Das Ende der Rätebewegung
Der Kronstädter Aufstand 1921

von Oskar Anweiler

05/11

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Im Winter 1920/21 durchlebte das bolschewistische Regime eine gefährliche innere Krise. Die am Ende des Bürgerkrieges bestehende katastrophale wirtschaftliche Lage Rußlands bewirkte zusammen mit der scharfen Zentralisierung, der wachsenden Bürokratisierung und der Diktatur der Parteispitzen eine allgemeine Unzufriedenheit unter Arbeitern und Bauern und selbst innerhalb der Reihen der bolschewistischen Partei. Die „werktätigen Massen", in deren Namen die Bolschewiki regierten, hatten drei Jahre lang gehungert, gefroren und Beschränkungen aller Art auf sich genommen; sie hofften jetzt, daß mit dem Ende der Kämpfe eine Besserung der wirtschaftlichen Lebensverhältnisse und eine Lockerung der strengen Diktatur, kurz, eine wirkliche Erfüllung der Revolutionsversprechen von 1917 eintreten würde. Die bolschewistische Führung sah durchaus die Notwendigkeit, aus der Periode des „Kriegskommunismus" in die einer friedlichen Aufbauarbeit überzugehen, aber in der Partei selbst bestanden erhebliche Meinungsverschiedenheiten über den künftigen Kurs. Sie kristallisierten sich vor allem um die sogenannte Gewerkschaftsdiskussion, die in den Wintermonaten 1920/21 die kommunistische Partei beherrschte (202)

In diesen Auseinandersetzungen handelte es sich im Kern darum, ob den die Mehrheit des Proletariats umfassenden Gewerkschaften gegenüber der nur eine Minderheit darstellenden Partei ein größeres Mitbestimmungsrecht im Sowjetstaate eingeräumt werden sollte. Zwar waren die Führer der „Arbeiteropposition" (Sljapnikov, die Kollontaj u.a.), die für eine Leitung der Produktion durch die Gewerkschaften eintraten, selbst Kommunisten, und der Kampf der Richtungen daher eine Auseinandersetzung der „Spitzen" innerhalb der Partei, aber sie waren zugleich das Sprachrohr einer echten Unzufriedenheit der Massen. Die Losung der „Produktionsdemokratie", die von der Arbeiteropposition aufgestellt wurde, wandte sich gegen das Manager-System in den Fabriken, das Übergewicht der staatlichen Bürokratie und das Verlassen der reinen proletarischen Linie durch eine „Überklassenpolitik, die nichts anderes bedeutet als die .Anpassung" der leitenden Organe an die widersprechenden Interessen der sozial verschiedenartig zusammengesetzten Bevölkerungsschichten" (203). Die Wirtschaft sollte von einem „allrussischen Kongreß der Produzenten, die sich in Verbänden nach Berufen oder Industriezweigen zusammenschließen, ' organisiert werden. Diese wählen ein Zentralorgan, das die ganze Wirtschaft der Republik verwaltet" (204). Auf der untersten Stufe, in der Fabrik, sollten die Betriebsräte wieder das entscheidende Wort haben.

Was von der Arbeiteropposition aufgeworfen wurde, war nichts anderes als die Frage nach der proletarischen Demokratie innerhalb des Systems der Diktatur des Proletariats, die in der offiziellen bolschewistischen Theorie identisch waren. Die Wirklichkeit jedoch lehrte die Arbeiter, daß der Sowjetstaat kein proletarischer Staat war, in dem die arbeitenden Massen selbst über ihr Schicksal bestimmen konnten. Die Arbeiteropposition wollte! auf dem Wege über die Beteiligung der Gewerkschaften an der Leitung des Wirtschaftsprozesses die Selbstverwaltung des Proletariats herbeiführen. Sie' dachte dabei noch nicht an eine Demokratisierung des Staates, d.h.  der Sowjets, und an die Aufgabe der Monopolstellung der kommunistischen Partei. Aber sie forderte innerhalb der Partei weiteste Freiheit und Öffentlichkeit der Diskussion, konsequente Durchführung des Wahlprinzips und Reinigung der Partei von allen nichtproletarischen Elementen (205). Darin berührte sie sich mit der anderen Oppositionsgruppe der „demokratischen Zentralisten", die das Übergewicht des Zentralexekutivkomitees über die lokalen Sowjets bekämpfte und die Wiederherstellung der in der Sowjet Verfassung gewährten, in der Praxis des Bürgerkrieges mißachteten Rechte der
Sowjets verlangte (206).

Lenin erkannte die Gefahr, die aus diesen oppositionellen Strömungen für die Einheit und die führende Rolle der Partei erwachsen konnten. Er war entschlossen, die Diktatur unbedingt aufrechtzuerhalten, gegen die Stimmungen in der Arbeiterschaft und notfalls unter Zugeständnissen an die Bauern. Lenin erklärte ausdrücklich, daß Sowjetrußland kein reiner Arbeiterstaat, sondern eine Arbeiter- und Bauernrepublik sei, und daher die Gewerkschaften besondere Interessenvertretungen des Proletariats bleiben müßten, wenn sie auch gleichzeitig „Schulen des Kommunismus" seien (207). Damit stellte er sich gleichzeitig gegen Trockij, der in der Gewerkschaftsdiskussion einen eigenen Standpunkt einnahm. Trockij wollte die Gewerkschaften formell in den Staatsapparat aufnehmen, sie mit Verwaltungsaufgaben betrauen und in sein System der militarisierten Arbeit eingliedern (208). Aber im Grundsatz der unbedingten Erhaltung des Parteimonopols waren sich Trockij und Lenin gegen die Arbeiteropposition einig. „Die Arbeiteropposition trat mit gefährlichen Schlagworten auf, indem sie einen Fetisch aus demokratischen Prinzipien machte. Sie setzte das Recht des Arbeiters, seine Vertreter zu wählen, über die Partei, als ob die Partei nicht berechtigt wäre, ihre Diktatur aufrechtzuerhalten, auch wenn diese Diktatur vorübergehend zusammenstößt mit den wechselnden Stimmungen der Arbeiterdemokratie". Trockij rief das „revolutionäre historische Erstgeburtsrecht der Partei" an, das sie verpflichte, „ihre Diktatur aufrechtzuerhalten ohne Rücksicht auf vorübergehende Schwankungen in den Stimmungen der Massen" (209). Die Thesen der Arbeiteropposition wurden auf dem X. Parteitag der Kommunistischen Partei im März 1921 durch eine von Lenin verfaßte Resolution als „anarcho-syndikalistische Abweichungen" gebrandmarkt und die Einheit der Partei durch strenge Beschlüsse gegen jede Fraktionsbildung erneut hergestellt (210). Die Bolschewiki befestigten ihre Diktatur in einem Augenblick, als die proletarischen Massen, in deren Namen sie sie ausübten, sich gewaltsam gegen ihre Herrschaft erhoben.

Während sich die Diskussionen um die Gewerkschaftsfrage innerhalb der bolschewistischen Partei abspielten und die Opposition auf legalem Boden blieb, „hatten andere Arbeiter und Bauernsöhne im Soldatenrock diese Hemmungen nicht" (211). Unzufriedenheit und latente Gärung in den proletarisch-bäuerlichen Massen brachen im Kronstädter Aufstand offen aus. Dieses Ereignis bezeichnet den Ausklang der russischen revolutionären Bewegung und das Ende einer organisierten Massenerhebung gegen den Bolschewismus in Rußland überhaupt. Mehr als alle antibolschewistische Kritik von außen es zu tun vermochte, beleuchtete der Kronstädter Aufstand gleichzeitig den inneren Widerspruch des in Rußland angeblich herrschenden Systems der „Diktatur des Proletariats". Er wurde deshalb den bolschewistischen Machthabern so gefährlich, daß sie bis heute die Tatsachen verschweigen oder fälschen (212).

Die Kronstädter Bewegung ist auf dem Hintergrund der politischen und wirtschaftlichen Krise des bolschewistischen Regimes am Ende des Bürgerkrieges zu sehen. In den Wochen vor der Kronstädter Erhebung kam es auf dem Lande zu zahlreichen Bauernunruhen und in den Städten zu Arbeiterstreiks (213). Mitte Februar 1921 erreichte die Unzufriedenheit unter den Arbeitern in Petersburg ihren Höhepunkt. Die durch die fraktionellen Streitigkeiten in der Gewerkschaftsdiskussion geschwächte Parteiorganisation verlor die Kontrolle über die Betriebe. Die Arbeiter machten ihrer Erbitterung über die drastische Kürzung der Lebensmittelrationen und die Stilllegung zahlreicher Fabriken mit der darauf folgenden Arbeitslosigkeit in Protestversammlungen Luft. Darin wurde eine Änderung der bisherigen bolschewistischen Wirtschaftspolitik im Sinne eines freien Handelsverkehrs, welcher die Lebensmittelversorgung der Städte verbessern sollte, gefordert. Als die Versammlungen verboten wurden, begann am 23. Februar in mehreren Fabriken ein Proteststreik, der sich rasch ausdehnte und am 25. zu Straßendemonstrationen und sogar einzelnen bewaffneten Zusammenstößen führte. Schon am 24. hatten die Bolschewiki den Kriegszustand über die Stadt verhängt. Am 26. wurde von einem eigens gebildeten Verteidigungskomitee unter Zinoj'ev sowie vom Petersburger Sowjet die Streikbewegung aufs schärfste verurteilt. Gleichzeitig holten die Bolschewiki Truppenverstärkungen herbei, da auf die Einheiten in der Stadt kein Verlaß war. Die Streiks griffen trotzdem bis zum 28. Februar weiter um sich; an diesem Tage legten auch die Arbeiter der berühmten Putilov-Werke die Arbeit nieder (214).

Die ursprünglich begrenzten, rein ökonomischen Forderungen der Arbeiter nahmen rasch auch einen politischen Charakter an. Die halblegalen menschewistischen, Sozialrevolutionären und anarchistischen Gruppen druckten Flugblätter und Aufrufe und schickten Redner in die Arbeiterversammlungen. Entgegen den späteren bolschewistischen Behauptungen muß aber festgestellt werden, daß die — ohnehin schwachen — sozialistischen Parteigruppen nicht an einen gewaltsamen Aufstand dachten, den sie für aussichtslos hielten. Die Menschewiki z.B. teilten nicht die in diesen Tagen in Petersburg weitverbreiteten Hoffnungen auf einen neuen „Februar", d.h. den Sturz der bolschewistischen Herrschaft. Sie wollten durch Teilerfolge die Lockerung der Parteidiktatur und einen allmählichen Übergang zu einer Demokratisierung herbeiführen. „Freie Wahlen in die Sowjets als erster Schritt zur Ablösung der Diktatur durch die Herrschaft der Demokratie — das war die politische Tageslosung", schreibt Dan, der in den Februartagen bis zu seiner Verhaftung am 26. in Petersburg tätig war (215). In einem am 27. verbreiteten Aufruf heißt es ähnlich: „Ein vollkommener Wechsel in der Regierungspolitik ist notwendig. In erster Linie brauchen die Arbeiter und Bauern Freiheit. Sie wollen nicht nach den bolschewistischen Dekreten leben, sondern ihr Schicksal selbst bestimmen . . . Verlangt unbeirrbar und in organisierter Form: Freilassung aller verhafteten sozialistischen und parteilosen Arbeiter, Aufhebung des Kriegsrechts, Freiheit des Wortes, der Presse und der Versammlung für alle Werktätigen, freie Neuwahlen der Betriebsräte, Gewerkschaften und Sowjets" (216).

Die Streiks und Unruhen in Petersburg konnten von den Bolschewiki nach einigen Tagen durch Drohungen und gewisse materielle Zugeständnisse beigelegt werden. Aber der Funke sprang über nach Kronstadt, der Seefestung vor den Toren Petersburgs, dem altenrevolutionären Zentrum, dessen radikale Matrosen seit jeher zu Lenins treuesten Anhängern gehört hatten. Gerade diese revolutionäre Tradition Kronstadts machte die Arbeiter und Matrosen aber besonders empfindlich gegenüber den Methoden der bolschewistischen Diktatur, die sich nicht nur gegen die gemeinsamen Klassenfeinde richtete, sondern auch auf die proletarischen Massen Zwang ausübte. Der radikale Freiheitssinn der Kronstädter, unter denen schon 1917 die linken Sozialrevolutionäre und Anarchisten einen bedeutenden Einfluß besaßen, umfing auch die im Herbst 1920 neu eingestellten jungen ukrainischen Rekruten, die aus ihrer Heimat die verbreitete Unzufriedenheit der Bauern gegen die bolschewistische Agrarpolitik mit sich brachten. Sie waren später der aktive Kern der Revolte. Die kommunistischen Parteiorganisationen in der Baltischen Flotte und in der Stadt waren halb zerfallen, besaßen kaum einen Einfluß unter den Matrosen und standen teilweise selbst in Opposition zu den übergeordneten Parteiorganen. Eine am 15. Februar abgehaltene Parteikonferenz verlangte die Demokratisierung der Parteiarbeit, einige Delegierte sprachen sich gegen die politischen Abteilungen in der Flotte aus (217).

Die Nachrichten von den Arbeiterstreiks in Petersburg alarmierten die Seeleute in Kronstadt. Während es in der Petersburger Flottenbasis Zinovev und Kalinin, wenn auch mit Mühe, gelang, die Matrosen von einem Anschluß an die Arbeiterbewegung abzuhalten, nahmen die Kronstädter Verbindung mit den Streikenden auf. Am 28. Februar verfaßten die Matrosen des Kriegsschiffes „Petropavlovsk" eine Resolution, in der sie u.a. freie Neuwahlen des Kronstädter Sowjets, dessen Amtszeit ablief, verlangten. Gleichzeitig entsandten die Matrosen eine Delegation nach Petersburg, um sich ein Bild der dortigen Lage zu verschaffen. Andere Schiffe schlössen sich der Resolution der „Petropavlovsk" an, und am i. März versammelten sich über 10.000 Matrosen, Soldaten und Arbeiter zu einer Massenkundgebung unter freiem Himmel. Auf der Versammlung, an der auch der Vorsitzende des Allrussischen Zentralexekutivkomitees, Kalinin, teilnahm, wurde der Bericht der Matrosendelegation angehört, der die Unterdrückung der berechtigten Arbeiterforderungen offen anprangerte. Beschwichtigungsversuche Kalinins und des Flottenkommissars Kuzmin schlugen fehl, und die empörte Menge nahm die Resolution der „Petropavlovsk" als Programm ihrer Forderungen an die Sowjetregierung einstimmig an.

Darin hieß es: „Angesichts der Tatsache, daß die gegenwärtigen Sowjets nicht den Willen der Arbeiter und Bauern ausdrücken, sollen sie sofort wiedergewählt werden, bei vorangegangener freier Agitation . . . Freiheit der Rede und der Presse für Arbeiter, Bauern, Anarchisten und linkssozialistische Parteien, Freiheit der Versammlungen, der Gewerkschaften und Bauernvereinigungen, Freilassung aller politischen Gefangenen aus den Reihen der sozialistischen Parteien und der aus ihren Bewegungen heraus verhafteten Arbeiter, Bauern, Soldaten und Matrosen. Beseitigung aller politischen Abteilungen in der Armee, da keine einzelne Partei besondere Rechte der Propaganda ihrer Ideen haben soll. Gleichstellung aller Rationen der Arbeiter. Freies Verfügungsrecht der Bauern über ihren Boden und das Recht, Vieh zu halten, soweit sie keine Lohnarbeiter beschäftigen" (218).

Am folgenden Tag, dem 2. März, nahm die spontane Bewegung organisiertere Formen an: Auf einer Konferenz von etwa 300 Delegierten der Matrosen, Soldaten und Arbeiter wurde ein fünfköpfiges Präsidium unter dem Marineschreiber Petricenko von der „Petropavlovsk" gewählt, das als Provisorisches Revolutionskomitee fungierte und in den nächsten Tagen auf 15 Mitglieder erweitert wurde (219). Die Versammlung beschloß ferner die Verhaftung des bolschewistischen Sowjetvorsitzenden Vasilev, des Flottenkommissars Kuzmin und des Kommissars der Linienschiffe KorIsunin. Als wichtigste Aufgabe wurde die Vorbereitung der Neuwahlen zum Sowjet bezeichnet. Weitergehende Schritte unternahm das Revolutionskomitee nicht. Außer den drei Genannten wurde kein einziges Mitglied der Kommunistischen Partei festgenommen. Im Gegenteil, die Matrosen bemühten sich, aus den Reihen der einfachen Parteimitglieder möglichst viele auf die eigene Seite zu ziehen. In der Tat erklärten in den folgenden Tagen zahlreiche Bolschewiki — im ganzen 776, d.h. fast ein Drittel der Mitgliedschaft —- offiziell ihren Austritt aus der Partei 220). Erst in den kritischen Tagen des Aufstandes wurden etwa 70 aktive Kommunisten verhaftet, ohne daß ihnen ein Leid geschah (221).

Die höheren militärischen Dienstgrade, darunter auch einige ehemalige zaristische Offiziere, die von den Bolschewiki selbst eingesetzt worden waren, stellten sich nunmehr ebenfalls auf die Seite der meuternden Matrosen. Das gab der bolschewistischen Propaganda sofort willkommenen Anlaß, von einer weißgardistischen und konterrevolutionären Verschwörung gegen die Sowjetmacht zu sprechen. Eine Welle der Verleumdung ergoß sich in Presse und Funk über Kronstadt. Am 4. März verdammte der Petersburger Sowjet die Bewegung als konterrevolutionäres Verbrechen, und am 5. richtete Trockij als Kriegskommissar ein Ultimatum an die Festung, sich bedingungslos zu ergeben (222). Die Aufständischen selbst hielten sich von irgendwelchen offensiven militärischen Schritten zurück. Ein Funkangebot des Sozialrevolutionären Führers Viktor Cernov aus Reval, selbst nach Kronstadt zu kommen und die Stadt durch Zufuhr lebenswichtiger Güter zu unterstützen, wurde von dem Revolutionskomitee abgelehnt (223). Ebenso wurden Ratschläge der Militärs verworfen, sich im Handstreich des gegenüberliegenden Forts Oranienbaum zu bemächtigen. Man wollte unter allen Umständen Blutvergießen vermeiden und wartete immer noch auf ein Entgegenkommen der Sowjetregierung. Gleichzeitig lebte in den Kronstädtern eine unklare Hoffnung auf die Entfachung einer allgemeinen Volksrevolution gegen den Bolschewismus, ein Glaube, der durch die gleichzeitigen Bauernunruhen in verschiedenen Gegenden Rußlands, besonders im Gouvernement Tambov, und die Streiks in Petersburg gerechtfertigt schien. Die passive Haltung der Aufständischen bewirkte zusammen mit der isolierten strategischen Lage der Seefestung, daß der Aufstand militärisch nicht siegen konnte. Trotzdem dauerte es über zehn Tage, bis der bolschewistische Angriff über das Eis des Finnischen Meerbusens die Festung bezwang. Die Mehrzahl der eingesetzten Truppen der Roten Armee war politisch nicht zuverlässig, es kam zu Protestversammlungen und offener Kampfverweigerung. Erst durch massive politische Propaganda, an der sich 300 Delegierte des X. Parteitages beteiligten, die Tätigkeit von Militärtribunalen und den Einsatz von Elitetruppen gelang es, nach dem ersten mißglückten Angriff am 7. März, die Stadt am 17. zu erobern.

In den Morgenstunden des 18. März mußten die letzten Verteidiger ihren Widerstand einstellen. Hunderte wurden an Ort und Stelle erschossen, hunderte in die Petersburger Gefängnisse eingeliefert, einige tausend konnten nach Finnland entkommen (224). Was waren die Ziele von Kronstadt? Die Bewegung entstand spontan aus der Unzufriedenheit der Massen mit den Ergebnissen der kommunistischen Herrschaft. Sie war anfangs alles andere als eine bewußte bewaffnete Aktion gegen das Regime als solches. Erst die unnachgiebige Haltung der bolschewistischen Regierung verschärfte die Lage und trieb die Kronstädter zu dem Ruf nach der „dritten Revolution", welche die Gewalt der kommunistischen Diktatur beseitigen wollte. Bezeichnend ist z.B. die Tatsache, daß die Person Lenins nicht kritisiert wurde; von den bolschewistischen Führern wurden vor allem Trockij und Zinov'ev angegriffen und für den blutigen Konflikt verantwortlich gemacht (225). Die Ereignisse ließen den Aufständischen keine Zeit für die Formulierung eines ins einzelne gehenden Programms. Ihre Forderungen, wie sie in den einzelnen Nummern der revolutionären Izvestija in mehr oder minder klarer Form zum Ausdruck gebracht wurden, spiegelten die dringendsten augenblicklichen Wünsche der Arbeiter und Bauern wider. Neben der Wiederherstellung der politischen Freiheit wurde das Ende der kommunistischen Agrarpolitik mit ihren gewaltsamen Eingriffen in das Eigentum der Bauern sowie die Abschaffung der unterschiedlichen Lebensmittelrationen in den Städten verlangt. Die Vorrechte der Partei- und Staatsbürokratie sollten gebrochen, die kommunistische Beherrschung der Armee aufgehoben werden. All diese Forderungen waren Auswirkungen der einen, grundlegenden: freie Wahl der Sowjets. Diese Forderung zieht sich seit dem ersten Aufruf der „Petropavlovsk" wie ein roter Faden durch alle Proklamationen der Aufständischen. Sie wurde geradezu zum Symbol der Kronstädter Bewegung, die die ehemals bolschewistiische Parole „Alle Macht den Räten" gegen die Bolschewiki selbst wandte. „Die Sowjetmacht muß der Ausdruck des Willens der ganzen werktätigen Massen sein, ohne die Herrschaft irgendeiner beliebigen politischen Partei", heißt es in einem Artikel der Izvestija. „Kronstadt, die Avantgarde der Revolution, hat den Anfang gemacht . . . Nicht hier gibt es schnöde Absichten gegen die Sowjetmacht. Die kommunistischen Gerüchte, der Aufstand sei antisowjetisch, sind unwahr ... Es darf nicht länger die Herrschaft irgendeiner Partei bestehen. Unsere Sowjets sollen nicht länger den Willen der Partei ausdrücken, sondern den Willen der Wähler" (226). Die Kronstädter waren absolute Anhänger des Rätesystems, aber eines unabhängigen, demokratischen, von der Monopolstellung einer einzigen Partei befreiten. Gerade deswegen, weil die Bolschewiki, die unter der Parole der Sowjetmacht im Oktober 1917 gesiegt hatten, die Rätedemokratie nicht verwirklichten, richtete sich der Haß der Aufständischen gegen sie. „Nieder mit der Kommissarenherrschaft! Die Kommunistische Partei hat bei der Machtübernahme den werktätigen Massen alle Güter versprochen. Und was sehen wir? Man sagte uns drei Jahre zuvor: ,Wenn ihr wollt, könnt ihr eure Delegierten abberufen, die Sowjets neu wählen'. Und als wir Kronstädter die Neuwahl des Sowjets forderten, ohne Parteidruck, gab der wiedererschienene Trepov-Trockij den Befehl: Patronen sind nicht zu sparen!" (227).

Die Kronstädter standen auf dem Boden der Oktoberrevolution von 1917. Sie waren entschieden links. Die parlamentarische Republik mit der Konstituierenden Versammlung wurde ausdrücklich abgelehnt: „Die Sowjets und nicht die Konstituierende Versammlung sind das Bollwerk der Werktätigen". Sie verlangten durchaus nicht Freiheit für ehemalige Gutsbesitzer, Offiziere und Kapitalisten. Aber sie sahen sich um die Früchte der Revolution betrogen und deren Ideale von den Bolschewiki verraten. Der programmatische Artikel Wofür wir kämpfen" in der Izvestija vom 8. März 1921 brachte diese Gefühle deutlich zum Ausdruck: „Durch die Oktoberrevolution hatte die Arbeiterklasse gehofft, ihre Befreiung zu erreichen. Aber als Ergebnis entstand eine noch größere Versklavung der menschlichen Persönlichkeit. Die Macht der Polizei- und Gendarmeriemonarchie fiel in die Hände von Usurpatoren — der Kommunisten die den Werktätigen, statt ihnen Freiheit zu geben, die ständige Furcht vor der Ceka brachten ... Am schlimmsten und verbrecherischsten ist aber die geistige Leibeigenschaft: die Kommunisten legten ihre Hand auch auf die Seele der Werktätigen und zwangen jeden, nach ihrer Vorschrift zu denken . . . Selbst der l öd ist leichter als dieses Leben unter der kommunistischen Es gibt keinen Mittelweg! Siegen oder sterben! Dafür gibt das rote Kronstadt ein Beispiel. . . Hier wurde das Banner des Aufstands aufgerichtet für die Befreiung von der dreijährigen Tyrannei und Bedrückung durch die kommunistische Autokratie, die das dreihundert jährige Joch der Monarchie in den Schatten stellte. Hier m Kronstadt wurde der Eckstein gelegt für die Dritte Revolution, die den Arbeiter von den letzten Ketten befreien und einen neuen, breiten Weg für das sozialistische Schaffen eröffnen wird" (228).

Das erträumte Reich der Freiheit sollte durch die Sowjets verwirklicht werden. „Alle Macht den Sowjets und nicht den Parteien war die häufigste Losung der revolutionären Izvestija. Daneben standen: „Es lebe die Macht der freigewählten Sowjets", „Die Macht der Sowjets wird die werktätige Bauernschaft vom Joch der Kommunisten befreien", „Nieder mit der Konterrevolution von links und rechts" (229). Die Losung der freien Sowjets, die von dem revolutionären Kronstadt aufgestellt wurde, war ein Zeichen für die lebendige Kraft der Räteidee in den Massen. Ihre Wendung gegen den Bolschewismus war gleichzeitig der eindeutigste Beweis dafür, wie sehr sich die bolschewistische Diktatur von den ursprünglichen Idealen der Räteherrschaft entfernt hatte. Das Reich der sozialen Gleichheit das Lenin in Staat und Revolution verkündet, die Beseitigung der Bürokratie, die die ersten Dekrete der Sowjetregierung angestrebt hatten, die Selbstherrschaft der Massen, die m der Sowjetlosung verkörpert schien — das alles war in den Jahren der bolschewistischen Diktatur vor der rauhen Wirklichkeit zerstoben. In den Augen der Kronstädter verkörperten die jetzigen Sowjets die verratene Revolution, die freien Wahlen zu unabhängigen Sowjets bildeten den Auftakt für die „dritte Revolution". Aus allen schriftlichen Kundgebungen der Kronstädter Revolutionäre spricht ein irrationaler Glaube an die Kraft der Räteidee, aus der heraus Rußland erneuert werden sollte. Der Rätegedanke, der durch die Bol-schewiki verkehrt, abgenutzt, zum Deckmantel ihrer Diktatur gemacht wurde, feierte seine Auferstehung in dem belagerten Kronstadt. Er vermochte nicht, ganz Rußland in Brand zu setzen. Es fehlte den Aufständischen der Rückhalt an einer organisierten politischen Bewegung, die um diese Zeit in Rußland nicht mehr vorhanden war. Das Echo auf die Ereignisse in Kronstadt blieb daher verhältnismäßig schwach; nur einige anarchistische Klubs in Moskau und Petersburg riefen in Flugblättern zur Unterstützung der Kronstädter auf (230), während sich die offiziellen menschewistischen Stellungnahmen auf bloße Sympathiekundgebungen beschränkten und eine friedliche Beilegung des Konfliktes forderten (231). Die Bolschewiki ihrerseits erkannten sehr genau die Gefährlichkeit der Losung „Freie Sowjets", die ihnen den legitimen Boden ihrer Macht zu entziehen drohte. Der reine Rätegedanke stand in unversöhnlichem Gegensatz zu ihrer Parteidiktatur. Sie versuchten daher mit allen Mitteln, eine Ausbreitung des Brandes zu verhindern. Der am 8. März eröffnete X. Parteitag, der unter dem drohenden Schatten der Kronstädter Rebellion tagte, stellte die eiserne Disziplin innerhalb der herrschenden Gruppe wieder her (232). Gleichzeitig vollzog Lenin die große innenpolitische Wendung vom System des Kriegskommunismus zur Neuen Ökonomischen Politik. Er hatte sie schon vorher erwogen, aber der Kronstädter Aufstand beschleunigte seinen Entschluß. Durch die Lockerung des staatlichen Zwanges auf wirtschaftlichem Gebiet, vor allem in der Landwirtschaft, hofften die Bolschewiki die Unzufriedenheit der Massen zu dämpfen. Sogar eine „Belebungskampagne" für die Sowjets wurde eingeleitet (233). Aber sie machte sich keine einzige Forderung der Kronstädter zu eigen: weder gab es freie Wahlen noch wurde die Kontrolle der Partei über die Sowjets gelockert. Gleichzeitig wurden die Reste der nichtbolschewistischen Parteien endgültig beseitigt. Die oppositionellen Gruppen wurden ohne formellen Auflösungsbeschluß ausgelöscht: ihre Mitglieder wurden entweder verhaftet oder widerriefen öffentlich ihre Überzeugungen, einige Führer durften ins Ausland gehen, anderen wurde der politische Prozeß gemacht (234).

Eine organisierte politische Opposition gegen das bolschewistische Regime bestand seit 1921 in Rußland nicht mehr. Die machtmäßigen Auseinandersetzungen spielten sich seitdem innerhalb der Führung der kommunistischen Partei selbst ab. Die Grundlagen der Diktatur wurden bisher davon nicht berührt.
 

Fußnoten

202) Vgl. die Einzelheiten bei Schapiro, The Origin of the Communist Autocracy, S. 221-295; Deutscher, Soviel Trade Unions, S. 21-58: Rosenberg. S. 151-153
203") Kollontai, Die Arbeiteropposition, S. 18.
204) ibid. S. 28.
205) ibid. S. 47ff.
206) Vgl. Schapiro, S. 223
207) Vgl. den von Lenin verfaßten Beschluß des Zentralkomitees der KPR (B) vom 12.1.1922 „Über die Rolle und die Aufgaben der Gewerkschaften unter den Verhältnissen der Neuen Ökonomischen Politik". Ausgewählte Werke II, S. 900-911.
208) Vgl. W. Huhn: Trotzkis Bonapartismus. Aufklärung II, Nr. 2. 1952. Ders.: Bolschewismus und Rätedemokratie. Der Funken. Nr. 6. 1952.
209) Zitiert nach Deutscher, The Prophet Armed, S. 508f.
210) Wortlaut in Lenin, Ausgewählte Werke II, S. 802-808.
211 Rosenberg, Die Geschichte des Bolschewismus, S. 154.
212) Diese Verfälschung im Sinne einer „weißgardistischen, konterrevolutionären'' Bewegung begann schon während des Aufstandes. Andererseits gab Lenin selbst mehrfach die objektiven Ursachen des Aufstandes offen zu. Auch Puchov, der die ausführlichste bolschewistische Darstellung der Ereignisse gibt, spricht von den „tiefen sozialen und politischen Ursachen" des Aufstandes. Vgl. zum Kronstädter Aufstand im allgemeinen: Das dokumentarische Sammelwerk Pravda o Kronftadte, Prag 1921, das die von den Aufständischen herausgegebene revolutionäre Investija im Wortlaut abdruckt; A. S. Puchov, KronJftadtskij mjatei v igzi g. Leningrad 1931; A. Berkman, The Kronstadt Rebellion. Berlin 1922. Eine gekürzte deutsche Übersetzung desselben Autors, eines amerikanischen Anarchisten, der sich für eine Vermittlung während des Konfliktes einsetzte, erschien als Sonderdruck des Monat (Nr. 30 von 1951) unter dem Titel Der Aufstand von Kronstadt; R. V. Daniels, The Kronstadt Revolt of 1921. A Study in the Dynamics of Revolution. American Slavic and East European Review X (1951) S. 241-254; Schapiro, S. 296-313; Das Buch von I. Mett, La, Commune de Cronstadt, Paris 1949, war mir nicht zugänglich.
213) Vgl. Puchov, S. 12-15.
214) Ibid. S. 19-37; Dan, Dva goda skitanij, S. 104-108.
215) Dan, S. 113.
216) Pravda o Kronftadte, S. 51 Ein anderer, von den Sozialrevolutionären verfaßter Aufruf forderte die Einberufung der Konstituierenden Versammlung. Der Appell an die Konstituante blieb aber eine vereinzelte Stimme.
217) Vgl. Puchov, S. 38-54.
218) Gekürzte wörtliche Wiedergabe. Der volle Wortlaut in: Pravda o Kronftadte, S. 9f.; Puchov, S. 59.
219) Die Namensliste in Pravda o Kronftadte, S. 131.
220) Puchov, S. 94-102. Die Namen wurden in den einzelnen Nummern der Izvestija vremennogo revoljucionnogo komüeta matrosov, krasnoarmejcev i r abolich goroda Kron-ftadta abgedruckt.
221) Das muß auch Puchov, a.a.O. zugeben.
222) Berkman (dt. Ausgabe), S. 10.
223) Berkman (engl. Ausgabe), S. 16.
224 Vgl. Puchov, S. 137-170.
225) Vgl. Pravda o Kronftadte, S. 1501.
226 ibid. S. 141ff
227) ibid. S. 142.
228) ibid. S. 82ff.
229) Die Losung „Sowjets ohne Bolschewiki", die häufig den Kronstädtern zugeschrieben wird, wurde von ihnen nicht aufgestellt. Es handelt sich um eine von Miljukov in der Emigration erfundene Zuspitzung, welche die antikommunistische Ziele unterstreichen sollte. Vgl. Schapiro, S. 304.
230) Vgl. Jakovlev, Russkij anarchizm, S. ygf.
231) Vgl. Dan, S. 109-115.
232) Siehe oben S. 310.
233) Vgl. Sovety v epochu voennogo kommunizma II, S. 44!.
234) Vgl. Carr, Bd. I, S. 176!.: Schapiro, S. 166-169, S. i88f., 2o8f.
 

Editorische Hinweise

Der Text ist das letzte Kapitel der Buches von Oskar Anweiler, Die Rätebewegung in Russland 1905-1921, Reinbek 1958, S.308ff

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