Zeigte sich in der Periode der aufsteigenden
Klassenkampfentwicklung, daß Lenin ständig gewisse
Modifikationen seiner theoretischen und vor allem politischen
Positionen vornehmen konnte, die einen teilweisen Bruch mit
seinen sozialdemokratischen Traditionen bedeuteten, so ist Lenin
dennoch ideologisches Produkt der bornierten gesellschaftlichen
Verhältnisse Rußlands und der aus ihnen erwachsenden
Beschränkungen für die Freisetzung sozialistischer Formen durch
die Klassenkämpfe. In dem Maße, wie sich das Kräfteverhältnis
zwischen den Klassen im nationalen und internationalen Maßstab
veränderte, mußten auch der ideologischen Weiterentwicklung
Grenzen gesetzt werden und es mußten in die Formulierung seiner
Konzeption der sozialistischen Transformation Elemente Eingang
finden, die noch eindeutig in der Tradition sowohl der
jakobinistischen, wie der sozialdemokratischen Grundlagen seiner
Anschauungen stehen und die die Basis für das Entstehen der
Ideologie des Marxismus-Leninismus abgeben.
Jakobinismus, Sozialdemokratismus
und Leninismus
Trotzdem können der Revisionismus der II. Internationale und
der Leninismus nicht unmittelbar gleichgesetzt werden. Lenin
macht sich zwar die theoretischen Fundamente der
revisionistischen Marxismusinterpretation völlig zu eigen und
kann sie trotz vielfältiger Modifikationen niemals völlig
aufheben und überwinden, ist aber im Gegensatz zur Mehrheit der
II. Internationale und der Menschewiki niemals bereit, den
Rahmen dieser Ideologie und die sich aus ihren
klassenpolitischen -Grundlagen ergebenden Beschränkungen für
sein Verhältnis zur revolutionären Klassenbewegung verbindlich
zu machen. Lenin versucht im Gegenteil, sich theoretisch und
politisch immer an den revolutionären Tendenzen der Kämpfe der
Arbeiter und Bauern zu orientieren, auch wenn diese den Rahmen
seiner eigenen Theorie sprengen. Sein Anknüpfen an die
Traditionen des russischen Jakobinismus, dessen Primat der
Politik, erleichterte ihm diese Position. Er stellt sich also
nicht aufgrund seiner ideologischen Auffassungen der
Klassenbewegung entgegen, wie es zeitweilig sogar die Mehrheit
der Bolschewiki tat, sondern ist stattdessen ständig um eine
Revision seiner Konzeptionen bemüht und gelangt so nachträglich
immer zu einer ungefähren Anpassung an die Tendenzen der
Klassenbewegung, obwohl es ihm letztlich nie vollständig
gelingt, sich von den revisionistischen Grundlagen seiner
Theorie zu befreien, so daß er gewissermaßen ein revolutionärer
Revisionist bleibt.
War die, wenn auch aus unterschiedlichen gesellschaftlichen
Bedingungen resultierende, objektive Beschränkung der
Klassenkämpfe der Arbeiter in den Metropolen um die
Jahrhundertwende und im unterentwickelten Rußland die materielle
Voraussetzung sowohl für die Ausbreitung der
sozialdemokratischen Ideologie in der Arbeiterklasse der
entwickelten Länder, wie auch für deren Übernahme durch eine
Fraktion der russischen Intelligentsia, so ergeben sich die
Unterschiede zwischen Sozialdemokratismus und Leninismus
ebenfalls aus diesen unterschiedlichen sozialen Bedingungen. Im
Gegensatz zu den Metropolen stagnierte die soziale Entwicklung
Rußlands weitgehend. Die Verbindung der autokratischen Despotie
mit der kapitalistischen Ausbeutung, die Abhängigkeit vom
Kapital der Ententeländer, die Rußland nicht nur ökonomisch
ausbeuteten, sondern auch zur Eröffnung einer Ostfront gegen
Deutschland im Weltkrieg zwangen und damit die morschen
Grundlagen des Zarismus erschütterten, führten zu einer
Radikalisierung der Kämpfe der Arbeiter und Bauern, die sich
gleichzeitig gegen Autokratie und Kapitalismus wenden mußten, da
nur durch deren Überwindung die Lösung existentieller
gesellschaftlicher Aufgaben in Rußland kurzfristig möglich war,
wie die Beendigung der Kriegsbeteiligung, die Agrarreform, die
Aufhebung der ökonomischen Abhängigkeit vom Auslandskapital und
die Demokratisierung der Gesellschaft. In dem Maße, wie sich die
Klassenkämpfe durch diese gesellschaftlichen Bedingungen und den
weitgehenden Zerfall der Autokratie radikalisieren konnten und
begannen, nicht nur über den Rahmen der Selbstherrschaft,
sondern auch über den der kapitalistischen Produktionsweise
hinauszugehen, mußten sie auch den Rahmen der
sozialdemokratischen Integrationsideologie und ihrer Fixierung
auf die langfristige Erreichung gesellschaftlichen Fortschritts
durch Reformen im Rahmen der bürgerlichen Gesellschaft, wie auch
den des substitutionalistschen
Jakobinismus, tendenziell sprengen. Das eröffnete Lenin die
Möglichkeit, durch seinen Bezug auf diese Bewegung ebenfalls
über den klassischen Rahmen des Sozialdemokratismus
hinauszugehen und 1917 für die Machtübernahme der Sowjets
einzutreten. Die revolutionären Organisationen in Rußland hatten
nicht nur keinen direkten Anteil an der Februarrevolution, die
die Autokratie stürzte und die Doppelherrschaft etablierte,
sondern richteten sich zunächst, einschließlich der Bolschewiki,
entsprechend ihrer Etappentheorie, direkt
gegen die sozialistischen Tendenzen der Revolution und riefen
zur Unterstützung der bürgerlichen Parteien auf. Aber im
Gegensatz zu den sozialdemokratischen Massenparteien in
Westeuropa hatten die russischen Organisationen keinen
dominierenden Einfluß auf die Mehrheit der Arbeiter und Bauern,
so daß sich die Dynamik der Klassenkämpfe gegen den jetzt zutage
tretenden Konservatismus dieser Organisationen durchsetzen
konnte. Dieser Unterschied gibt die materialistische Begründung
für das unterschiedliche Verhalten der deutschen und russischen
Sozialdemokratie. Es ist Lenins historisches Verdienst, sich
gegen die Mehrheit der Bolschewiki durchgesetzt zu haben und mit
seinen Aprilthesen, wenn auch noch in sich widersprüchlich, die
Umorientierung der Partei vollzogen zu haben und für die
Machtübernahme der Sowjets eingetreten zu sein.
Hierin liegt der deutliche Bruch zu den Traditionen des
Sozialdemokratismus, die Möglichkeit der positiven Aufhebung der
Antinomien der Sozialdemokratie und des Wiederanknüpfens an den
revolutionären Marxismus. Bedingung dafür wäre, daß die
Arbeiterklasse im Zuge der sozialistischen Transformation der
Gesellschaft die kapitalistischen Formen der Vergesellschaftung
der Arbeit sprengt und die sozialistischen Formen freisetzt.
Dies war aber in Rußland durch die gegebene Beschränkung der
gesellschaftlichen Grundlagen nur partiell möglich. Die
dominierenden vorkapitalistischen Produktionsformen auf dem
Land, die Deklassierung des Proletariats durch Welt- und
Bürgerkrieg, sowie die weitgehende Zerstörung der Industrie
boten keine genügende gesellschaftliche Grundlage für eine
unmittelbare sozialistische Transformation der Gesellschaft, da
durch die Niederlage der Arbeiterklasse in den Metropolen die
russische Revolution isoliert und auf sich selbst gestellt
blieb. Unter diesen gesellschaftlichen Bedingungen konnte Lenin
in seiner Konzeption der Übergangsgesellschaft
nicht den nächsten Schritt zur Aufhebung der Muttermale sowohl
des Jakobinismus wie des Sozialdemokratismus vornehmen, sondern
knüpfte hier gerade wieder deutlich an diese Ideologien an, wenn
er für eine Gleichsetzung von Partei und Klasse und für die
Übernahme kapitalistischer Prinzipien der Organisation der
Arbeit beim Aufbau des Sozialismus plädierte. Insofern steht der
Leninismus noch in der Kontinuität der sozialdemokratischen
Traditionen. Die revolutionären Impulse des Leninismus stehen
durch seine Orientierung an den Klassenkämpfen im lebendigen und
ständig der selbstkritischen Reflexion ausgesetzten Widerspruch
zu dem teilweisen Konservatismus seiner theoretischen
Grundlagen, der ansatzweise, aber nicht vollständig überwunden
wurde.
Der Marxismus-Leninismus
als die falsche Aufhebung der
Widersprüchlichkeit des Leninismus
Der Marxismus-Leninismus, wie er als Doktrin in der
Sowjetunion nach dem Bürgerkrieg entstand, knüpft an die nicht
überwundene Widersprüchlichkeit des Leninismus an, aber in einer
Form, die diese Widersprüchlichkeit nicht nur verschleiert,
sondern sie umgekehrt gerade zu seiner ideologischen Grundlage
erhebt. Die Widersprüchlichkeit der russischen Übergangsgesellschaft,
d. h. das gleichzeitige Bestehen von einem im Verlauf des
Bürgerkriegs weitgehend verstaatlichten Industriesektor neben
privatwirtschaftlichen und kapitalistischen Sektoren vor allem
im Bereich der Landwirtschaft und des durch die NEP wieder
privatisierten Handels, fand in dieser Doktrin ihren
ideologischen Ausdruck. Zwar konnte im Verlauf des Bürgerkriegs
die Gefahr der Restauration der alten Verhältnisse gebannt
werden, doch führte er schließlich zur Auflösung oder
Deformierung der Ansätze der entstehenden sozialistischen
Demokratie in Staat und Gesellschaft.
Die Bolschewiki fanden sich als herrschende Partei in der
Situation, anstelle des Proletariats proletarische Politik in
einer nicht-proletarischen Gesellschaft machen zu müssen. Ihre
Besonderung von der Klasse war nicht nur Produkt des Rückgangs
der proletarischen Klassenbewegung sowie ihrer theoretischen
Traditionen, sondern mußte umgekehrt auch eine soziale
Eigendynamik und damit Rückwirkungen auf die Theorie
hervorbringen. Die durch die materiellen und politischen
Bedingungen entstandene Bürokratie in Partei und Staatsapparat
entwickelte sich zu einer besonderen sozialen Schicht, die sich
aufgrund ihrer politisch privilegierten Stellung in der
Gesellschaft auch materielle Privilegien sichern konnte. Die
soziale Existenz dieser Gesellschaftsschicht basiert unmittelbar
auf den Widersprüchen der Ubergangsgesellschaft zwischen
Kapitalismus und Sozialismus. Sie ist existentiell sowohl an den
verstaatlichten Charakter der Industrie und damit an die
nichtkapitalistische Produktionsweise gebunden, wie andererseits
an die politische Expropriation des Proletariats, an dessen
Stelle sie die Funktionen der Leitung und Planung der Produktion
ausübt. Sie gewinnt ein direktes materielles Interesse am Erhalt
dieses Status quo und muß sich von daher sowohl den Tendenzen
einer vollständigen Restauration des Kapitalismus, wie auch den
Formen der sozialistischen Demokratie und der Selbstverwaltung
der Gesellschaft durch die Arbeiterräte, d. h. der Entwicklung
zum Sozialismus widersetzen und nimmt ten-denziell despotische
Züge an. Da der Status quo in der Sowjetunion wesentlich
abhängig vom Prozeß der Weltrevolution ist, erklärt sich auch
die konservative Funktion der Bürokratie in
Bezug auf die Weltrevolution, sobald Tendenzen sichtbar
werden, über den Rahmen des internationalen Status quo
hinauszugehen. Dieser Doppelcharakter der Bürokratie
verdeutlicht, weshalb ihre Ideologie unmittelbar an den
Leninismus anknüpfen konnte. Denn dessen Widersprüchlichkeit in
bezug auf die materialistische Bestimmung der Emanzipation der
Arbeiterklasse - einerseits die proletarische Revolution zu
befürworten, andererseits die kapitalistischen Formen der
Produktion und den prinzipiellen Führungsanspruch der Partei
gegenüber der Arbeiterklasse auch beim Aufbau des Sozialismus
beizubehalten — boten die ideelle Grundlage dafür, daß der
Leninismus zur Rechtfertigungsideologie der Bürokratie werden
konnte.
Insofern besteht eine vollständige ideologische Kontinuität
zum Leninismus und damit auch zu den in ihm noch nicht
überwundenen jakobinistischen und sozialdemokratischen Relikten.
Der gravierende Unterschied zu den Positionen Lenins besteht im
realpolitischen Verhalten gegenüber den Interessen, Zielen und
Kämpfen der Arbeiterklasse. Während sich Lenin immer auf die
revolutionären Tendenzen der Kämpfe zu beziehen suchte, ist es
gerade das Kennzeichen des Marxismus-Leninismus, daß diese
Doktrin zur Rechtfertigung der politischen und materiellen
Privilegien der stalinistischen Bürokratie dienen soll und damit
zwangsläufig den Emanzipationsinteressen und -ansätzen der
Arbeiterklasse beim Aufbau des Sozialismus direkt
entgegengesetzt ist. Ist der Leninismus durch den lebendigen
Widerspruch zwischen revolutionärem Anspruch und teilweisem
Konservatismus seiner theoretischen Grundlagen gekennzeichnet,
so stellt der Marxismus-Leninismus die Verknöcherung dieses
Widerspruchs dar und bedeutet deshalb einen Rückschritt
gegenüber den Positionen Lenins. Der Jakobinismus ist das
ideologische Produkt unterentwickelter Produktions- und
Klassenverhältnisse, in denen eine Minderheit im Namen des
Volkes sprechen muß. Die Ideologie der Sozialdemokratie findet
ihre gesellschaftlichen Ursachen in einer Etappe der Entwicklung
der Arbeiterbewegung, die wesentlich durch die Beschränkung
ihrer Kampfziele auf die Herstellung der bürgerlichen Demokratie
und auf die Verbesserung der Lage der Arbeiterklasse in der
bürgerlichen Gesellschaft gekennzeichnet ist. Der Leninismus
bedeutet den beginnenden Bruch mit dieser revisionistischen
Ideologie. Er ist Produkt einer Phase der Radikalisierung der
Klassenkämpfe, die den Rahmen der bürgerlichen
Produktionsverhältnisse und damit der sozialdemokratischen
Ideologie zu sprengen beginnen, ohne aber wegen der beschränkten
materiellen Verhältnisse zur vollständigen Freisetzung der
sozialistischen Formen gelangen zu können. Der
Marxismus-Leninismus dagegen ist das
ideologische Produkt einer Periode des Niedergangs der
Klassenkämpfe im internationalen Maßstab nach dem ersten
Teilerfolg. Er stellt die Perpetuierung der nur teilweisen
Überwindung des Sozialdemokratismus dar und reproduziert
wesentliche Bestandteile dieser Ideologie, aber auf einer
historisch höheren Ebene. Ist der Sozialdemokratismus eine
Integrationsideologie für die bürgerliche Gesellschaft, so ist
der Marxismus-Leninismus dessen Pendant für die
Uber-gangsgesellschaft zwischen Kapitalismus und Sozialismus.