Syrien: Zwischen Revolution und Konterrevolution

von Markus Halaby

05/11

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Die stetig wachsende Bewegung in Syrien vereinigt breite Bevölkerungsschichten in ihrem Streben nach demokratischen und sozialen Rechten.

In Libyen haben die imperialistische Intervention und Gaddafis verblasster Ruf als “Anti-Imperialist“ einige Linke überzeugt, das brutale Vorgehen des Regimes gegen die eigene Bevölkerung zu unterstützen. Auch gegenüber der Bewegung in Syrien zeigen viele vorgeblich Linke eine Reaktion der Gleichgültigkeit bis hin zur Opposition gegenüber einem Volkaufstand, der elementare, demokratische Rechte einfordert. Wie Teile der arabischen, nationalistisch geprägten Linke hängen sie lieber an der Illusion einer Allianz mit der bürgerlichen, vom Iran unterstützten Diktatur in Syrien - als einer vorgeblichen Bastion des ”Widerstandes” - anstatt die lebende, pulsierende Revolution in Syrien zu unterstützen.

Die Einschätzungen der Lage seitens der großen westlichen Medien sind nicht besser gewesen. Sie haben die religiösen Spaltungen im Land in den Mittelpunkt gestellt und diese übertrieben. Ihre Analysen erwecken den Eindruck, es handele sich um einen Kampf zwischen einer sunnitisch-muslimischen Mehrheit und der regierenden alawitischen Minderheit. Ob die westlichen Autoren das bewusst gemacht haben oder nicht, diese Berichte sind eine große Hilfeleistung für das Ba'ath Regime.

Wegen der Anstiftung von sektiererischen Konflikten mussten syrische Oppositionelle sogar die Nachtrichten Agentur Reuters scharf verurteilen, weil sie die Städte von Baniyas und Daraa als “Sunni-Gebiete“ benannte, nachdem das Regime TeilnehmerInnen eines Trauerzuges in den jeweiligen Orten erschießen ließ. Der englischsprachige Fernsehkanal von Al-Jazeera, dessen Korrespondenten es besser wissen sollten, hat Berichte gesendet, in denen die regierende Ba'ath-Partei als “fast ausschließlich“ alawitisch bezeichnet wird.

In Wahrheit haben die Proteste SyrerInnen aus allen religiösen Gruppen und Regionen des Landes zusammengebracht - einschließlich eines beträchtlichen Teils der AlawitInnen. Dennoch blieben die Proteste bis Ende April in den beiden größten Städten, Damaskus und Aleppo, wo das Regime eine passive Basis von Unterstützung besitzt, klein. Durch mehr oder weniger heftigen Zwang konnten SchülerInnen, StudentInnen und Staatsangestellten dazu gebracht werden, an Pro-Regime Kundgebungen teilzunehmen.

Ähnlich haben syrische Drusen, die in den von Israel besetzten Golanhöhen leben, Demonstrationen für das Regime abgehalten, auf die kleinere, pro-demokratische Demonstrationen gefolgt sind. Die Basis der Unterstützung für das Regime ist also nicht auf die Alawi-Minderheit beschränkt. Dies wäre unmöglich, denn es würde zu einem raschen Sturz des Regimes führen. 

Ausgangspunkt der Proteste 

Die ersten ernsthaften Proteste begannen in der Stadt Daraa, die im Süden in einem vernachlässigten Agrar-Gebiet an der Grenze zu Jordanien liegt. Die sofortige und erwartete Antwort des Regime war, die Schuld der verbannten sunnitisch-islamischen Muslim-Bruderschaft zu geben, die einst die größte oppositionelle Partei und der Hauptkonkurrent zur Ba'ath Partei war, bis sie nach einem gescheiterten Aufstand in Hamad 1982 zerschlagen wurde, wobei bis 40,000 Menschen ums Leben kamen.

Es gibt aber keine Hinweise auf eine organisierte Beteiligung der Muslim-Bruderschaft an den Protesten, die sich inzwischen auf alle syrische Provinzstädte ausgeweitet haben.

In den Städten Hasakah und Qamischli im Nordosten des Landes, nahe zu den Grenzen zur Türkei und zum Irak, hat das Regime in der Vergangenheit Spannungen zwischen Kurden und christliche arabische Minderheiten regelmäßig aufgeheizt. Massenproteste haben das Regime gezwungen, ein Gesetz aufzuheben, das 200.000 syrischen KurdInnen die formale Staatsbürgerschaft verweigerte. Das Gesetz wurde 1962 von der damaligen Regierung verabschiedet, aber von dem Ba'ath-Regime beibehalten. Dennoch haben Christen zusammen mit KurdInnen an den Protesten teilgenommen und riefen Parolen wie “Kein Kurde, Kein Araber, die Syrer sind ein Volk“ oder “Wir grüßen die Märtyrer von Daraa“. 

Verzweifelte reaktionäre Verleumdungen 

In der großen Hafenstadt Latakia im Nordwesten, wo sich die Bevölkerung aus SunnitInnen, AlawitInnen und ChristInnen zusammensetzt, hat das Regime die AlawitInnen aus den umlegenden Dörfern aufgehetzt, die DemonstrantInnen in der Stadt anzugreifen, indem  Oppositionelle als sunnitisch-sektiererische Islamisten diffamiert wurden, die auf ein Massaker an den AlawitIInnen aus gewesen sein sollten.

Um dieses hinterhältige Ziel zu erreichen, hat das Regime sogar PalästinenserInnen aus dem nahe liegenden Flüchtlingslager beschuldigt, Mitglieder von “bewaffneten Gangs“ zu sein, die durch die Städte ziehen, um religiöse Spannungen anzuheizen.

Dabei waren und sind unter den regierungsfeindlichen DemonstrantInnen AlawitInnen, die sowohl ausdrücklich anti-sektiererische als auch pro-demokratische Forderungen in den Mittelpunkt gestellt haben.

Tatsächlich spielen sektiererische, religiöse Spaltungen eine Rolle in der syrischen Politik, aber in einer anderen Art, als in der sie normalerweise beschrieben werden.

Ähnlich Titos Jugoslawien, wo offene Erscheinungen von “Nationalismus“ (v.a. der benachteiligten Nationalitäten) unterdrückt wurden, hat das Ba'ath Regime seinen Gegnern “sektiererische und religiöse Verhetzung“ regelmäßig zur Last geworfen, egal welche religiöse oder ideologische Zugehörigkeit sie hatten. Dies schloss in der Vergangenheit Michel Kilo (ein christlich-liberaler Journalist aus Latakia) und Riyad al-Turk (ein kurdischer “Sunni-Muslime“ aus der Stadt Homs und ehemaliger Chef des verbotenen Anti-Regime Flügels der Syrischen Kommunistischen Partei) ebenso ein wie AktivistInnen der Muslimbruderschaft.

Dadurch ist das Regime in der Lage, die echten Sorgen, die unter allen SyrerInnen existieren, zu seinem Nutzen auszuspielen. Drei Viertel der syrischen Bevölkerung sind Sunni-Muslimen, davon sind ein Siebtel KurdInnen, während das restliche Viertel aus ChristInnen und heterodoxen muslimischen Minderheiten besteht: AlawitInnen, Drusen und IsmailitInnen. 

Koloniale Wurzeln 

Während der Kolonialzeit, als Syrien und Libanon einem französischen Mandat unterworfen wurden, hat die französische Kolonialbehörde versucht, das Land zu beherrschen, indem sie die Gebiete nach religiösen Gesichtspunkten teilte. So wurde ein Drusen-Staat im Süden um Suwaida geschaffen, ein Alawiten-Staat um Latakia im Nordwesten, und Damaskus und Aleppo wurde durch zwei Gebiete von einander getrennt, um ihre Rivalität anzuspornen.

Dieses Experiment erwies sich landesweit als unpopulär und die Franzosen waren gezwungen, es aufzugeben, nachdem Proteste für die syrische Einheit und Unabhängigkeit ausgebrochen waren. Das einzige überlebende Resultat dieses Experiment war Libanon.

Dessen Schaffung als ein Staat “für“ die christliche Maroniten-Minderheit führte zu Jahrzehnten politischer Lähmung, unterbrochen durch Periode von Bürgerkriegen. Das Schicksal des Libanon und die Existenz eines zionistischen “jüdischen Staates“ im Süden wirken als eine starke Warnung vor den Folgen des religiösen Sektierertums.

Außerdem bestand die Oligarchie, die Syriens Politik vor- und nach der Unabhängigkeit, und vor dem Ba'ath Regime beherrschte, mehrheitlich aus einer sunnitisch-muslimischen Grundbesitzerklasse sowie einer Händlerklasse, die einen Teil der christliche Minderheiten umfasste.

Auf der anderen Seite waren die Minderheiten der Alawiten und Drusen unter Syriens Bauernschaft unverhältnismäßig stark repräsentiert, während die aufsteigende Mittelschicht aus Lehrern, Ärzten, Ingenieuren und anderen akademischen Berufen zu überdurchschnittlich großen Teilen (aber wiederum nicht hauptsächlich oder ausschließlich) aus den ärmeren Christen bestand. 

Lügen 

Religiöse Formen des Angriffs - besonders gegen die Drusen und Alawiten - waren immer das Handwerkszeug der syrischen Oligarchie gegen radikaler werdende Forderungen nach Landreform, ArbeiterInnenrechten und Bildung.

Die Ablehnung religiösen Sektierertums hat in Syrien deshalb sowohl ein Klassenelement als auch einen nationalen Hintergrund. Es verkörpert sowohl die Angst der mehrheitlich sunnitischen “Community“ vor einer nationalen Fragmentierung, als auch den Wunsch der syrischen Minderheit nach der Sicherung ihrer sozialen Errungenschaften seit der Unabhängigkeit. Das Problem für das Ba'ath Regime liegt darin, dass seine Fähigkeit, sich als einziger Verteidiger der Interessen der Minderheiten und der Mehrheit zu präsentieren, immer mehr schwindet.

Die Alawiten, einst eine formell marginalisierte Gemeinde mit Wurzeln in der armen Bauernschaft, waren einer der großen Nutznießer der Landreformen, die von dem Ba'ath Regime eingeführt wurden - nicht als eine sektiererische Gruppe, sondern als eine Klasse.

Dieses geschah hauptsächlich während einer “links orientieren“ Phase der Ba'ath Herrschaft unter Salah Jadid (selber ein Alawit) von 1966 bis zum seinem Sturz durch Hafez al Assad (auch ein Alawit) durch ein Coup der rechts orientierten Fraktion der Ba'ath Partei 1970.

Der Militärdienst bot nunmehr eine der wenigen Möglichkeiten für einen sozialen Aufstieg. Dabei waren einzelne Alawiten gut positioniert, um so die syrische Politik zu prägen.

Es sollte deshalb nicht überraschen, dass Alawiten unter den Ba'athisten sehr präsent, sogar “überrepräsentiert“ waren.  All die syrischen Minderheiten sind in allen syrischen „linken“ Parteien “überrepräsentiert“ gewesen - bei den Kommunisten, den Ba'athisten oder bei der Syrischen Nationalen Sozialistischen Partei. 

Ursachen des Niedergangs 

Das wahre Problem war nicht eine “Überrepräsentation“ von Alawiten, sondern die Tatsache, dass der Charakter des Regimes als Militärdiktatur unausweichlich zu der Bildung und Ausweitung von Cliquen, Korruption und Vetternwirtschaft geführt hat. Dies wurde in den siebziger Jahren von Hafez al-Assad gefestigt, als er versuchte, dem vorher verfeindeten sunnitischen-muslimischen Bürgertum eine Brücke zu bauen, indem er eine “Infitah“ (“Öffnung“) für privates Kapital erlaubte, während er gleichzeitig den massiven Staats- und Militärsektor durch eine Allianz mit der Sowjetunion behielt.

Parallel zu diesen Maßnahmen hat er auch die weiter Ausdehnung von Korruption und Vetterwirtschaft begünstigt als eine Form von sozialer Kontrolle. Dadurch konnte er den niedrig- und mittelrangigen Figuren erlauben, kleine, semi-legale Imperien aufzubauen - im Austausch für ihre Loyalität. So hatte er immer die nötige und passende Munition für den Fall, dass er sie gegeneinander ausspielen müsste.

Dies konnte aber nicht ohne Konsequenzen für die interkommunalen Beziehungen bleiben. Der Vorwurf, das Regime vertrete eine sektiererische alawitische Herrschaft, meist behauptet von der Muslimbruderschaft, drückt hauptsächlich das Ressentiment seitens des konservativen Kleinbürgertums aus, weil diese Klasse gezwungen wurde, die Quellen der Bestechung, die einst ihr alleiniges Eigentum waren, mit anderen zu teilen. Es verkörpert außerdem auch das selbe Ressentiment seitens des Bürgertums gegenüber der Tatsache, dass nun „pöbelhafte“ Emporkömmlinge in Führungspositionen des Militärs saßen. Besonders die Drusen haben weniger als andere von dieser “Demokratisierung“ der offiziellen Korruption profitiert.

Der Zusammenbruch der Sowjetunion führte zu einer Periode der Ungewissheit, die Syrien gezwungen hat, 1991 einen  US-geführten Krieg gegen den Irak zu unterstützen, um die Isolierung des Landes zu vermeiden. Gleichzeitig versucht Syrien seine Rolle im Libanon nach dem Bürgerkrieg, die Unterstützung von Hisbollah sowie die Opposition zu dem israelisch-palästinensischen Oslo- Abkommen zweifach zu nutzen: einerseits erlaubt es dem Assad Regime, seinen “anti-imperialistischen“ Ruf in der arabischen Welt beizubehalten, andererseits kann es sich aufgrund seines Einflusses im Libanon und Palästina eben jenen Imperialisten auch als „Vermittler“ anbieten.

Auf wirtschaftlichem Gebiet kam es nach dem Ende der sowjetischen Unterstützung zu einer klaren Rechtsentwicklung. Privatisierungen samt der sie begleitenden Korruption wurden mehr und mehr forciert. Nach dem Todes von Hafez al-Assad 2000 und der darauf folgenden Machtübernahme seines Sohnes Baschar beschleunigte sich dieser Kurs.

Mit seiner Repression, seiner Bewegung in Richtung Neo-Liberalismus, dem Scheitern der Befreiung der Golanhöhen (von Israel seit 1967 besetzt), der weit verbreiteten Korruption im Lande und gelegentlichen freundlichen Annäherungsversuchen bei den Imperialisten gleicht das syrische Ba'ath Regime mehr und mehr einer üblichen Diktatur im Nahen Osten. 

Nur noch eine übliche Diktatur 

Während es weiterhin versucht, auf dem globalen Bühne mit seiner anti-israelitischen Rhetorik und  seiner taktisch motivierten Unterstützung des libanesischen und palästinensischen Widerstands und seiner Allianz mit einer aufsteigenden iranische Regionalmacht zu punkten, sind die Ursachen des syrischen Aufstands gegen das Regime überhaupt nicht von denselben Ursachen anderswo zu unterscheiden: die totale Abwesenheit von Meinungsfreiheit, die Entfremdung und die perspektivenlosen Aussichten der jüngeren Generation, eine Vertiefung der sozialen Ungleichheit, die durch die globale Wirtschaftskrise verschärft wurde.

Revolutionäre KommunistInnen sollten sich nicht für einen Moment von der Idee beirren lassen, dass angeblich “anti-imperialistische“ Regime Ausnahmen zu den Revolutionen, die die arabische Welt durchfegen, repräsentieren. Sie sollen auch dem Ba'ath Regime nicht erlauben, seine Legitimität wiederherzustellen, in dem es seine eigenen Schwierigkeiten als eine Folge religiöser Spaltungen erklärt.

Doch dazu braucht die Bewegung selbst eine klare Perspektive und Führung - eine Perspektive, die die gerechtfertigten demokratischen Forderungen und den Kampf zum Sturz des Regimes mit dem Kampf für die sozialen Forderungen der ArbeiterInnenklasse und Bauernschaft verbindet. Dazu müssen die DemonstrantInnen ihre eigenen Kampforgane - Räte und Milizen zur Verteidigung gegen Provokationen und Repression bilden. Sie müssen versuchen, die einfachen Soldaten an ihre Seite zu ziehen und zur Bildung nicht nur von ArbeiterInnen- und Bauernräten, sondern auch von Soldatenräten aufrufen.

Auf solche Organe müssen sich die proletarischen und bäuerlichen Massen stützen, wollen sie nicht schutzlos der Repression ausgeliefert sein oder zum Spielball anderer, klassenfremder Kräfte werden, so dass der Kampf gegen das verhasste Regime im revolutionären Sturz und in der Schaffung einer Arbeiter- und Bauernregierung mündet, die den Weg ebnet zur sozialistischen Umgestaltung des Landes wie zu einer Sozialistischen Föderation im Nahen Osten..

Editorische Anmerkungen

Wir erhielten den Artikel durch

ARBEITERMACHT-INFOMAIL
Nummer 551
28. April 2011


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