/2012, 297-305, 300
9) Michael Kittner, Arbeitskampf, München 2005, S. 720

10) Streikarbeit liegt nach der Rechsprechung des BAG vor, »wenn von einem Arbeitnehmer Verrichtungen gefordert werden, die bisher von den Streikenden erledigt werden und die lediglich wegen des Streiks ihm, in dessen bisherigen Arbeitskreis sie an sich nicht fallen, übertragen werden.« (BAG v. 25.7.1957 – 1 AZR 194/56 – AP Nr. 3 zu § 615 BGB Betriebsrisiko, bestätigt durch BAG v. 10.9.1985 – 1 AZR 262/84 – DB 1985, 2354, 2355 re. Sp.; ebenso BGH v 191.1978 – II ZR 192/76 – AP Nr. 56 zu Art. 9 GG Arbeitskampf; vgl. Däubler/Däubler, Arbeitskampfrecht, 3. Aufl., § 32 Rn. 63
11) BAG 25.7.1957 – 1 AZR 194/56
12) »Der Leiharbeitnehmer ist nicht verpflichtet, bei einem Entleiher tätig zu sein, soweit dieser durch einen Arbeitskampf unmittelbar betroffen ist.« (§ 11 Abs. 5 Satz 1 AÜG)
13) Arbeitnehmerüberlassungsgesetz (AÜG)
14) Berg/Platow/Schoof/Unterhinninghofen, Tarifvertragsgesetz und Arbeitskampfrecht, 3. Aufl., Teil 3 Rn. 306
15) Die DGB-Tarifgemeinschaft hat mit den Leiharbeitsfirmen-Verbänden BZA und dem iGZ Leiharbeitstarifverträge abgeschlossen, in denen ausdrücklich untersagt ist, unabhängig von der Bereitschaft des einzelnen Leiharbeiters, die Arbeit zu verweigern (§ 17 Abs. 1 MTV BZA und Protokollnotiz 10. MTV iGZ). Über den Inhalt dieses Tarifvertrages im Übrigen soll hier nicht gesprochen werden.
16) Aus diesem Grund sollte vorsorglich das Verbot für Verleiher und Entleiher gelten. Zum »Arbeitskampf mit Auslandsbezug: Die Frage der anwendbaren Rechtsordnung«, vgl. Däubler/Däubler, Arbeitskampfrecht, 3. Aufl.,
§ 32
17) Vgl. Kittner, Arbeits- und Sozialordnung, 2012: Einleitung zum Entgeltfortzahlungsgesetz, Geschichtliche Entwicklung
18) Däubler/Ögüt, Arbeitskampfrecht, § 19 Rn. 71: »Nach der herrschenden Meinung bleibt es dem Arbeitgeber unbenommen, den für den Zeitraum der Arbeitskampfmaßnahme bestehenden Arbeitskräftebedarf durch Neueinstellungen zu regulieren …. Wird der Arbeitsvertrag ausdrücklich zum Zweck der Überbrückung der Zeiten der Suspendierung der Arbeitspflicht von streikenden Arbeitnehmern abgeschlossen, so geht die herrschende Meinung davon aus, dass es für den neueingestellten Arbeitnehmer im Rahmen seiner arbeitsvertraglichen Verpflichtungen keinen Raum mehr gebe für eine Verweigerung der Streikarbeit. Dies trotz der faktisch gleichen Wirkung der Neueinstellungen als Minderung des mit dem Streik beabsichtigten Druckaufbaus (ebenso wie beim Einsatz eines Drittunternehmens).«
19) »Problematisch ist, dass Rückwirkungen der Arbeitgeber-Kampfmittel auf das Streikrecht selten geprüft und Konsequenzen daraus gezogen werden. Das BAG tut dies aber bei wesentlich leichteren Beeinträchtigungen des Arbeitgebers bei wieder entdeckten oder weiterentwickelten Streikformen, wie z.B. dem Ende und Wiederbeginn des Streiks bei Feiertagen, Wellenstreiks oder streikbegleitenden Flashmob-Aktionen. Hier »weist« es die Arbeitgeber – z.T. ungefragt – auf die Möglichkeiten der Aussperrung… bzw. bei der Hausrechtsausübung hin bzw. entwickelt diese Rechtsinstitute weiter. Das sucht man beim gravierenden Fall einer beeinträchtigen Grundrechtsausübung vergebens. Wenn z.B. der Einsatz weniger Streikbrecher … in Verbindung mit automatischen Produktionsprozessen genügt, die normale Produktion weitgehend aufrecht zu erhalten und dem Streik die Effektivität zu nehmen …, dann muss auch geprüft werden, welche der überschießenden Arbeitgebermittel zurückgeführt können und müssen (z.B. Einsatz außerbetrieblicher Streikbrecher …) …«, Berg/Platow/Schoof/Unterhinninghofen, Tarifvertragsgesetz und Arbeitskampfrecht, 3. Aufl., Teil 3 Rn. 312 20 Grundrecht auf Streik als subjektives Recht; vgl. Däubler/Däubler, Arbeitskampfrecht, 3. Aufl., § 12 Rn. 31
21) Art. 9 Abs. 3 GG
22)  »Zwischen 1899 und 1914 ging ein Drittel der Arbeitnehmer ohne Einhaltung der Kündigungsfrist in den Ausstand. Das hing damit zusammen, dass § 122 GewO eine vierzehntägige Kündigungsfrist vorsah, die im Arbeitsvertrag noch weiter verkürzt werden konnte.« (Däubler, Arbeitskampfrecht, 3. Aufl., § 3 Rn. 2)
23) BAG 28.01.1955 GS 1/54; BAG 21.4.1971 GS 1/68
24) Nach herrschender Sicht ist dafür ein Streikaufruf unabdingbar. Nach meiner Meinung und der vieler anderer Juristen reicht auch eine spontan und nur vorübergehend gebildete Koalition von Arbeitnehmern, also ein nichtgewerkschaftliches vereintes Handeln einer Arbeitnehmergruppe. Es geht um die zu Unrecht so genannten »wilden« Streiks. Ebenso Däubler/Däubler, Arbeitskampfrecht, 3. Aufl., § 12 Rn 16ff., insbesondere Rn. 25, wo auf das europäische Recht Bezug genommen wird; Däubler spricht sich zu Recht dagegen aus, solchen »adhoc «-Koalitionen nur das Recht der gemeinsamen Änderungskündigung einzuräumen; vgl. auch Berg/Platow/Schoof/Unterhinninghofen, Tarifvertragsgesetz und Arbeitskampfrecht, 3. Aufl., Teil 3 Rn. 202
25) Vgl. BVerfG 3.04.2001 1 BvL 32/97; vgl. auch Donat/Kühling, AuR 1-2/2009, S. 5ff.
26) BAG 10.6.1980 DB 80, 1694
27) Donat/Kühling, AuR 1-2/ 2009, S. 5
28) § 77 Abs. 3 BetrVG
29) Vgl. BVerfG 3.04.2001 1 BvL 32/97
30) Die Einstellung von Arbeitnehmern zum Streikbrechereinsatz ist nach dem ILO-Sachverständigenausschuss
und nach dem ILO-Ausschuss für Vereinigungsfreiheit eine schwerwiegende Verletzung der Vereinigungsfreiheit; Däubler/Lörcher, Arbeitskampfrecht, 3. Aufl., § 10 Rn. 93ff.
31) Berg/Platow/Schoof/Unterhinningenhofen, Tarifvertragsgesetz und Arbeitskampfrecht. Kompaktkommentar, 3. Aufl. 2010, AKR 3. Teil Rn. 303ff., insbesondere Rn. 306 und dort Fn. 591
32) Es kommt darauf an,
 dass ein bestreiktes Unternehmen nicht unerkannt gegen die Verbote verstoßen kann,
 dass gegen Verstöße rasch vorgegangen werden kann und
 dass die Sanktionen bei Verstößen so schwer sind, dass das Verbot wirkt.
33) Berg/Platow/Schoof/Unterhinningenhofen, Tarifvertragsgesetz und Arbeitskampfrecht. Kompaktkommentar, 3. Aufl. 2010, AKR 3. Teil Rn. 305
34) Däubler/Dette, Arbeitskampfrecht, 3. Aufl., § 19 Rn. 132, 150
35) Zu den Erwerbstätigen gehören auch die Freischaffenden und Beamte, also alle, die arbeiten müssen, um zu leben.

Editorische Hinweise

Der Autor, Benedikt Hopmann, arbeitet als Rechtsanwalt in Berlin.

Aus Anlass des seit drei Monaten andauernden Streiks bei Neupack lud am 12. Februar 2013 der Ortsverein Hamburg des ver.di-Fachbereichs 08 zu einer Veranstaltung mit dem Thema »Unser Recht auf Streik steht doch nur auf dem Papier…«

Dort nahm RA Benedikt Hopmann zu dem Thema der Veranstaltung unter folgendem Gesichtspunkt Stellung: Bestreikte Unternehmen können einen Streik dadurch leer laufen lassen, dass sie die Streikenden sofort durch Leiharbeiter oder durch Arbeitskräfte mit befristeten Arbeitsverträgen ersetzen.

Wir veröffentlichen sein Referat hier in einer überarbeiteten Fassung ab.