Bernard Schmid berichtet aus Frankreich

D
ebatte über Burqa, Staatsangehörigkeit und „Identität“
Vom KP-Abweichler auf Abendlandsverteidiger-Kurs über den Bürgerblock bis Marine Le Pen

05/10

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Erst die Feier, dann die Arbeit für den Gesetzgeber: Auf eine „feierliche Resolution“ der französischen Nationalversammlung „zur Bekräftigung der republikanischen Werte“ vom vergangenen Dienstag (11.o5.10) wird in Bälde die Beschlussfassung über einen Gesetzentwurf folgen. Gegenstand der Parlamentsentschließung wie auch des erwarteten Gesetzesentwurfs ist das seit Monaten in Frankreich heiß debattierte Verbot der Vollverschleierung, die mal als Burqa – wie sie aus Afghanistan und Pakistan bekannt ist – und mal als Niqab, so heißt ein unter Frauen der älteren Generationen im Maghreb (früher) verbreiteter Gesichtsschleier, bezeichnet wird. (Vgl. «Islamdebatte » in Frankreich, die (ungefähr) 923.te)

Am Mittwoch dieser Woche (19.o5.10) wurde der Gesetzesentwurf dazu nun vom Kabinett angenommen, bevor er zwecks parlamentarischer Verabschiedung in die Nationalversammlung eingebracht wird. Dort soll der Text dann im Juli 10 – bei einer Sondersitzung, während normalerweise die Abgeordneten schon im Urlaub wären (FUSSNOTE1) - beschlossen werden, um Anfang September 10 auch im Senat oder französischen „Oberhaus“ angenommen zu werden. Und im Laufe des Herbsts 2010, spätestens im November dieses Jahres, soll das Gesetz dann in Kraft treten. Es wird voraussichtlich sieben Artikel umfassen. Unter die einzelnen Bestimmungen fällt:

  • die Strafandrohung in Höhe von 150 Euro an Trägerinnen einer Ganzkörper- oder Gesichtsverschleierung („Niemand kann im öffentlichen Raum einen Aufzug tragen, der dazu bestimmt ist, das Gesicht zu maskieren, außer wenn sie zur Wahrung der Anonymität des Betreffenden erlaubt ist; bei Vorliegen medizinischer Rechtfertigungsgründe; oder im Rahmen von antiken oder traditionellen Festen oder Vorführungen“, d.h. sofern es sich um Karnevalsmasken handelt);

  • die – härtere - Strafandrohung an männliche Familienmitglieder, die lt. einer Hypothese des Gesetzgebers die Frauen zum Anlegen einer solchen Gesichts- oder Ganzkörperverschleierung zwingen würden; die Betreffenden riskieren in diesem Falle bis zu 15.000 Geldstrafe und/oder einem Jahr Haft;

  • die Verpflichtung zum Absolvieren eines staatsbürgerlichen „Um- (oder Neu-) erziehungslehrgangs“ – französisch ,stage de rééducation’ oder auch ,stage de citoyenneté’ - die statt der üblicherweise vorgesehenen Geldstrafe gegen Zuwiderhandelnde verhängt werden kann. (FUSSNOTE2)

Politisch motiviertes Sondergesetz für ein marginales Phänomen

Eine solche Ganzkörper- oder jedenfalls Gesichtsverhüllung wird in Frankreich durch eine sehr kleine Minderheit von muslimischen Frauen getragen: Die verfügbaren und in den letzten Monaten über die Medien verbreiteten Zahlenangaben aus den Sicherheitsbehörden variieren zwischen 367 und 1.900 im ganzen Land. Unter ihnen findet sich ein bedeutender Anteil von Konvertitinnen, die sich eher wie Sektenmitglieder - auf der Suche nach möglichst auffälligen Möglichkeiten, ihre neue Zugehörigkeit zu demonstrieren - verhalten denn irgendwelchen Traditionen gehorchen. Jüngst grub etwa die rechtsextreme Onlinezeitung ‚Nations Presse Info’ (in einem Artikel vom o2. o5. 2010) einen „Skandal“ in einem Rathaus im südfranzösischen Bezirk Aveyron aus, wo die Trägerin einer Vollverschleierung sich eine Geburtsurkunde ausstellen bzw. berichtigen lassen wollte. Es stellte sich jedoch auch hier heraus, dass es sich um eine Konvertitin aus einer „weißen“, christlichen französischen Familie handelt.

Die große Mehrheit der in Frankreich lebenden Moslems verurteilt diese Bekleidungsform, die angeblich koranischen Vorschriften entspricht, deutlich. Und sie wirft den besonders radikal auftretenden Konvertierten im Allgemeinen Imageschädigung vor. Allerdings verfechten ihre wichtigsten Verbände, ebenso wie der Großteil der Linken und der Antirassismus- sowie Menschenrechtsvereinigungen, eine Position, die sich als „Weder für die Burqa noch für ein Gesetz“ resümieren lässt. Sie fürchten, dass die sich abzeichnende Debatte um ein spezielles Verbotsgesetz, welche die öffentliche Meinung zwischen fremdenfeindlich motivierten Verteidigern des – mal als christlich, mal als aufgeklärt definierten - Abendlands einerseits und kleinen extremistischen Sektenströmungen anderseits polarisieren könnte, auch den „normalen“ und ihre Religion als Privatangelegenheit praktizierenden Moslems schaden könnte. Von der Fokussierung der Medienberichterstattung und der öffentlichen Debatte(n) auf besonders demonstrative Praktiken einer kleinen Minderheit befürchten sie eine stigmatisierende Wirkung.

Linke übt überwiegend Kritik

Deswegen möchte die parlamentarische wie außerparlamentarische Linke überwiegend kein spezielles Verbotsgesetz, mit Ausnahme der Sozialdemokratie. Die gemeinsame Parlamentsfraktion von KP und Grünen blieb deswegen (anders als die Sozialdemokratie) am vorigen Dienstag auch dem Votum über die Annahme einer feierlichen Resolution, in welcher die „republikanischen Werte“ bekräftigt und das Burqatragen durch die Nationalversammlung verurteilt werden, bewusst fern. Der nordfranzösische KP-Abgeordnete (und ihr früherer Fraktionsvorsitzender) Alain Bocquet bezeichnete die Abstimmung über die Resolution als „Maskerade“.

Einzige Ausnahme war der KP-Abgeordnete André Gerin, Bürgermeister der Lyoner Vorstadt Vénissieux. Er gehört zum traditionell etatistischen, staatlich-autoritär ausgerichteten Flügel innerhalb der Partei und steht in Opposition zur (aus seiner Sicht zu „modernistischen“ und „an den Zeitgeist angepassten“) Parteiführung unter KP-Chefin Marie-George Buffet. Vor wenigen Monaten machte er aber auch durch tendenziell rassistische Äußerungen auf sich aufmerksam, als er Jacques Chiracs nunmehr 19 Jahre alten berühmten Ausspruch über „den Lärm und den Geruch“ (,le bruit et l’odeur’) von Einwanderern in Sozialwohnungen - unerwartet - nachträglich verteidigt hat. Diesen Ausspruch tätigte Chirac im Juni 1991 aus wahltaktischen Motiven, in einem Kontext, der von einem besonders starken Aufschwung der extremen Rechten in den Umfragen geprägt war. „Selbstkritisch“ merkte Gerin nun aber vor einigen Monaten im Rückblick an, damals habe „(er) selbst wohl Chirac deswegen in die Nähe des Front National gerückt“. Heute wisse er jedoch, dass der konservative Politiker „Recht hatte“. (FUSSNOTE3) Im Rahmen einer jüngsten Fernsehsendung sprach Gerin sich auch vehement gegen einen EU-Beitritt der Türkei aus und bedauerte, dass in dem (2005 abgelehnten) Verfassungsvertrag für die Europäische Union – respektive dem an seine Stelle getretenen Lissabonner Vertrag – kein Bezug auf „die christlichen und jüdischen Wurzeln Europas“ mehr enthalten sei (FUSSNOTE4). Alles in allem zeigt Gerin sich davon überzeugt, dass es einen kaum überwindbaren Graben zwischen den „Lebensformen“ von Moslems einerseits, „christlich und jüdisch geprägtem Abendland“ andererseits gebe. Von Juni 2009 bis Januar 10 hatte André Gerin zusammen mit dem konservativen Abgeordneten Eric Raoult die parlamentarische Untersuchungskommission über ein Burqa-Verbot geleitet. (Vgl. auch5)

Sozialdemokratie: Versuch des Hindurchlavierens

Die französische Sozialistische Partei unter Martine Aubry wiederum tritt zwar für gesetzliche Verbote der Burqa ein, aber nur in speziell begründeten Fällen – eine Vollverschleierung soll etwa bei Behördengängen und an Serviceschaltern sowie aus Sicherheiterwägungen heraus verboten werden können – und nicht als allgemeines Bekleidungsverbot.

Dies stellt einen Unterschied zu den französischen Konservativen dar, die in ihrer Mehrheit hingegen für ein Totalverbot eintreten. Überwiegend, weil sie Burqa oder Niqab als besonders krasse Symbole einer „Herausforderung des Abendlands“ durch manifeste fremde Präsenz betrachten. Allerdings vermischen sie dies in ihrer Argumentation oft mit dem Heranzitieren von Frauenemanzipation und Frauenrechten. Aufgrund dieser Differenz, aber auch, um (trotz ihrer Zustimmung zur o.g. Resolution) nicht im Schlepptau des Regierungslagers zu erscheinen, haben die Sozialisten am o4. Mai einen eigenen Gesetzentwurf zum Thema vorgelegt.

Konservative Rechte: „Legal, illegal, scheißegal“ ?

Der konservative Bürgerblock wiederum hält an einem Gesetz für ein Totalverbot fest, obwohl dieses wahrscheinlich durch den obersten Gerichtshof oder aber die europäischen Richter in Luxemburg kassiert werden dürfte: Diese betrachten ein Sondergesetz, das nicht allgemeingültigen Imperativen – etwa der Notwendigkeit, Empfänger/innen von Leistungen auf einer Behörde identifizieren zu können – gehorcht, sondern eine spezielle Gesinnung zu sanktionieren versucht, als Verstoß gegen die Grundrechte. So wird es auch überwiegend in den USA gesehen, wo die Bekleidungswahl und die Religionsfreiheit ohnehin absoluten, ungeteilten Wert genießen. Dort übte die ,New York Times’ am 29. Januar 10 heftige Schelte an den französischen Verbotsplänen und zog eine, allerdings schiefe, Parallele zu Bekleidungsvorschriften und -zwängen unter den afghanischen Taliban.

Aber auch der französische Conseil d’Etat - der oberste Verwaltungsgerichtshof – hatte am 30. März d.J. in einer Stellungnahme erklärt, ein allgemeingültiges Verbot ohne besondere Anlassgründe würde voraussichtlich als rechtswidrig beanstandet werden. (Das letzte Wort wird dazu freilich nicht der Conseil d’Etat als höchster Verwaltungsrichter - mit gleichzeitig beratender Funktion für die Regierung -, sondern der von ihm unabhängige Verfassungsgerichtshof haben.) Doch prompt kündigte die Regierungspartei UMP an, dass sie sich über diese höchstrichterliche juristische Analyse hinwegsetzen möchte.

Am Freitag, den 14. Mai 10 wurde durch eine Veröffentlichung der konservativen Tageszeitung ,Le Figaro’ bekannt, dass der Conseil d’Etat sich zum zweiten Mal mit scharfer Kritik an dem Gesetzesvorhaben zu Wort gemeldet habe. Es gebe ihm zufolge „keinerlei juristische Grundlage“ für ein solches geplantes Totalverbot. (FUSSNOTE6) Erneut meldete sich das Regierungslager zu Wort, um anzukündigen, man werde sich über diese Auffassung hinwegsetzen. Im Namen der konservativen Regierungspartei UMP erklärte ihr Fraktionsvorsitzender in der Nationalversammlung Jean-François Copé noch am selben Tag, die Position der obersten Verwaltungsrichter „verdien(e) Respekt“, aber sei „zweifelhaft“. (Vgl. Meldung der Nachrichtenagentur AFP vom 14.o5.2010 um 12.43 h)

Auch Präsident Nicolas Sarkozy übte sich kurz darauf in deutlicher Richterschelte (vgl.7). Inzwischen hat sich der konservative Rechtsaußen-Abgeordnete von Nizza, Lionnel Luca, mit einem eigenen Vorstoß dazu zu Wort gemeldet. (Dieser UMP-Parlamentarier fiel ansonsten jüngst dadurch auf, dass er die rassistischen Auslassungen des Star-Fernsehjournalisten Eric Zemmour vom März 2010 öffentlich verteidigte, und dass er am 21. Mai 10 in Cannes an einer Demonstration gemeinsam mit Aktivisten des rechtsextremen Front National teilnahm. Ihr Aufmarsch richtete sich gegen die Präsenz des Films ,Hors-la-loi’ von Rachid Bouchareb, der französische Verbrechen im früheren kolonisierten Algerien – u.a. das Massaker vom 08. Mai 1945 in Sétif und Umland – zum Gegenstand hat, auf dem Filmfestival von Cannes. Zu der Demonstration von Rechten und Rechtsextremen, zu denen u.a. der dem Front National angegliederte Veteranenverband ,Cercle national des combattants’/CNC aufrief und die kurz vor Abschluss des Festivals organisiert worden war, kamen lt. polizeilichen Angaben rund 1.200 Teilnehmer. Unter ihnen waren vielen frühere französische Algeriensiedler. Drei UMP-Abgeordnete demonstrierten mit. An die zehn weitere konservative Parlamentarier, darunter auch der Bürgermeister von Cannes, kamen zu einer Auftakt-Protestkundgebung; enthielten sich jedoch aufgrund der rechtsextremen Präsenz einer Teilnahme an der Demo.) Lionnel Luca forderte, falls die französischen Verfassungsrichter den Text je aus juristischen Gründen zensierten, solle daraufhin eine Volksabstimmung zum Thema – also über die Annahme eines Gesetzes auch gegen das richterliche Veto – anberaumt werden. (FUSSNOTE8)

Wahrscheinlich möchte die konservativen Rechte aber auch einfach nur ihren politischen Voluntarismus und ihre Handlungsfähigkeit – die in Krisenzeiten in breiten Kreisen in Frage gestellt werden – unter Beweis stellen. Auch auf die Gefahr hin, dass der einmal verabschiedete Gesetzestext dann doch noch, hinterher, an (verfassungs- oder europa-) richterlicher Beanstandung scheitern wird.

Reaktion(en) des rechtsextremen Front National

Ihrerseits reagierte die extreme Rechte u.a. durch den Mund der wahrscheinlichen künftigen Chefin des Front National, in Gestalt von Marine Le Pen. Diese bezeichnete das geplante Verbotsgesetz als „lächerliche Episode“, da es nur „ein Symptom“ behandele9. Ähnlich reagierte zuvor auch die, ihren Rivalen – beim begonnen Rennen um den Parteivorsitz – Bruno Gollnisch unterstützende Publikation ,Droite Ligne’ (ihr Name bedeutet sowohl „Rechte Linie“ als auch, ungefähr, „Zielgerade“).

Dennoch ist interessant, wie in beiden Fällen die „Krankheit“, die in den beiden Fällen als „hinter dem Symptom versteckt“ bezeichnet wird, dabei definiert wird. Dabei stechen gewissen verbale Unterschiede ins Auge. Die Ausgabe Nr. 3 von ,Droite Ligne’, die beim 1. Mai-Aufmarsch des FN vertrieben wurde, enthält auf ihrer Seite 3 eine Überschrift: „Der Baum <Burqa> soll den eingewanderten Wald verdecken“. Es ist also die Einwanderung respektive die Anwesenheit von Eingewanderten als solche, die hier unverblümt als das Übel selbst präsentiert wird. „Moderner“ und indirekter in der Wortwahl äußert sich hingegen Marine Le Pen, zitiert lt. der Nachrichtenagentur AFP. Als das Übel „hinter dem Symptom der Burqa“, das angeklagt wird, erscheint bei ihr: „das ständige Anwachsen des Kommunitarismus, die durch die Regierung ermutigte positive Diskriminierung (Anm.: gemeint ist, zugunsten von Einwanderern), der dramatische Rückgang des Laizismus“. All dies taugt ihr zwar nur als Chiffre, um die angebliche Überzahl von Einwanderer/inne/n zum Problem zu erklären. Auffällig ist jedoch folgender Punkt: Ihre Wortwahl bezüglich „Kommunitarismus“, „Laizismus“ usw. erlaubt es ihr aber, an Diskurse und Diskussionen anzuknüpfen, bei denen Altfaschisten à la Bruno Gollnisch stets außenvor bleiben müssen. (FUSSNOTE10)

Am 18. Mai, dem Vortag der Debatte über den Anti-Burqa-Gesetzentwurf im französischen Kabinett, meldete Marine Le Pen sich erneut zu Wort. Statt eines Verbotsgesetzes, so ihre an dem Tag vorgetragene Position, sei „die Abschiebung“ von die Burqa tragenden Frauen und/oder diese dazu zwingenden/anhaltenden Männern „die Lösung“. (Vgl.11)

Burqa & Co.: Draufgesattelt auf Staatsbürgerschafts- und Nationaldidentitäts-Diskussion

Im Kern ist die aktuelle „Burqa“-Debatte nur der Aufhänger, um die ideologische Regierungskampagne rund um die „nationale Identität“ vom Winter 2009/10 mit anderen Mitteln fortzusetzen. Offiziell debattierte ganz Frankreich, u.a. auf 350 örtlichen Veranstaltungen unter Aufsicht von Staatsvertretern (Präfekten, Unterpräfekten, bisweilen auch Ministern), vom November 2009 bis zum Februar 2010 über seine „Nationalidentität“. (Wir berichteten ausführlich.)

Zwischenzeitlich ist diese staatsoffizielle so genannte „Debatte“ zwar fortgesetzt worden, bleibt jedoch nur auf niedriger Flamme am Köcheln. Am 8. April 10 hielt der zuständige Minister „für Einwanderung und nationale Identität“ Eric Besson in Paris ein Seminar zum Thema „nationale Identitäten und europäische Identität“ ab, an dem u.a. auch die spanische (,sozialistische’) Einwanderungsministerin Anna Terron i Cusi und Italiens schwer rechtslastiger Außenminister Franco Frattini teilnahmen. Glaubt man einem nachträglich erschienenen Artikel des ,Canard enchaîné’, scheinen die Inhalte jedoch zum Teil eher grotesk und unfreiwillig witzig gewesen zu sein; demnach referierte Kulturminister Frédéric Mitterrand eiskalt über „Die Bedeutung des Kommas für die französische Identität“ (sic). Eine für April 2010 angekündigte Programmrede Nicolas Sarkozys zur Identitätsfrage scheint nicht gehalten worden zu sein, wofür Präsident Speedy Sarkozy zweifellos „entschuldigt“ ist, indem er sich auf die akute Wirtschafts- und Euro-Krise berufen kann. Seit Anfang Mai dieses Jahres lädt Eric Besson nunmehr einmal pro Woche – bislang waren Termine für den o3., 10. und 17. Mai programmiert – eine prominente Person zu Diskussionen rund um die Nationalidentität ein. Begonnen wurde am o3. Mai mit Luc Ferry, ein früherer Schriftsteller, der unter Jacques Chirac zeitweilig (im Zeitraum 2002 bis 04) Bildungsminister war und sich für ein Art verkanntes Jahrhundert-Genie hält. Auch einen prominenten Regierungskritiker wie Mouloud Aounit von der Antirassismusbewegung MRAP versuchte Eric Besson mit einer Einladung zu locken, die dessen Vereinigung jedoch – nicht dankend - ausschlug.

Sehr viel „praktischer“, und die Leute im Land emotional aufrüttelnder, als solcherlei komisch-pathetische Saaldiskussionen, ist dabei sicherlich die Neuauflage der nicht-enden-wollenden Islamdiskussion rund um „die Burqa“. Es besteht jedoch ein unverkennbarer Zusammenhang zwischen beiden Thematiken. Denn die Burqa-Diskussion ist längst faktisch zur Debatte darum, wer in Frankreich zur Nation dazugehören (und/oder legal hierzulande leben) darf und wer nicht, geworden.

Zusätzlich befeuert wurde diese Ideologiekampagne jüngst durch eine „Affäre“ im westfranzösischen Nantes  (Vgl. «Islamdebatte » in Frankreich, die (ungefähr) 923.te), die in der letzten Aprilwoche ausbrach, also kaum 48 Stunden, nachdem Nicolas Sarkozy am 21. April den Grundsatzbeschluss zugunsten eines Totalverbots der Burqa auf französischem Boden gefällt hatte. Es ging um die Autofahrerin, die mit Gesichtsschleier am Steuer kontrolliert worden war, und um ihren „polygamen Ehemann“ – eine Eigenschaft, die freilich formalrechtlich bislang unbewiesen ist und auch nicht leicht hieb- & stichfest zu beweisen zu sein dürfte. Zivilrechtlich jedenfalls ist der 35jährige Liès Hebbadj, der im Alter von zwei Jahren aus Algerien nach Frankreich kam und durch die 1999 vollzogene Heirat mit einer als Erwachsene zum Islam konvertierte Französin zum Staatsbürger wurde, nur einmal verheiratet. Und zwar mit der Abstammungsfranzösin und Konvertitin, deren Vorname zunächst in den Medien als „Anne“ wiedergegeben wurde, die jedoch dort inzwischen „Sandrine M.“ genannt wird. Was er außerhalb dieses rechtlichen Rahmens der Ehe in seinem Privatleben veranstaltet, ist jedenfalls nicht juristisch sanktionierbar. Verboten sind nur Mehrfachehen, nicht außereheliche Verhältnisse, welche – wie der Mann, an dem Punkt durchaus schlau, öffentlich anmerkte – auch unter nicht-moslemischen Franzosen verbreitet sind.

Darauf kommt es jedoch in Wirklichkeit kaum an; und auch nicht darauf, dass Minister Eric Besson inzwischen eingeräumt hat, ein Entzug der französischen Staatsangehörigkeit sei im Falle Liès H. schlussendlich „unwahrscheinlich“. (Juristische Möglichkeiten zu einem solchen Entzug zu prüfen, hatte Innenminister Brice Hortefeux ihn in einem – sofort öffentlich gewordenen – Schreiben vom 23. April aufgefordert. Eric Besson antwortete seinem Ministerkollegen in einem Brief vom 27. April, dessen Inhalt ebenfalls schnell publik wurde.)

Längst ist die Botschaft via Presse oder Fernsehen in fast alle Haushalte gedrungen, die da lautet: „Darf dieser Mann wirklich Franzose sein?“ Und: „Er betrügt – mitsamt seiner Brut – Frankreich um Sozialleistungen“, weil nämlich die angeblich von ihm geschwängerten (aber nicht mit ihm verheirateten) Damen Kindergeld als Alleinerziehende bezogen hätten.

Den Ministern Brice Hortefeux (Inneres) und Besson (Ressortbezeichnung: Immigration & nationale Identität) ging es bei der Affäre unverkennbar vor allem darum, ein Exempel zu statuieren - um einen Fall des Entzugs der französischen Staatsbürgerschaft, motiviert durch so genannte „kulturelle“ Praktiken, als legitim erscheinen zu lassen. Besson trat mittlerweile in eine regelrechte Kampagne für die Möglichkeit eines solchen Entzugs ein12. Als weiteren legitimen Beweggrund dazu, eine solche Maßnahme durchzuführen, nannte er inzwischen die Mädchenbeschneidung13 – die in manchen afrikanischen Familien praktiziert wird, in Frankreich jedoch weitgehend zum Verschwinden gebracht werden konnte und ohnehin unter Strafe steht, d.h. als gefährliche Körperverletzung geahndet werden kann. (Vgl.14) - Bislang ist der Entzug der, einmal erworbenen, französischen Staatsbürgerschaft nur äußerst schwer und fast nur bei so genannten Terrorismusdelikten (die wiederum sehr unterschiedlich zu bewertende gesellschaftliche Sachverhalte, vom „Eingriff in den Bahnverkehr“ bis zu Mordpraktiken gegen die Zivilbevölkerung, umfassen), überhaupt möglich. Das Regierungslager möchte ihn nunmehr erleichtern. Auch soll das Spektrum der Anwendungsfälle erweitert werden.

Offensichtlich dienen Burqa und Polygamie dabei nur als Vorwand, um eine neue, legitime Grenze zwischen „Uns“ und „Ihnen“ zu ziehen. Der Grünenpolitiker Noël Mamère sprach deswegen Ende April 10 von einem „Geruch von Vichy“ (FUSSNOTE15). Dafür zog er sich Kritik zu, etwa seitens der Wochenzeitung ,Le Canard enchaîné’ (vom 12.O5.10), die monierte, der frühere Fernsehjournalist und Präsidentschaftskandidat der Grünen im Jahr 2002 habe unzulässig „die Burqa und den gelben Stern miteinander verglichen“. In Wirklichkeit hatte Mamère jedoch einzig auf die neu angefachte Debatte um den nachträglichen Entzug der französischen Staatsbürgerschaft abgehoben.

Die letzte massive Anwendung der rechtlichen Möglichkeit, Personen ihre einmal erworbene französische Staatsangehörigkeit wieder abzuerkennen, hatte es tatsächlich unter dem Vichy-Regime gegeben. (Betroffen waren damals, es wird nicht verwundern, überwiegend jüdische französische Staatsbürger. Dieser juristische Mechanismus wurde damals, in der Vichy-Ära, insgesamt circa 15.000 mal benutzt.) In seinem berüchtigten Einwanderungsprogramm vom November 1991 hatte der Front National sich ebenfalls für einen solchen Mechanismus ausgesprochen.

Auch die prominente Fernsehjournalistin Colombe Schneck hat sich inzwischen daran erinnert gefühlt, dass ihrem rumänisch-jüdischen Großvater unter Vichy die Staatsangehörigkeit entzogen worden sei. Deshalb versuchten Journalisten des (links-)nationalistischen Wochenmagazins ,Marianne’, sie wegen „falscher historischer Vergleiche“ – pardon für den Namenwitz - zur Schnecke zu machen. (Vgl.16)

Unterdessen haben Regierungspolitiker, aber auch Blogger angeregt, eine „Staatsbürgerschaft mit Punktesystem“ einzuführen, die durch die damalige Labour-Regierung in Großbritannien im August 2009 „geprüft“ worden war. In einem solchen System kann man – ähnlich wie beim Punkteführerschein – je nach Fehlverhalten eine bestimmte Anzahl von Punkten einbüßen; bis hin zum Entzug der Nationalität, wenn der Punkteverlust zu hoch ausfällt. (FUSSNOTE17)

LETZTE MELDUNGEN

Auf welche Weise die aktuelle(n) Debatte(n) das – teilweise üble – gesellschaftliche Klima derzeit in Teilbereichen prägen, belegen zwei oder drei kleinere Ereignisse. An und für sich anekdotenhaft, stellen sie dennoch einen Gradmesser für die Aufhitzung des Klimas in bestimmten Segmenten der Gesellschaft dar.

Aus dem westfranzösischen Saint-Nazaire wurde am 18. Mai bekannt, dass am Wochenende zuvor eine Prügelei zwischen zwei Kundinnen in einem Geschäft stattgefunden habe. Eine circa sechzigjährige Anwältin hatte demnach eine 26jährige Frau, die eine Gesichtshüllung trug, zunächst verbal attackiert. Dabei soll sie diese aufgefordert haben: „Kehr in Dein (Herkunfts-)Land zurück!“, was die Anwältin jedoch laut dem Verhörprotokoll der Gendarmerieie abstreitet. Die 26jährige erstattete Anzeige wegen Volksverhetzung, die 60jährige, weil sie in dem entstandenen Handgemenge Prügel bezogen haben will. Es stellte sich heraus, dass die jüngere der beiden Damen – die laut Augenzeugenberichten zur „Rückkehr in ihr Land“ aufgefordert worden sein soll – eine Abstammungsfranzösin und Islamkonvertitin ist. (Wieder einmal...) Vgl.18

An einer Bushaltestelle in Avignon kam es ebenfalls zu einer (in diesem Falle nicht körperlich werdenden) Auseinandersetzung. Den Streit löste eine Passantin & Aktivbürgerin aus, die einer 19jâhrigen Trägerin einer Ganzkörperverhüllung zurief: „Das ist verboten!“ Daraufhin fing der Ehemann der jungen Frau an, sich aufzuregen. Den verbalen Disput trugen die Betreffenden bald nicht mehr allein aus, sondern es sammelte sich schnell ein Häuflein von Schaulustigen um sie herum. Die Ankunft des von allen erwarteten Autobusses konnte die Streiterei nicht beruhigen, die schlussendlich auf dem Polizeikommissariat endete. (Vgl.19)

In der Pariser Vorstadt Montreuil wiederum endete eine öffentliche Debatteveranstaltung über die Frage des Burqaverbots, an der rund 100 Personen teilnahmen, quasi in einer Saalschlacht. Veranstaltet hatte die Debatte, bei der u.a. der Abgeordnete Manuel Valls – der in der sozialdemokratische Partei im Allgemeinen rechtsaußen steht, und in der Burqaverbotsfrage den Vorstellungen des regierenden Bürgerblocks nahe kommt – die Frauenvereinigung ,Ni Putes ni soumises’ (Weder Nutten noch unterwürfig). Letztere vertritt einen Pseudofeminismus, der jedoch im Wesentlichen auf dem Abfeiern der „Werte der Republik“ gegen renitente – sicherlich z.T. reaktionäre – Minderheiten beruht; ihre Gründungspräsidentin Fadela Amara ist unter Nicolas Sarkozy Regierungsmitglied geworden. „Aufgemischt“ wurde ihre Debatte jedoch durch das reaktionäre, islamisten-nahe und kommunitaristische Politgrüppchen ,Kollektiv Scheikh Yassin“, das in jüngster Zeit durch einen ziemlichen Aktivismus auf sich aufmerksam macht und tatsächlich ziemlich übel ist. (Vgl.20) NPNS-Chefin Sihem Habchi hat angekündigt, dass sie Strafanzeige erstatten möchte (21).

Unterdessen hat ein Teil der französischen Polizei sich „besorgt“ über die Auswirkungen des künftigen Anti-Burqa-Gesetzes geäußert. Viele Beamte sind tatsächlich der Auffassung, dass sie Besseres zu tun hätten, als Zuwiderhandelnde gegen dieses neue Verbotsgesetz zu verfolgen, und dass dadurch nur unnötig zusätzliche Spannungen in „sozialen Brennpunktvierteln“ provoziert werden könnten. (FUSSNOTE22) Aus Pakistan wird inzwischen die unvermeidliche Kampagne islamistischer Parteien oder Gruppen, mitsamt Terrorismusdrohung – vorläufig gegen Belgien als erstes Land mit gesetzlichem Totalverbot, in Bälde wohl auch gegen französische Interessen, lt. ,La libre Belgique’ - vermeldet. (FUSSNOTE23)

Unterdessen hat, aus anderen Gründen, die internationale Menschenrechtsorganisation Amnesty international ihrerseits Frankreich dazu aufgefordert, von einem gesetzlichen Totalverbot die Finger zu lassen (vgl.24).

Fußnoten

1 Die parlamentarische Sitzungsperiode dauert normalerweise von Oktober bis Juni, vgl. http://www.linternaute.com/actualite/dossier/05/vacances-politiques/qu-est-ce-que-les-vacances-parlementaires.shtml

 

Editorische Anmerkung

Den Artikel erhielten wir vom Autor für diese Ausgabe.