Das Verhältnis von Kontinuität und Bruch zwischen Jakobinismus, Sozialdemokratismus, Leninismus und Marxismus-Leninismus

von Ulf Wolter

05/11

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Zeigte sich in der Periode der aufsteigenden Klassenkampfentwicklung, daß Lenin ständig gewisse Modifikationen seiner theoretischen und vor allem politischen Positionen vornehmen konnte, die einen teilweisen Bruch mit seinen sozialdemokratischen Traditionen bedeuteten, so ist Lenin dennoch ideologisches Produkt der bornierten gesellschaftlichen Verhältnisse Rußlands und der aus ihnen erwachsenden Beschränkungen für die Freisetzung sozialistischer Formen durch die Klassenkämpfe. In dem Maße, wie sich das Kräfteverhältnis zwischen den Klassen im nationalen und internationalen Maßstab veränderte, mußten auch der ideologischen Weiterentwicklung Grenzen gesetzt werden und es mußten in die Formulierung seiner Konzeption der sozialistischen Transformation Elemente Eingang finden, die noch eindeutig in der Tradition sowohl der jakobinistischen, wie der sozialdemokratischen Grundlagen seiner Anschauungen stehen und die die Basis für das Entstehen der Ideologie des Marxismus-Leninismus abgeben.

Jakobinismus, Sozialdemokratismus und Leninismus

Trotzdem können der Revisionismus der II. Internationale und der Leninismus nicht unmittelbar gleichgesetzt werden. Lenin macht sich zwar die theoretischen Fundamente der revisionistischen Marxismusinterpretation völlig zu eigen und kann sie trotz vielfältiger Modifikationen niemals völlig aufheben und überwinden, ist aber im Gegensatz zur Mehrheit der II. Internationale und der Menschewiki niemals bereit, den Rahmen dieser Ideologie und die sich aus ihren klassenpolitischen -Grundlagen ergebenden Beschränkungen für sein Verhältnis zur revolutionären Klassenbewegung verbindlich zu machen. Lenin versucht im Gegenteil, sich theoretisch und politisch immer an den revolutionären Tendenzen der Kämpfe der Arbeiter und Bauern zu orientieren, auch wenn diese den Rahmen seiner eigenen Theorie sprengen. Sein Anknüpfen an die Traditionen des russischen Jakobinismus, dessen Primat der Politik, erleichterte ihm diese Position. Er stellt sich also nicht aufgrund seiner ideologischen Auffassungen der Klassenbewegung entgegen, wie es zeitweilig sogar die Mehrheit der Bolschewiki tat, sondern ist stattdessen ständig um eine Revision seiner Konzeptionen bemüht und gelangt so nachträglich immer zu einer ungefähren Anpassung an die Tendenzen der Klassenbewegung, obwohl es ihm letztlich nie vollständig gelingt, sich von den revisionistischen Grundlagen seiner Theorie zu befreien, so daß er gewissermaßen ein revolutionärer Revisionist bleibt.

War die, wenn auch aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Bedingungen resultierende, objektive Beschränkung der Klassenkämpfe der Arbeiter in den Metropolen um die Jahrhundertwende und im unterentwickelten Rußland die materielle Voraussetzung sowohl für die Ausbreitung der sozialdemokratischen Ideologie in der Arbeiterklasse der entwickelten Länder, wie auch für deren Übernahme durch eine Fraktion der russischen Intelligentsia, so ergeben sich die Unterschiede zwischen Sozialdemokratismus und Leninismus ebenfalls aus diesen unterschiedlichen sozialen Bedingungen. Im Gegensatz zu den Metropolen stagnierte die soziale Entwicklung Rußlands weitgehend. Die Verbindung der autokratischen Despotie mit der kapitalistischen Ausbeutung, die Abhängigkeit vom Kapital der Ententeländer, die Rußland nicht nur ökonomisch ausbeuteten, sondern auch zur Eröffnung einer Ostfront gegen Deutschland im Weltkrieg zwangen und damit die morschen Grundlagen des Zarismus erschütterten, führten zu einer Radikalisierung der Kämpfe der Arbeiter und Bauern, die sich gleichzeitig gegen Autokratie und Kapitalismus wenden mußten, da nur durch deren Überwindung die Lösung existentieller gesellschaftlicher Aufgaben in Rußland kurzfristig möglich war, wie die Beendigung der Kriegsbeteiligung, die Agrarreform, die Aufhebung der ökonomischen Abhängigkeit vom Auslandskapital und die Demokratisierung der Gesellschaft. In dem Maße, wie sich die Klassenkämpfe durch diese gesellschaftlichen Bedingungen und den weitgehenden Zerfall der Autokratie radikalisieren konnten und begannen, nicht nur über den Rahmen der Selbstherrschaft, sondern auch über den der kapitalistischen Produktionsweise hinauszugehen, mußten sie auch den Rahmen der sozialdemokratischen Integrationsideologie und ihrer Fixierung auf die langfristige Erreichung gesellschaftlichen Fortschritts durch Reformen im Rahmen der bürgerlichen Gesellschaft, wie auch den des substitutionalistschen Jakobinismus, tendenziell sprengen. Das eröffnete Lenin die Möglichkeit, durch seinen Bezug auf diese Bewegung ebenfalls über den klassischen Rahmen des Sozialdemokratismus hinauszugehen und 1917 für die Machtübernahme der Sowjets einzutreten. Die revolutionären Organisationen in Rußland hatten nicht nur keinen direkten Anteil an der Februarrevolution, die die Autokratie stürzte und die Doppelherrschaft etablierte, sondern richteten sich zunächst, einschließlich der Bolschewiki, entsprechend ihrer Etappentheorie, direkt gegen die sozialistischen Tendenzen der Revolution und riefen zur Unterstützung der bürgerlichen Parteien auf. Aber im Gegensatz zu den sozialdemokratischen Massenparteien in Westeuropa hatten die russischen Organisationen keinen dominierenden Einfluß auf die Mehrheit der Arbeiter und Bauern, so daß sich die Dynamik der Klassenkämpfe gegen den jetzt zutage tretenden Konservatismus dieser Organisationen durchsetzen konnte. Dieser Unterschied gibt die materialistische Begründung für das unterschiedliche Verhalten der deutschen und russischen Sozialdemokratie. Es ist Lenins historisches Verdienst, sich gegen die Mehrheit der Bolschewiki durchgesetzt zu haben und mit seinen Aprilthesen, wenn auch noch in sich widersprüchlich, die Umorientierung der Partei vollzogen zu haben und für die Machtübernahme der Sowjets eingetreten zu sein.

Hierin liegt der deutliche Bruch zu den Traditionen des Sozialdemokratismus, die Möglichkeit der positiven Aufhebung der Antinomien der Sozialdemokratie und des Wiederanknüpfens an den revolutionären Marxismus. Bedingung dafür wäre, daß die Arbeiterklasse im Zuge der sozialistischen Transformation der Gesellschaft die kapitalistischen Formen der Vergesellschaftung der Arbeit sprengt und die sozialistischen Formen freisetzt. Dies war aber in Rußland durch die gegebene Beschränkung der gesellschaftlichen Grundlagen nur partiell möglich. Die dominierenden vorkapitalistischen Produktionsformen auf dem Land, die Deklassierung des Proletariats durch Welt- und Bürgerkrieg, sowie die weitgehende Zerstörung der Industrie boten keine genügende gesellschaftliche Grundlage für eine unmittelbare sozialistische Transformation der Gesellschaft, da durch die Niederlage der Arbeiterklasse in den Metropolen die russische Revolution isoliert und auf sich selbst gestellt blieb. Unter diesen gesellschaftlichen Bedingungen konnte Lenin in seiner Konzeption der Übergangsgesellschaft nicht den nächsten Schritt zur Aufhebung der Muttermale sowohl des Jakobinismus wie des Sozialdemokratismus vornehmen, sondern knüpfte hier gerade wieder deutlich an diese Ideologien an, wenn er für eine Gleichsetzung von Partei und Klasse und für die Übernahme kapitalistischer Prinzipien der Organisation der Arbeit beim Aufbau des Sozialismus plädierte. Insofern steht der Leninismus noch in der Kontinuität der sozialdemokratischen Traditionen. Die revolutionären Impulse des Leninismus stehen durch seine Orientierung an den Klassenkämpfen im lebendigen und ständig der selbstkritischen Reflexion ausgesetzten Widerspruch zu dem teilweisen Konservatismus seiner theoretischen Grundlagen, der ansatzweise, aber nicht vollständig überwunden wurde.

Der Marxismus-Leninismus als die falsche Aufhebung der Widersprüchlichkeit des Leninismus

Der Marxismus-Leninismus, wie er als Doktrin in der Sowjetunion nach dem Bürgerkrieg entstand, knüpft an die nicht überwundene Widersprüchlichkeit des Leninismus an, aber in einer Form, die diese Widersprüchlichkeit nicht nur verschleiert, sondern sie umgekehrt gerade zu seiner ideologischen Grundlage erhebt. Die Widersprüchlichkeit der russischen Übergangsgesellschaft, d. h. das gleichzeitige Bestehen von einem im Verlauf des Bürgerkriegs weitgehend verstaatlichten Industriesektor neben privatwirtschaftlichen und kapitalistischen Sektoren vor allem im Bereich der Landwirtschaft und des durch die NEP wieder privatisierten Handels, fand in dieser Doktrin ihren ideologischen Ausdruck. Zwar konnte im Verlauf des Bürgerkriegs die Gefahr der Restauration der alten Verhältnisse gebannt werden, doch führte er schließlich zur Auflösung oder Deformierung der Ansätze der entstehenden sozialistischen Demokratie in Staat und Gesellschaft.

Die Bolschewiki fanden sich als herrschende Partei in der Situation, anstelle des Proletariats proletarische Politik in einer nicht-proletarischen Gesellschaft machen zu müssen. Ihre Besonderung von der Klasse war nicht nur Produkt des Rückgangs der proletarischen Klassenbewegung sowie ihrer theoretischen Traditionen, sondern mußte umgekehrt auch eine soziale Eigendynamik und damit Rückwirkungen auf die Theorie hervorbringen. Die durch die materiellen und politischen Bedingungen entstandene Bürokratie in Partei und Staatsapparat entwickelte sich zu einer besonderen sozialen Schicht, die sich aufgrund ihrer politisch privilegierten Stellung in der Gesellschaft auch materielle Privilegien sichern konnte. Die soziale Existenz dieser Gesellschaftsschicht basiert unmittelbar auf den Widersprüchen der Ubergangsgesellschaft zwischen Kapitalismus und Sozialismus. Sie ist existentiell sowohl an den verstaatlichten Charakter der Industrie und damit an die nichtkapitalistische Produktionsweise gebunden, wie andererseits an die politische Expropriation des Proletariats, an dessen Stelle sie die Funktionen der Leitung und Planung der Produktion ausübt. Sie gewinnt ein direktes materielles Interesse am Erhalt dieses Status quo und muß sich von daher sowohl den Tendenzen einer vollständigen Restauration des Kapitalismus, wie auch den Formen der sozialistischen Demokratie und der Selbstverwaltung der Gesellschaft durch die Arbeiterräte, d. h. der Entwicklung zum Sozialismus widersetzen und nimmt ten-denziell despotische Züge an. Da der Status quo in der Sowjetunion wesentlich abhängig vom Prozeß der Weltrevolution ist, erklärt sich auch die konservative Funktion der Bürokratie in Bezug auf die Weltrevolution, sobald Tendenzen sichtbar werden, über den Rahmen des internationalen Status quo hinauszugehen. Dieser Doppelcharakter der Bürokratie verdeutlicht, weshalb ihre Ideologie unmittelbar an den Leninismus anknüpfen konnte. Denn dessen Widersprüchlichkeit in bezug auf die materialistische Bestimmung der Emanzipation der Arbeiterklasse - einerseits die proletarische Revolution zu befürworten, andererseits die kapitalistischen Formen der Produktion und den prinzipiellen Führungsanspruch der Partei gegenüber der Arbeiterklasse auch beim Aufbau des Sozialismus beizubehalten — boten die ideelle Grundlage dafür, daß der Leninismus zur Rechtfertigungsideologie der Bürokratie werden konnte.

Insofern besteht eine vollständige ideologische Kontinuität zum Leninismus und damit auch zu den in ihm noch nicht überwundenen jakobinistischen und sozialdemokratischen Relikten. Der gravierende Unterschied zu den Positionen Lenins besteht im realpolitischen Verhalten gegenüber den Interessen, Zielen und Kämpfen der Arbeiterklasse. Während sich Lenin immer auf die revolutionären Tendenzen der Kämpfe zu beziehen suchte, ist es gerade das Kennzeichen des Marxismus-Leninismus, daß diese Doktrin zur Rechtfertigung der politischen und materiellen Privilegien der stalinistischen Bürokratie dienen soll und damit zwangsläufig den Emanzipationsinteressen und -ansätzen der Arbeiterklasse beim Aufbau des Sozialismus direkt entgegengesetzt ist. Ist der Leninismus durch den lebendigen Widerspruch zwischen revolutionärem Anspruch und teilweisem Konservatismus seiner theoretischen Grundlagen gekennzeichnet, so stellt der Marxismus-Leninismus die Verknöcherung dieses Widerspruchs dar und bedeutet deshalb einen Rückschritt gegenüber den Positionen Lenins. Der Jakobinismus ist das ideologische Produkt unterentwickelter Produktions- und Klassenverhältnisse, in denen eine Minderheit im Namen des Volkes sprechen muß. Die Ideologie der Sozialdemokratie findet ihre gesellschaftlichen Ursachen in einer Etappe der Entwicklung der Arbeiterbewegung, die wesentlich durch die Beschränkung ihrer Kampfziele auf die Herstellung der bürgerlichen Demokratie und auf die Verbesserung der Lage der Arbeiterklasse in der bürgerlichen Gesellschaft gekennzeichnet ist. Der Leninismus bedeutet den beginnenden Bruch mit dieser revisionistischen Ideologie. Er ist Produkt einer Phase der Radikalisierung der Klassenkämpfe, die den Rahmen der bürgerlichen Produktionsverhältnisse und damit der sozialdemokratischen Ideologie zu sprengen beginnen, ohne aber wegen der beschränkten materiellen Verhältnisse zur vollständigen Freisetzung der sozialistischen Formen gelangen zu können. Der Marxismus-Leninismus dagegen ist das ideologische Produkt einer Periode des Niedergangs der Klassenkämpfe im internationalen Maßstab nach dem ersten Teilerfolg. Er stellt die Perpetuierung der nur teilweisen Überwindung des Sozialdemokratismus dar und reproduziert wesentliche Bestandteile dieser Ideologie, aber auf einer historisch höheren Ebene. Ist der Sozialdemokratismus eine Integrationsideologie für die bürgerliche Gesellschaft, so ist der Marxismus-Leninismus dessen Pendant für die Uber-gangsgesellschaft zwischen Kapitalismus und Sozialismus.

Editorische Hinweise

Der Text ist das zusammenfassende Schlußkapitel der Untersuchung von
Ulf Wolter über die Grundlagen des Stalinismus
Westberlin 1975, S. 122ff

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