"Meine eigene Rolle ist demgegenüber vernachlässigbar"
Ein Gespräch mit Helmut Dunkhase über Perspektiven und Konturen eines Sozialismus des 21. Jahrhunderts

von Hans-Peter Büttner

05/10

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Helmut Dunkhase, seit 40 Jahren in der kommunistischen Bewegung aktiv, kommt das Verdienst zu, das im Jahre 1993 veröffentlichte Buch „Towards a new socialism“ von Paul Cockshott und Allin Cottrell auf Deutsch herausgegeben zu haben. Die deutsche Ausgabe dieses Buches, eine von den Autoren überarbeitete Version mit einem eigenen Vorwort für die deutsche Auflage, wurde im Jahr 2006 im PapyRossa-Verlag veröffentlicht. Zu den Autoren dieses Buches. Paul Cockshott arbeitet am Fachbereich für Computing Science an der Universität Glasgow, Schottland (seine Homepage ist online erreichbar unter http://www.dcs.gla.ac.uk/~wpc/). Er erwarb zunächst 1973 den „Bachelor of Arts“ für Wirtschaftswissenschaften an der Universität Manchester und dann 1976 den Ph.D. in Informationswissenschaften („Computer Science“) an der Universität Edinburgh. Praktische Erfahrungen mit den Informationswissenschaften sammelte er durch verschiedene Arbeiten für Industrieunternehmen. Allin Cottrell ist Wirtschaftswissenschaftler an der Wake Forest University im US-Bundesstaat North Carolina (seine Homepage ist online erreichbar unter http://www.wfu.edu/~cottrell/). Er studierte Politikwissenschaften, Philosophie und Wirtschaftswissenschaften an der Universität Oxford. Seit 1983 lebt der gebürtige Schotte Allin Cottrell in den USA. Er ist Initiator und einer der hauptverantwortlichen Autoren der „Gnu Regression, Econometrics and Time-series LibraryGretl“, eines Open Source-Programmpakets für statistische Berechnungen. Beide Autoren arbeiten seit den siebziger Jahren, als sie sich an der Universität Edinburgh kennenlernten, eng zusammen.

Das Buch „Towards a new socialism“ erschien 1993 natürlich zu einem Zeitpunkt, als die Debatte um die Konstitutionsbedingungen und die institutionelle Ausgestaltung einer sozialistischen Gesellschaftsordnung fast zum Erliegen gekommen war angesichts des Niedergangs der am sowjetischen Modell orientierten Planwirtschaften. Dieses Scheitern beschäftigt Cockshott und Cottrell – im Folgenden auch „C&C“ oder die „Schottische Schule“ genannt – in ihrem Buch ebenso wie die zu bedenkenden Schlußfolgerungen, die daraus zu ziehen sind. Dabei bleiben beide Denker radikale Kritiker des Kapitalismus ohne Zugeständnisse an die heruntergekommene, vollkommen im System aufgegangene „Linke“ im Gefolge von „New Labour“ oder „Neuer Mitte“. Cockshotts und Cottrells konkrete Utopie nimmt nicht zuletzt auch das alte, auf den Österreichischen Ökonomen Ludwig von Mises (1881-1973) zurückgehendes Theorem der Unmöglichkeit einer rationalen Wirtschaftsrechnung jenseits kapitalistischer Funktionsmechanismen auf und hält ihm die Möglichkeit einer rational überlegenen und humaneren Wirtschaftlichkeit auf der Basis einer umfassenden Arbeitswertrechnung entgegen. Kennzeichnend ist hierbei, dass die Autoren konsequent die befreienden Möglichkeiten der modernen Informationswissenschaften und der technologischen Datenverarbeitungssysteme betrachten. Sie knüpfen hierin an die alte marxistische Idee an, dass die Überwindung des Kapitalismus ihren Ausgang nehmen muss von jenen Produktivkräften, welche der Kapitalismus entwickelt hat, deren Potenziale er aber systematisch reduziert auf die eindimensionale Einbindung in den Prozeß der Kapitalverwertung. Wie diese Ressourcen alternativ genutzt werden können, nimmt einen guten Teil der Überlegungen Cockshotts und Cottrells ein.

Die deutsche Übersetzung des Buches kann komplett online heruntergeladen werden unter http://www.dcs.gla.ac.uk/publications/PAPERS/7954/planprojektb-idx.pdf.

Ein Interview mit Paul Cockshott kann auf „Youtube“ eingesehen werden unter http://www.youtube.com/watch?v=5U4e6ALxOhk.

Unter Bezug auf die konkrete Situation in der Europäischen Union haben C&C praktische Vorschläge für einen Transformationsprozeß unterbreitet in ihrem Aufsatz „Ökonomisches Übergangsprogramm zum Sozialismus des 21. Jahrhunderts in der Europäischen Union“ (erschienen im Februar 2010 in dem von Heinz Dieterich herausgegebenen Sammelband „Sozialismus XXI - Übergangsprogramm zum Demokratischen Sozialismus des 21 Jahrhunderts in Europa“. Der Text von C&C ist online verfügbar unter

http://www.puk-online.de/nhp/index.php/de/nhp/puk-downloads/func-startdown/21/).

Das folgende Gespräch mit Helmut Dunkhase (dessen eigene Homepage unter http://www.helmutdunkhase.de/ eine Reihe eigener Arbeiten des Autors enthält) dient sowohl der Einführung in die Gesellschaftstheorie der „Schottischen Schule“ als auch der perspektivischen Debatte ihrer Theoreme.
 

HPB: Das Buch „Alternativen aus dem Rechner“ von Allin Cottrell und Paul Cockshott erschien in erster Auflage auf Englisch unter dem Titel "Towards a New Socialism" im Jahre 1993. Für die kritische Auseinandersetzung mit kapitalistischen Marktwirtschaften und die Propagierung eines sozialistischen Gegenmodells war der Zeitpunkt - Du erwähnst es in Deinem Vorwort - eher ungünstig. In Deutschland wurde das Werk fast gar nicht zur Kenntnis genommen. Hat sich das mit Deiner Übersetzung aus dem Jahr 2006 etwas geändert? Wie wurde das Werk innerhalb der antikapitalistischen deutschen Linken aufgenommen?

HD: Natürlich ist auch hier bei uns das Buch nicht gerade ein Bestseller geworden. Es war in gewisser Hinsicht ein unglücklicher Zufall, dass "Alternativen aus dem Rechner" (der deutsche Titel) zeitgleich mit Heinz Dieterichs "Sozialismus des 21. Jahrhunderts" erschien. So wurde das Buch von C&C durchweg als Anhängsel von Dieterichs Buch rezipiert, ohne dass die Unterschiede wahrgenommen wurden. In der Summierung meiner Erfahrungen – eingeschlossen die Veranstaltungen, auf denen ich das Buch vorgestellt habe – würde ich den Grundtenor als "skeptisch mit einem Schuss freundlicher Aufgeschlossenheit" bezeichnen. Das alles innerhalb einer überschaubaren Population, aber die Tatsache, dass neben der schwedischen, tschechischen und deutschen Übersetzung inzwischen auch eine russische und spanische (Venezuela!) existiert, zeigt meines Erachtens ein Potenzial für Überlegungen in Richtung kommunistischer Produktionsweise an, das nicht so leicht auszulöschen ist. Noch zuversichtlicher stimmt mich, wenn eine so große und einflussreiche kommunistische Partei wie die griechische KKE in ihren gerade verabschiedeten "Thesen über den Sozialismus" zu ähnlichen Schlussfolgerungen wie C&C kommt. Deutschland ist eben auch hier nicht der Nabel der Welt.

HPB: Heinz Dieterich nimmt in seinem Buch positiv Bezug auf C&C weil dort das von ihm und dem 2002 verstorbenen Arno Peters bearbeitete Problem einer umfassenden volkswirtschaftlichen Arbeitswertrechnung als Basis einer sozialistischen Produktionsweise als prinzipiell lösbar vorgestellt wird. Wo siehst Du denn wesentliche Differenzen bzw. Überschneidungen zwischen dem Ansatz von C&C einerseits und Heinz Dieterich andererseits?

HD: Dass Dieterich häufig in einem Atemzug mit C&C genannt wird, liegt offensichtlich – und damit sind wir zunächst bei der Frage nach der Überschneidung – in dem, was gemeinhin „Computer-Sozialismus“ genannt wird. Unter diesem Begriff hat Arno Peters die Überlegungen von Konrad Zuse gefasst, die wir dann in allen wesentlichen Punkten bei Dieterich wiederfinden. Aber die Idee, durch Computer die Produktion nach Bedürfnissen zu steuern, ist bei Dieterich in einen anderen Zusammenhang eingebettet als bei C&C.

Dieterichs Konzeption einer „Äquivalenzökonomie“ beruht auf einem Missverständnis der kapitalistischen Produktionsweise. Schon die von ihm gewählte Bezeichnung „Chrematistik“ (die Kunst, Reichtum zu erlangen) deutet auf Verfehlung in der Kennzeichnung ihres Wesens hin. Ausbeutung (Bereicherung) wird danach durch willkürliche Festsetzung der Preise durch die Kapitalisten erzeugt. („Der Preis in der Marktwirtschaft ist das, was der Revolver beim Banküberfall ist.“) Er verlegt also die Ausbeutung in die Zirkulationssphäre. Seine „Äquivalenzökonomie“ ist weiterhin eine Tauschökonomie, die die Ausbeutung mit einem jetzt „gerechten“ Tausch aufheben will, während die Wirtschaft in den sozialistischen Ländern wegen ihres vorgeblich nicht-äquivalenten Charakters die Ausbeutung „nur nach Marxschen Kategorien, nicht aber in Wirklichkeit“ beseitigt habe.

Zwar hat Dieterich zur Kenntnis genommen, dass sich die Arbeitsinhalte der Produkte, die als Grundlage des Tauschs dienen sollen, berechnen lassen, nicht aber die Tatsache, dass sich in hochindustrialisierten Ländern die Waren in hohem Maße auch gemäß der in ihnen enthaltenen Arbeitszeit austauschen. Kapitalistische Wirtschaft lässt sich, so gesehen, durchaus als Äquivalenzökonomie auffassen.

Wenn es nur auf den gerechten Tausch (der im übrigen auch etwa zwischen hoch industrialisierten und Entwicklungsländern gelten soll) ankommt, nimmt es kein Wunder, dass Dieterich die Eigentumsfrage gering schätzt und ihr die „demokratische Selbstbestimmung des unmittelbaren Produzenten über den Exploitationsgrad seiner Arbeit“ auf betrieblicher Ebene gegenüberstellt.

Ungeachtet dieser Unzulänglichkeiten kommt Dieterich jedoch das Verdienst zu, C&C in Lateinamerika und teilweise auch bei uns bekannt gemacht zu haben, und ohne sein Zutun wäre sicherlich nicht die spanische Übersetzung ihres Buches, das vom venezolanischen Ministerium für Schwerindustrie veranlasst wurde, zu Stande gekommen.

HPB: Kommen wir nun zur konkreten Utopie von C&C, bevor wir später noch einmal zur Situation in Venezuela zurück kommen. Es gibt ja die alte Sozialismus-Kritik des Österreichischen Nationalökonomen Ludwig von Mises aus den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts, zusammengefaßt in seinem Werk „Die Gemeinwirtschaft“. Mises vertrat die auch heute noch sehr populäre Ansicht, daß eine sozialistische Planwirtschaft prinzipiell an ihrer Ineffizienz und Ressourcenverschwendung zugrunde gehen müßte, denn ohne den dezentralen kapitalistischen Modus der Informationsverarbeitung über den Markt fehle ein rationales System der Ressourcenbewertung und des rationellen Einsatzes dieser Ressourcen. Nun sollte man m.E. Mises’ Einwände auch als Linker nicht vorschnell vom Tisch wischen, auch wenn sie aus einer Zeit vor Erfindung des Computers, der Input-Output-Rechnung und der linearen bzw. nicht-linearen Optimierung stammen. Mit Bezug auf die sozialistischen Staaten sowjetischen Typus’ kann man ja nicht gerade von einer Erfolgsstory sprechen. Wie sehen C&C die Ursachen dieses epochalen Desasters und wie gehen sie konkret in ihre eigene Programmatik ein?

HD: Mises brachte im Zusammenhang mit der Beurteilung der Verwendbarkeit der Arbeit für die „Wertrechnung eines sozialistischen Gemeinwesens“ zwei Einwände gegen die Arbeitswerttheorie vor: Die Gratisgaben der Natur gingen nicht in die Wertrechnung ein, und der zweite Mangel bestünde darin, dass die „Arbeitsrechnung“ der Heterogenität der Arbeit nicht gerecht werden könne.

Der erste Einwand ist berechtigt. Doch wer ihn vom Standpunkt der Marktwirtschaft erhebt, sitzt im Glashaus, denn die Naturressourcen lassen sich durch Marktpreise genau so wenig rational bewerten. Eine Planwirtschaft, in der die gesellschaftlichen Interessen artikuliert und durchgesetzt werden können, hat auch hier die besseren Karten.

Der zweite Einwand ist in der Tat auch heute noch virulent. Während die formale Machbarkeit einer detaillierten volkswirtschaftlichen Planung immer weniger in Zweifel gezogen wird, erscheint vielen die Heterogenität der Arbeit als ein ernstes Hindernis in der Planerstellung. C&C haben in ihrem Buch vorgeschlagen, wie sich im Rückgriff auf die Abschätzung der „Produktions“-Kosten einer qualifizierten Arbeitskraft deren Arbeitszeit bewerten lässt.

Den Ausdruck „epochales Desaster“ mag ich nur akzeptieren, wenn der epochale Fortschritt, der dem „Desaster“ voran ging, mitgedacht wird. Mit der Oktoberrevolution wurde ja (zum zweiten Mal, nach der Pariser Commune) das Buch einer neuen Epoche aufgeschlagen: die Epoche von Gesellschaften, die sich auf einer kommunistischen Produktionsweise gründen.

Zur Beurteilung der sozialistischen Staaten und insbesondere der Sowjetunion gehen C&C auf das zurück, was Marx das „innerste Geheimnis, die verborgene Grundlage der ganzen gesellschaftlichen Konstruktion“ nannte: die Art und Weise, in der das Mehrprodukt aus den unmittelbaren Produzenten herausgepumpt wird (MEW 25, 799f).

Das innerste Geheimnis einer sozialistischen Ökonomie (Sozialismus hier als erste Stufe des Kommunismus verstanden) besteht in der Notwendigkeit, das Mehrprodukt zentral anzueignen, kodiert über den staatlichen Plan, der auf der Totalität der Gesellschaft operiert. Das passiert über eine  politisch determinierte direkte Verteilung der materiellen Güter (statt einer indirekten als Resultat von Tauschbeziehungen wie im Kapitalismus). Die Konsequenzen: der zentrale Charakter des Staates; Unterordnung der einzelnen Betriebe unter die Zentrale; Unterordnung des Individuums unter das Kollektiv; Dominanz der Politik des Staates über die Zivilgesellschaft. Diese zwingenden Konsequenzen konnten wir in den sozialistischen Staaten mehr oder weniger beobachten. In diesem Sinne waren sie genuin sozialistisch.

Aber auch Erscheinungen wie der charismatische Führer nebst Personenkult oder Terror waren plausible Formen des politischen Überbaus – wenn sie auch nicht zwingend für jeden Sozialismus sind. Das erwähne ich hier, um auf die Schärfe des Problems – man könnte es das Totalitätsproblem des Sozialismus nennen – aufmerksam zu machen, das sich aus der Notwendigkeit der zentralen Aneignung des Mehrprodukts ergibt.

C&C meinen, dass Lenin mit seiner Forderung nach einer gewissen „Rückkehr“ zu einem „primitiven Demokratismus“ („Staat und Revolution“) nicht weit genug gegangen sei, weil er weiterhin an Vertretungskörperschaften festhalte. Jegliche Selektion per Wahl folgt jedoch einem Gesetz, das dem Ziel einer proletarischen und – im Kommunismus – der Demokratie schlechthin widerspricht: Die durch Wahl bestimmten Repräsentanten einer Population entsprechen niemals einer repräsentativen Stichprobe der Repräsentierten, sondern bestenfalls – wie Aristoteles schon wusste – zur Aristokratie, zur Herrschaft der Besten. (Und ein Vergleich der illustren Repräsentanten der ersten Bolschewiki-Generation mit denen des letzten Politbüros der Sowjetunion zeigt, dass auch dies im Laufe der Zeit nicht mehr gilt.) Die einzig wissenschaftlich korrekte Methode, um die Trennung von Regierenden und Regierten aufzuheben – so C&C – ist die Auswahl durch Los.

Ganz allgemein ließe sich sagen, dass aus dem ökonomischen Zwang zur zentralen Extraktion des Mehrprodukts unzureichende politische Konsequenzen gezogen wurden. Und als Ende der 1950er Jahre durch Einführung von Marktelementen, Dezentralisierung u. a. die zentrale Planung und das gesellschaftliche Eigentum geschwächt wurde, begann die kommunistische Produktionsweise und mit ihr das kommunistische Bewusstsein zu erodieren.

Auch im engeren Sinne ökonomische Mängel trugen zum schließlichen Untergang bei: Über absurde Preisrelationen gab es bekanntlich viele Geschichten zu erzählen. Das Preisproblem bekam man nie in den Griff, und es ist ja auch objektiv unlösbar, wenn man Geld – was freien Tausch zur Voraussetzung hat – mit Planwirtschaft unter Gemeineigentum an den Produktionsmitteln verbinden will.

Ferner machen C&C einen Mangel aus, der die Steigerung der Arbeitsproduktivität wesentlich hemmte: der verschwenderische Umgang mit der Arbeit(szeit). Wird Arbeit künstlich billig gehalten, gibt es keinen Antrieb, Arbeitszeit einzusparen – was der Sinn neuer Technologien ist. In der SU (und den anderen sozialistischen Ländern) waren die Löhne gering, weil Nahrungsmittel, Wohnung, soziale Daseinsfürsorge u.a. subventioniert waren, d.h. aus den Gewinnen der staatlichen Betriebe finanziert wurden. Gewinne werden gemacht, indem die Löhne niedrig gehalten werden und niedrige Löhne bedeuten Festhalten an den Subventionen.

Schließlich gab es Probleme im Planungsmechanismus selbst. Materialbilanzen (die meist in physischer Form, weniger in monetärer gemacht wurden) konnten bei komplexer werdender Verflechtung nicht mehr mit der Hand angefertigt werden. Spätestens in den 1960er Jahren wußten die sowjetischen Kybernetiker zwar, wie sich die Planung der gesamten Volkswirtschaft mathematisch beherrschen lässt und in privilegierten Bereichen wie der Raumfahrt hatte man damit auch Erfolge, aber die rechentechnische Basis war insgesamt dafür noch nicht vorhanden.

C&C sehen die Tragik der Nachkriegsentwicklung der SU darin, dass, als die Planer zu einer konsequenten Planung bereit waren, die rechentechnische Basis nicht vorhanden war, und als diese vorhanden war, der Zug bereits in Richtung „sozialistischer Warenproduktion“, „Marktsozialismus“ und schließlich „freie Marktwirtschaft“ abgefahren war.

Beiden Problemen, dem verschwenderischen Umgang mit der Arbeit und der Befähigung zu einer detaillierten Planung einer hoch entwickelten Volkswirtschaft begegnen C&C mit ihrem Modell einer computergestützten Planung auf der Basis der Arbeitszeitrechnung.

HPB: Unterteilen wir mal zur besseren analytischen Betrachtung das Problem in 3 – logisch natürlich nicht isoliert zu betrachtende – Untersuchungsfelder. Ich schlage vor, hier erstens das technische Untersuchungsfeld zu betrachten, das sich um die Informationsverarbeitung und eine konsistenten Arbeitswertrechnung für alle Produkte und Dienstleistungen dreht. Zweitens würde ich ein soziales Untersuchungsfeld sehen, in welchem die Eigentumsordnung (also das Rechtssystem) wie auch das politische System bzw. der demokratische Diskurs thematisiert werden. Drittens halte ich die gesonderte Betrachtung der subjektiven Voraussetzungen ("subjektiver Faktor"), also der Motivation der Menschen und ihrer inneren Einstellung zum Ordnungszusammenhang, für sinnvoll.

Im Wesentlichen korrespondiert das technische Untersuchungsfeld mit Effizienz, das soziale mit Diskurs und Verständigung, das subjektive mit Gerechtigkeit. Wo eine Gesellschaftsordnung längerfristig ineffizient ist, ihre soziale Verständigungsbasis unterminiert oder als ungerecht wahrgenommen wird entsteht ein Legitimationsproblem. Der Kapitalismus krankt meines Erachtens in allen drei Bereichen, wir können das auch gleich noch mal etwas ausführlicher erörtern. Der Staatssozialismus sowjetischen Typs hatte allerdings auch große Probleme im Bereich Effizienz, demokratischer Diskurs und Gerechtigkeit gehabt, bei allen Sympathien für dieses große historische Projekt. C&C gehen nun m.E. in allen drei Untersuchungsfeldern neue Wege. Das macht ihre konkrete Utopie so faszinierend und gibt ihr eine große Strahlkraft. Wenn wir mal Punkt 1, die technische Effizienz nehmen, die hier durch den Einsatz modernster Computertechnologie zur umfassenden und nahezu in Echtzeit zu realisierenden Erfassung des volkswirtschaftlichen Kreislaufs gewährleistet werden soll; hier scheinen mir ungeheure Möglichkeiten zu "schlummern" und auch große Potentiale gesellschaftlicher Transparenz (was dann wiederum auf die Punkte 2 und 3 positiv ausstrahlt). Wo siehst Du die besonderen Potentiale (auch im Vergleich zur kapitalistischen Produktionsweise) dieses Systems der Wirtschaftsrechnung? Wird hier von C&C nicht die alte Idee konsequent weiter gedacht, daß in den kapitalistischen Produktivkräften ganz ungenutzte, emanzipatorische Möglichkeiten schlummern?

HD: Zunächst sollten wir die elementaren Dinge nicht vergessen. Satt zu essen, Dach überm Kopf, Zugang zu Bildung und gesundheitlicher Versorgung – für alle: Was der Kapitalismus in 200 Jahren, selbst in seinen Zentren, nicht geschafft hat, hat der Sozialismus, zumindest in der Sowjetunion, Europa und auf Kuba innerhalb kurzer Zeit erreicht. Wir wissen auch, dass im Kapitalismus Krisen und damit Verschwendung gesellschaftlicher Arbeitszeit gesetzmäßig, also keine zufälligen Systemstörungen sind. Dennoch bleibt der Fakt: Die entscheidende Schlacht um die Arbeitsproduktivität haben wir verloren; denn auch der Sozialismus hatte systemische Mängel. Über die Gründe – und ihren Zusammenhang mit den von dir genannten drei Untersuchungsfeldern – wurde schon einiges gesagt. Es waren allerdings Mängel, die nicht jedem Sozialismus anhaften müssen.

Ich denke, der entscheidende Knackpunkt liegt in der Verbindung von computergestützter Planwirtschaft mit der Arbeitszeit als Recheneinheit. Planung auf der Grundlage der Arbeitszeit gehörte bis Anfang des 20. Jahrhunderts zum Kanon marxistischer Vorstellungen über die kommunistische Produktionsweise. Nicht zuletzt wegen der verlorenen theoretischen Schlacht gegen die Österreichische Schule (Mises, Hayek) in den 1920er Jahren wurde diese Position zurückgedrängt. Nur in einem Papier der Gruppe internationaler Kommunisten in Holland (1930) tauchte der Gedanke der Arbeitszeit als Recheneinheit wieder auf und in der Sowjetunion geriet er nur dank Strumilin nicht ganz in Vergessenheit.

Nach der seit der zweiten Hälfte der 1950er Jahre vorherrschenden Meinung der Ökonomen in den sozialistischen Ländern war die Aufhebung der Warenform mit der Aufgabe der ökonomischen Rationalität verbunden, weil ohne Warenproduktion der Aufwand an gesellschaftlicher Arbeit nicht gewonnen werden könne. Sie verkannten damit, dass mit der Warenform zwar die Wertform verschwindet, die Substanz der Wertgröße, die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit jedoch bleibt – und die lässt sich eben, wie C&C in ihrem Buch darstellen, mittels moderner Computertechnik in angemessener Zeit berechnen. Damit lassen sich die in den Produkten enthaltenen Arbeitszeiten viel effektiver aufeinander beziehen als es jede Marktwirtschaft vermöchte. Im Übrigen gibt es gute, informationstheoretische Argumente dafür, dass, entgegen der Behauptung Hayeks, die zur Stabilisierung einer Ökonomie erforderlichen Informationsflüsse in einer zentralen Planwirtschaft schneller und geringer sind als in einer Marktwirtschaft

Ein weiterer Effektivitätsgewinn betrifft das Finden der besten Produktionsmethode für gleiche Produkte. Im Kapitalismus werden die Firmen durch die Konkurrenz zur kostengünstigsten Produktionsmethode getrieben – auf ziemlich unvollkommene Weise, wie ihre Verteidiger auch zugeben. In einer Planwirtschaft mit unterstelltem einheitlichen Einkommen pro geleisteter Arbeitsstunde für jeden Arbeiter kann ein ineffektiv arbeitender Betrieb nicht in niedrigeren Löhnen Zuflucht finden. Es gibt (statistische) Methoden, mit denen sich die Differenzen in der Produktionseffizienz sofort aufdecken lassen. Und an die Stelle des Betriebsgeheimnisses treten Internetforen, in denen die besten Lösungen diskutiert werden können. Eine Antizipation einer solchen kommunistischen Produktionsweise kennen wir ja schon etwa mit dem in weltweiter Kooperation voran getriebenen Projekt des Linux-Betriebssystems.

Im Kapitalismus wurden in der Tat alle notwendigen Produktivkräfte hervorgebracht, derer wir uns jetzt in emanzipatorischer Weise bedienen können. Die meisten, für die Erfassung der ökonomischen Verflechtung erforderlichen Daten liegen vor – in den einzelnen Betrieben in Form von Spreadsheets für den Einkauf. Die meisten Supermärkte benutzen ein Feedbacksystem, durch das sie genau wissen, wieviel von jedem Produkt verkauft worden ist. Elektronisch erfassbare Produktkodierung lässt den Weg jeder Schraube eines Airbus 380 verfolgen...

Eine besondere Pointe im Verhältnis von Produktivkraftentwicklung und Produktionsverhältnissen bietet das theoretische Hauptwerkzeug der ökonomischen Planung, die Input-Output-Analyse. Ihr wesentlicher und später mit dem Nobelpreis geehrter Begründer, Wassily Leontief, nahm als blutjunger Ökonom noch an den Vorbereitungen des ersten Fünfjahrplans in der SU teil, verließ dann aber – zu ihrem Unglück – die SU und wurde Harvard-Professor. In den Produktionsverhältnissen, mit denen er es nun zu tun hatte, konnte dieses theoretische Werkzeug nur in beschränkter Weise wirksam werden. Die sozialistischen Länder wiederum hatten – das wäre eigentlich die zweite Pointe – ideologische, aber sachlich unbegründete Hemmungen. In dem von C&C vorgeschlagenen Konzept einer kommunistischen Produktionsweise kann die Input-Output-Rechnung zweierlei Wirkung entfalten: zu einer hochgradig effektiven Ökonomie beitragen und gleichzeitig die Transparenz erhöhen. Mit der Arbeitszeitrechnung wird die Arbeit auf ihre Rolle als – wie Adam Smith schrieb - „erster Preis“ oder „ursprüngliches Kaufgeld“ zurückgeführt. Dem Etikett auf der Verpackung entnehme ich, dass ein halbes Pfund Butter zwei Minuten gesellschaftlicher Arbeit enthält. In den öffentlichen Debatten über die globalen gesellschaftlichen Parameter muss ich mich entscheiden, wie viel Prozent meines als Arbeitszeit ausgewiesenen Einkommens ich für das Gesundheitssystem, die Renten oder die Akkumulation abzuzweigen bereit bin. Aus Spareinlagen finanzierte Kredite stellen sich dar als Anzahl von Arbeitskräften, die aus der Produktion von Konsumtionsgütern abgezogen werden können...

HPB: Dies scheint mir dem von Marx im „Kapital“ (MEW 23, S. 93) erörterten „Verein freier Menschen“ sehr nahe zu kommen, denn für Marx zeichnet sich diese Gesellschaftsform auch zentral aus durch ihren rationalen Umgang mit der Arbeitszeit. Letztere dient hier „als Maß des individuellen Anteils des Produzenten an der Gemeinarbeit und daher auch an dem individuell verzehrbaren Teil des Gemeinprodukts. Die gesellschaftlichen Beziehungen der Menschen zu ihren Arbeiten und ihren Arbeitsprodukten bleiben hier durchsichtig einfach in der Produktion sowohl als in der Distribution“. Diese „Durchsichtigkeit“ ist zweifellos ein wichtiger Punkt wenn wir wie Marx das Ziel formulieren, daß der „gesellschaftliche Lebensprozeß“ sich frei vergesellschaftender Menschen, wie Marx sagt, unter deren „bewußter planmäßiger Kontrolle“ zu stehen hat. Diese bewußte, transparente Kontrolle einerseits und eine rationale Verfügung über das gesellschaftliche Arbeitsvermögen andererseits hängen logisch eng zusammen. Im sozialistischen Chile Salvador Allendes wurde von 1971 bis 1973 von dem britischen Informationswissenschaftler Stafford Beer ein sehr rudimentärer Vorläufer von C&C's konkreter Utopie, „Cybersyn“ genannt, aufgebaut, um das ökonomische Verflechtungssystem näherungsweise handhabbar machen zu können. Nach dem faschistischen Putsch vom 11. September 1973 wurde „Cybersyn“ umgehend komplett zerstört. Hier haben Faschisten und Wirtschafts-“Liberale“ offenbar mit großem „Klassenbewußtsein“ gehandelt, stand Stafford Beers Projekt doch offenbar für eine erste Form „bewußter planmäßiger Kontrolle“ der Chilenen über ihr gesellschaftliches Arbeitsvermögen.

HD: Du hast völlig Recht, bewusste planmäßige Kontrolle steht diametral marktliberaler Ideologie gegenüber. Hayeks Theorie umfasst eine anthropologische Fundierung individuellen Markthandelns, das gemeinsame Ziele und Gestaltung von Lebensbedingungen ausschließt. Alle kollektiven Erscheinungen müssten als unbeabsichtigte Folge von Entscheidungen bewusst agierender Individuen begriffen werden, die keiner wissenschaftlichen Erfassung zugänglich seien. In der Praxis zeigte sich das in seinem persönlichen Kontakt zu Pinochet und dem maßgeblichen Einfluss auf die Verfassung der Militärdiktatur von 1980.

Auch diese Erfahrungen belegen wie wichtig es ist, die Theorien der Marktliberalen zu kritisieren und zu kontern und ihnen ein moralisch und philosophisch kohärentes marxistisches Projekt entgegenzusetzen.

So rudimentär die Versuche im Chile Allendes auch waren, zeigen sie doch zwei notwendige Bedingungen zur Erhebung einer menschlichen Population zu einem „Verein freier Menschen“ an:

a) ein bestimmter Entwicklungsstand der Produktionsverhältnisse. Die waren in Chile noch weit entfernt von denen der Sowjetunion oder Kubas (mit denen Beer ironischer Weise nicht so viel zu tun haben wollte); so beschränkte sich die Perspektive auf den – allerdings schnell wachsenden – staatlichen Sektor.

b) ein bestimmter Entwicklungsstand der Produktivkräfte. Die Arbeitszusammenhänge einer urkommunistischen Horde (wenn es denn so etwas gegeben hat) sind unmittelbar durchsichtig, weil den Bereich der sinnlichen Wahrnehmung nicht überschreitend. Für die Lösung des oben genannten Totalitätsproblems der kommunistischen Produktionsweise – für das ich das Leibnizsche Monadenmodell ganz passend finde: In jeder Monade (individuellen Substanz) spiegelt sich die ganze Welt, aber mit jeweils einer eigenen, einzigartigen Perspektive – ist die elektronische Datenverarbeitung ein mächtiges Hilfsmittel. Der Computer stellt durch die Möglichkeit, mit jedem beliebig entfernten Ort in Echtzeit zu kommunizieren, sozusagen eine Verlängerung der menschlichen Sinne dar und liefert damit einen Beitrag für die Reproduktion des (Ur)-Kommununismus auf der Höhe unserer Zeit.

HPB: Um für eine kommunistische Gesellschaft die verfügbaren Ressourcen, den Stand der Technik und die materiellen Bedürfnisse der Menschen zu ermitteln, bestehen zweifellos keine prinzipiellen Probleme. Weniger einfach sehe ich die tatsächliche Ermittlung von Arbeitswerten, die ja hier nicht über den Markt mittels Wertform geschehen soll. Außerhalb der Realabstraktion des Marktes existieren aber nur heterogene Arbeitsverausgabungen, denen ihr gesellschaftlicher „Wertcharakter“ nicht anzusehen ist. Wie kann ich mir demzufolge diese Arbeitswertrechnung außerhalb der Marktform vorstellen? Wie wird hier die gesellschaftliche Dimension der zunächst nicht unmittelbar gesellschaftlichen Arbeiten in den entsprechend einheitlichen Ausdruck gebracht, so daß die widerspruchsfreie Quantifizierung der heterogenen Arbeiten möglich wird?

HD: Der Arbeitswert eines Produkts (streng genommen sollte man nach Aufhebung der Wertform nur von Arbeitsinhalten oder Arbeitszeitquanten sprechen) lässt sich bestimmen, wenn man die Verflechtung des Produkts in der Produktion kennt. Angenommen, eine Volkswirtschaft bestehe aus den vier Produkten Eisen, Kohle, Weizen und Brot. Jede Produktionsstätte für Eisen weiß, ob oder wie viel physikalische Einheiten Kohle, Weizen, Brot oder Eisen selbst für die Herstellung einer physikalischen Einheit Eisen benötigt wird. Das Gleiche gilt die Produktion der anderen Güter. Ferner weiß jeder Betrieb, wie viel lebendige Arbeit verausgabt wird. Das genügt, um – mit der genannten Input-Output-Rechnung von Leontief – die Arbeitsinhalte der einzelnen Produkte zu berechnen. Ferner ist ein Verfahren erforderlich, mit dem die Erreichbarkeit der errechneten Planziele überprüft und gegebenenfalls reduziert bzw. optimiert werden können. Da es zwischen den Produktionsstätten keine horizontalen Beziehungen gibt, müssen die Planer in der Lage sein, die Berechnungen im Detail auszuführen, das heißt eine Anzahl von Produkten im 10-Millionen-Bereich bewältigen zu können. Für all diese genannten Aufgaben gibt es geeignete Hardware und Rechenverfahren, mit denen die erforderlichen Rechnungen in handhabbarer Zeit bewältigt werden können.

Die Frage nach der Quantifizierung heterogener Arbeit ist natürlich berechtigt. Wird die Arbeit einer Ingenieurin mit der eines Fließbandarbeiters einfach gleichgesetzt, kann kein vernünftiges Ergebnis herauskommen. Nun, es wird „einfache“ Arbeit als normierte Arbeit zu Grunde gelegt; insoweit zählt eine Stunde lebendige Ingenieursarbeit genauso wie eine Stunde Fließbandarbeit. Aber in der qualifizierten Arbeitskraft steckt die geronnene Arbeit des Qualifizierungsprozesses. Diese geronnene Arbeit wird wie bei einer Maschine im Laufe des Arbeitsprozesses auf das Produkt übertragen. Im Buch von C&C wird vorgeführt, wie es bei einer Ingenieurin nach Abschätzung der Qualifizierungskosten (natürlich in Arbeitszeiten gemessen) und unter der Voraussetzung, dass die Übertragungsrate für die Qualifizierten dieselbe wie für die Qualifizierenden ist, zu einer Übertragungsrate von, sagen wir, 0,33 kommt. Da im Unterschied zu einer Maschine, die nur vergangene Arbeit überträgt, die Ingenieurin gleichzeitig lebendige Arbeit verrichtet, ist ihre Arbeitsstunde mit 1+0,33, also 1,33 Stunden zu bewerten und in der langfristigen Planung zu berücksichtigen. Daraus lässt sich übrigens in keiner Weise eine entsprechend bessere Bezahlung herleiten. Die Ausbildung wird ja von der Gesellschaft finanziert.

HPB: Wenn ich Dich richtig verstehe findet in dem von Cockshott und Cottrell vertretenen ökonomischen Modell also eher eine Arbeitszeit- als eine Arbeitswert-Rechnung statt. Im Prinzip löst sich hier, wie Marx das in den "Grundrissen" fordert, die Ökonomie konsequent in "Ökonomie der Zeit" auf. Marx (MEW 42, S. 89) fährt in diesem Text fort: "Ebenso muss die Gesellschaft ihre Zeit zweckmäßig einteilen, um eine ihren Gesamtbedürfnissen gemäße Produktion zu erzielen; wie der Einzelne seine Zeit richtig einteilen muss, um sich Kenntnisse in angemessenen Proportionen zu erwerben oder um den verschiedenen Anforderungen an seine Tätigkeit Genüge zu leisten. Ökonomie der Zeit, sowohl wie planmäßige Verteilung der Arbeitszeit auf die verschiedenen Zweige der Produktion, bleibt also erstes ökonomisches Gesetz auf Grundlage der gemeinschaftlichen Produktion". Es liegt also von der Aufgabenstellung her durchaus nahe, so zu verfahren wie Cockshott und Cottrell, und direkt mit Arbeitszeitquanten zu arbeiten, denn die Reduktion komplizierter auf einfache Arbeit läßt sich hier genauso berechnen wie unterschiedliche Arbeitsproduktivitäten (Zeit also im Verhältnis zum Output).

Läßt sich der Ansatz von C&C somit im Kern als Antwort auf die von Marx vor 150 Jahren aufgeworfenen Frage nach einem rationalen und humanen Umgang mit der gesellschaftlichen „Produktivkraft Arbeit“ verstehen?

HD: Da das von C&C vertretene Modell schon eine Produktionsweise einschließt, in der die Wertform verschwunden ist, sollten wir von Arbeitszeit- statt Arbeitswertrechnung sprechen. Marx hat, glaube ich, nur ein einziges Mal von „Wert“ im Zusammenhang mit der kommunistischen Produktionsweise gesprochen (MEW 25, S. 859), und auch dort nur von „Wertbestimmung“ im Sinne von „Wertgröße“. (Hier tritt die Rolle der Arbeitszeit übrigens noch klarer hervor als in dem von Dir zitierten Text.) Von der Wertgröße bleibt aber ja – wie schon erwähnt – deren Substanz, die im Produkt enthaltene gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit, beim Übergang zur neuen Produktionsweise enthalten. Und das Wertgesetz wird nicht „abgeschafft“ (und damit auch nicht, wie sich ein hartnäckiges Vorurteil hält, die ökonomische Rationalität), sondern in der neuen Produktionsweise „aufgehoben“: War es der Tausch der Waren gemäß ihren Arbeitswerten, d.h. gemäß der in ihnen enthaltenen Arbeitszeiten, wodurch sich die Rationalität herstellte, so ist es nun die direkte Kombination bzw. Rekombination der Produkte gemäß ihren Arbeitszeiten. Wir haben es weiterhin mit einem Regime der abstrakten Arbeit und mit einer Ökonomie der Zeit zu tun.

Deine Frage klingt ein bisschen aus der Perspektive des „jungen Marx“ oder einer „Philosophie des Menschen“ nach dem zu findenden Stein der Weisen gestellt. Marx und Engels stellten jedoch schon in der „Deutschen Ideologie“ klar, dass Kommunismus nicht die Verwirklichung vorgestellter Ideale ist, sondern „die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt“. Das Buch von C&C wurde in Verteidigung der Planwirtschaft in den damals noch existierenden sozialistischen Ländern Europas zu schreiben begonnen und steht insofern mit seinen Problemstellungen und Vorschlägen in der Kontinuität der kommunistischen Bewegung. Heute ist es als ein Vorschlag für den (Neu-)Einstieg in den Kommunismus auf der Höhe der wissenschaftlich-technischen Erkenntnisse und Errungenschaften des beginnenden 21. Jahrhunderts zu lesen, das einen Kontrapunkt zum offenbar immer noch nicht abgeschlossenen Erosionsprozess innerhalb der kommunistischen Bewegung setzt. Ihr Vorschlag ist aber weit entfernt von dem, was Marx die höhere Phase des Kommunismus nannte, wo „alle Springquellen des genossenschaftlichen Reichtums voller fließen“ und wo wir morgens jagen, nachmittags fischen und nach dem Essen kritisieren können. Der Oktoberrevolution war solch ein Einstieg auf der Höhe der Zeit nicht vergönnt, weil sie in einem rückständigen Land stattfand und in den entwickelten Ländern keine Fortsetzung fand. Auch wir werden uns die Bedingungen für den Aufbau des Kommunismus nicht aussuchen können und sollten uns ständig vor Augen halten, dass der Feind vor keinem Verbrechen zurückschrecken wird.

HPB: Wenden wir uns nun nach der Frage der technischen Effizienz dem Problemkreis der Rechtsordnung und der Struktur der Öffentlichkeit zu. Zunächst einmal sollte eine sozialistische Gesellschaft sich zentral darüber definieren, daß sie an die Stelle systemischer Sachzwänge – wie sie für den Kapitalismus so zentral sind – freie Diskurse stellt. C&C behandeln diese Thematik in Kapitel 12 "Über Demokratie" in ihrem Buch "Alternativen aus dem Rechner". Sie vertreten ein ausgesprochen basisdemokratisches Modell mit einer hohen Politisierung der Bevölkerung. Der Kern scheint mir einerseits darin bestehen, die modernen Medien zu nutzen, um einen sehr breiten Raum für öffentliche Diskurse zu schaffen. "Technisch ist es kein Problem, jeden Fernseher mit einem Abstimmungsgerät auszurüsten, das es uns ermöglicht, nach einer repräsentativ besetzten Studiodebatte abzustimmen" schreiben sie auf Seite 226. Dabei ist es zentral, daß "das Recht auf den kostenlosen Zugang zu den Fernsehgeräten und Wahltelefonen durch die Verfassung garantiert" wird (S. 227). Das andere wichtige Standbein sehe ich im von C&C bevorzugten Räte-System, das durch Auslosung (statt durch Wahlkämpfe einer professionellen Politikerkaste) besetzt wird. Insofern würde hier ein "Staat ohne Staatsoberhaupt, ohne die Hierarchie, die einen auf der Ausbeutung einer Klasse beruhenden Staat kennzeichnet" (S. 229), aufgebaut. Das ökonomische System wäre so umfassend eingebettet in eine sehr politisierte, lebendige Basisdemokratie. Kann nicht insofern davon gesprochen werden, daß die "Alternativen aus dem Rechner" neben dem Problem einer sozialistischen Rechnungsführung auch das alte Problem einer lebendigen, egalitären Demokratie zu lösen suchen?

HD: ... man könnte auch sagen: Demokratie ohne weitere Attribute. Du erwähnst mit Recht den Zusammenhang des ökonomischen Systems mit der Demokratie. Demokratie ist nicht zu haben ohne gleichberechtigte und gleichgestellte Individuen. Die égalité als Voraussetzung für Demokratie kann nicht genug betont werden.

Ihre materielle Verankerung besteht erstens in der Art und Weise der Verteilung des Mehrprodukts: proportional zur verausgabten Arbeitszeit, unabhängig vom Qualifizierungsgrad der Arbeit. Während die Verschiedenheit der Arbeit – wie wir gesehen haben – gesellschaftlich anerkannt wird (und sich als solche im Plan niederschlägt), ist es wichtig, dass Menschen mit unterschiedlichen Fertigkeiten und Fähigkeiten gleich „bezahlt“ werden. Die kapitalistische Realität lehrt uns, dass das Einkommen nicht nur die Kaufkraft bestimmt, sondern auch ein Statussymbol darstellt und auf das Selbstwertgefühl einwirkt. Höhere Einkommen korrelieren mit höherem kulturellen und Bildungsstandard. Gleiche Bewertung der Arbeit wird den bisher Unterprivilegierten das Selbstvertrauen geben, nach kultureller und bildungsmäßiger Gleichheit zu streben.

Zweitens kann so lange nicht von einer demokratischen Entscheidungsfindung gesprochen werden, wie es dominierende Partikulärinteressen gibt, die auf ökonomischer Macht beruhen. Eine solche Möglichkeit ist durch das vorherrschende Gemeineigentum an den Produktionsmitteln ausgeschlossen.

Auf dieser materiellen Basis ein befriedigendes demokratisches Modell zu errichten, wird wahrscheinlich ein langwieriger, schwieriger Prozess. Die Vorschläge von C&C als Basisdemokratie zu bezeichnen, ist nicht falsch; treffender wäre jedoch – wie im Untertitel des Buches auch ausgewiesen -, von direkter Demokratie zu sprechen. Basisdemokratie wird gemeinhin, wenn wir einmal die Zapatistas als Idealtypus nehmen, mit Vorstellungen autonomer lokaler Strukturen verbunden. Wir haben hier aber das Problem zu lösen, ein außerordentlich zentrales Moment, die - wenngleich die im Idealfall auf die „Verwaltung von Sachen“ reduzierte - Staatsmaschine in den Dienst der Bevölkerung zu stellen. Dazu müssen der direkte Weg (öffentlich gesamtgesellschaftliche Debatten mit Abstimmungen, Volksabstimmungen, usw.), Transparenz (in Arbeitszeit ausgewiesene und nachvollziehbare Konsequenzen alternativer Vorschläge) und die Eliminierung der Unterschiede von Regierenden und Regierten (Auswahl durch Los) erreicht werden. Um diese Erfordernisse ranken sich die Vorschläge von C&C. Falls sich diese Vorschläge als tragfähig erweisen, hätten wir es in Tat mit einer lebendigen, egalitären Demokratie zu tun.

HPB: Im Prinzip scheint es mir deshalb auch so, daß hier in der Tat neben dem Kapital auch der Staat als gesellschaftliches Verhältnis überwunden würde, denn die von Dir beschriebene institutionelle Struktur würde herzlich wenig mit jener Organisationsform gemein haben, die wir heute als „Staat“ bezeichnen. Insofern dürften auch die Standardeinwände von wegen einer – staatszentrierten – sozialistischen Diktatur, in welcher „die bolschewistische Partei sich an die Stelle des Proletariats setzte, das Zentralkomitee an die Stelle der Partei und schließlich der oberste Führer an die Stelle des Zentralkomitees“ („Alternativen aus dem Rechner“, S. 221), argumentativ nicht besonders gut dastehen. Der Grad der institutionellen Transparenz sowie der engen Rückbindung der Institutionen an die Bedürfnisse der Menschen und ihre freie Verständigung über ihre gesellschaftlichen Ziele scheint mir hier äußerst hoch zu sein.

HD: Dass das Kapital als gesellschaftliches Verhältnis überwunden wäre, ist klar. Das gilt aber nicht gleichermaßen für den Staat. Denn auch in der Demokratie (ohne Attribut) bleibt der Staat – auch wenn er ohne Hierarchie und (gewählte) Repräsentanten auskommt – eine organisierte Macht, in der die Minderheiten gezwungen sind, sich unterzuordnen und ist für den demos sein Mittel, sich gegen alte Ausbeuterstrukturen oder Versuche solche neu zu schaffen, zu wehren. Insofern steckt in der Demokratie ein Restbestand der Diktatur des Proletariats. Der Formübergang von der Diktatur des Proletariats – in der lediglich die Frage der politischen Macht geklärt ist – in die vollständige Demokratie enthält eine Reihe offener Fragen.

Ich gehe – auch wenn das sicherlich von vielen bestritten werden wird - davon aus, dass im Zentrum der neuen politischen Macht eine kommunistische Partei stehen wird, die sich als Avantgarde des Proletariats hat ausweisen können. Bis zur Erringung der Macht wird es nicht einmal intern Demokratie geben können; dazu sind die Lebensumstände der Einzelnen zu unterschiedlich und die Arbeiterorganisationen haben ja nicht die Möglichkeit, ihre Mitglieder nach ihrem Gutdünken freizustellen. Hier sehe ich zum viel gescholtenen demokratischen Zentralismus keine wirkliche Alternative. Eine Zeit lang kann die Bestimmung der Repräsentanten durch Wahl ja auch einer Maßen gut gehen. Aber auch im Stadium der Festigung der politischen Macht werden die Ausbeuterschichten, verstärkt durch das kapitalistische Ausland, erbitterten Widerstand leisten. Der Staat bleibt Repressionsinstrument, wenn auch jetzt in anderen Händen, und die Demokratie ist nur eingeschränkt auf die Arbeiterklasse plus Verbündete möglich.

Wird die kommunistische Partei ihre Mission, einen Zustand herzustellen, in dem sie selbst überflüssig wird, erfüllen? Werden Mechanismen gefunden, die die notwendigerweise entstehenden neuen Machtstrukturen in die (vollständige) Demokratie überführen können? Ich denke, über diese Übergangsphase müssen wir noch mehr als bisher nachdenken.

HPB: Was Du nun ansprichst ist die Frage des Übergangs vom Sein zum Sollen, was natürlich immer einerseits ein Anknüpfen an den Status Quo impliziert – denn jede Veränderung muss ihren Ausgang nehmen vom zu Verändernden Zustand – und andererseits eine Dynamik hin zu einem neuen Zustand. Und hier wird die Sache nun schwierig, denn wir wollen auf eine neue gesellschaftliche Ordnung hin und sind in diesem Transformationsprozess darauf angewiesen, eine zugleich subtile und brutale (und selber historisch durch brutale Gewalt entstandene) Klassenherrschaft aufzulösen ohne uns selbst in Militanz aufzulösen. Herbert Marcuse beispielsweise hat diese Frage im Zusammenhang mit dem Begriff der "repressiven Toleranz" 1965 im gleichnamigen Aufsatz diskutiert. "Daß die Gewalt beseitigt und die Unterdrückung so weit verringert wird, als erforderlich ist, um Mensch und Tier vor Grausamkeit und Aggression zu schützen, sind die Vorbedingungen einer humanen Gesellschaft" schreibt Marcuse. Er verweist auch sehr richtig auf die unterschiedslos-abstrakte "Toleranz" – in unserem herrschenden medialen Diskurs taucht das dann in unspezifizierten, unkritischen Forderungen wie "Gegen Gewalt" auf – als ein heimliches Einverständnis mit der herrschenden, institutionalisierten Gewalt der Produktionsweise selbst, die natürlich nicht thematisiert wird. Marcuse setzt dem einerseits eine Analyse der strukturellen Gewalt des Kapitalverhältnisses und andererseits eine "Ethik der Revolution" gegenüber. Letztere beruft sich auf "die realen Möglichkeiten menschlicher Freiheit relativ zur erreichten Zivilisationsstufe. Sie [die realen Möglichkeiten menschlicher Freiheit, HPB] hängen von den auf der jeweiligen Stufe verfügbaren materiellen und geistigen Ressourcen ab, und sie lassen sich weitgehend quantifizieren und berechnen. Das gilt auf der Stufe der fortgeschrittenen Industriegesellschaft für die rationalsten Weisen, diese Ressourcen zu nutzen und das Sozialprodukt bei vorrangiger Befriedigung der Lebensbedürfnisse und mit einem Minimum von harter Arbeit und Ungerechtigkeit zu verteilen".

Das Recht auf Widerstand begründet sich also bei Marcuse über die in die in den bestehenden Produktivkräften angelegten Möglichkeiten zur Befreiung von Hunger, Not, Ausbeutung, Erniedrigung und Entfremdung. Und damit schließt sich m.E. der Kreis zu Cockshott und Cottrell, die mit ihrem Entwurf genau jenen Nachweis erbringen, denn er basiert ja auf einem dialektischen Verhältnis der Aufhebung der existierenden Produktivkräfte in einer höheren Organisationsform. Freilich verweist Marcuse (in seinem Aufsatz "Ethik und Revolution" von 1964) auch zurecht darauf, daß "es Formen der Gewalt und Unterdrückung gibt, die keine revolutionäre Situation rechtfertigen kann, weil sie gerade den Zweck negiert, wofür die Revolte ein Mittel ist". Er erwähnt hierbei explizit u.a. "die Moskauer Prozesse" von 1936 bis 1938, den "permanenten Terror", "die Konzentrationslager" (diesen Terminus finde ich in diesem Kontext mit Bezug auf die UdSSR etwas deplaziert) und "die Diktatur der Partei über die arbeitenden Klassen". M.E. kann man aber an den sozialistischen Bewegungen in Lateinamerika sehen, daß auf einer breiten Massenbasis dieses Problem nicht unlösbar ist, denn hier besteht eine derart hohe Mobilisierung, daß umgekehrt die reaktionären Kräfte des Kapitals nur durch offene Gewalt und Verfassungsbrüche ihre Klasseninteressen zu verteidigen vermögen. Der rechte Putsch des venezolanischen Unternehmerverbandes im Jahr 2002 wurde ja ganz unblutig beendet durch eine Massenbewegung auf den Straßen – und durch die Möglichkeit der Mobilisierung vía Internet und Kettenemails, welche die Putschisten nicht unterbinden konnten. Auch hier zeigt die moderne Kommunikationstechnik offenbar ein Potential bei der Überwindung einer überkommenen und delegitimierten Sozialstruktur.

HD: Der implizite Vergleich zwischen der Stalinzeit und der aktuellen Situation in Venezuela ist problematisch. Venezuela ist von den Produktionsverhältnissen her ein ganz normaler kapitalistischer Staat, allerdings mit einem Präsidenten – das ist vielleicht neu in der Geschichte –, der der Entwicklung der Produktionsverhältnisse vorauseilt. Es gibt eine Massenbewegung für einen „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“, die immer noch stark abhängig ist von der charismatischen Figur Hugo Chávez. Der Name „Vereinte Sozialistische Partei Venezuelas“ sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Sozialismus dieser Partei ein weites Feld ist. Es wimmelt von opportunistischen Strömungen, deren Spitze vielleicht der Fall des Superministers Cabello ist, ein Großunternehmer, der viel von Sozialismus redet, dem aber auch Korruption und Bereicherung vorgeworfen werden. Nur die Hälfte der 5 Millionen Mitglieder hat sich für eine Teilnahme an den Delegiertenwahlen eingeschrieben und – was in unserem Zusammenhang besonders interessant ist – es gibt Unzufriedenheit über das Auswahlverfahren der Kandidaten. Die Basiskomitees dürfen Vorschläge einreichen, ausgewählt werden die Kandidaten aber durch die Führungsstrukturen. Die KP Venezuelas, bekanntlich eine konsequente Unterstützerin der revolutionären Tendenzen, hat m. E. Recht daran getan, ihre organisatorische Eigenständigkeit zu bewahren, auch wenn sie sich von Hugo ein paar Beschimpfungen dafür anhören musste. Die Nagelprobe steht erst bevor. Wenn tatsächlich substanzielle Schritte in Richtung Sozialismus unternommen werden, d.h. die Eigentumsfrage gestellt und angegangen wird, wird sich sehr schnell die Spreu vom Weizen trennen.

Die Situation in SU der der 30er Jahre war ebenfalls eine, die nicht im Lehrbuch steht: Die Revolution siegte in einem rückständigen Land; es musste mit der nachholenden Industrialisierung – und das unter ungeheurem Zeitdruck – erst einmal die materielle Voraussetzung für den Aufbau des Sozialismus geschaffen werden. Das sind Anforderungen, für deren Bewältigung die Herausbildung einer proletarischen Aristokratie mit einem charismatischen Führer förderlich ist. Stalin (wie auch Mao) schien sich der Gefahr des Degenerierens der revolutionären Aristokratie zu einer Bürokratie oder Oligarchie durchaus bewusst zu sein. Wenn man Grover Furr Glauben schenken darf, war das Ziel der Verfassung von 1936, die Rolle der Partei als Parallelstaat abzuschaffen und die aristokratische Verfassung von 1918 durch eine mit mehr direkter Demokratie zu ersetzen. Faktisch hat das ZK die Wahlmöglichkeit mehrerer Kandidaten für einen Platz verhindert; sie sahen darin eine Bedrohung der führenden Rolle der Partei und eine Gefahr für den Sozialismus. Die Furcht vor der Konterrevolution teilte Stalin auf seine Weise – mit den bekannten fürchterlichen Folgen.

Die sozialistische Umwälzung unterscheidet sich bekanntlich von allen vorangegangenen Revolutionen dadurch, dass die Erringung der politischen Macht der Umwälzung der Produktionsverhältnisse vorangeht. In Rußland bzw. der SU kam nun also noch der Aufbau der Industrie als Vorstufe hinzu, so dass man mit Hans Heinz Holz von einer prolongierten Revolution sprechen kann. Dieses Problem werden wir in unserem Land, in dem wir in der Pflicht stehen, sicherlich nicht haben. Die Diktatur des Proletariats verkürzende Momente erhöhen die Wahrscheinlichkeit dafür, dass zur Demokratie übergegangen werden kann, bevor die Aristokratie zur Oligarchie degeneriert. Es wird allerdings wahrscheinlich das retardierende Moment der äußeren Bedrohung bleiben.

Was wir auf jeden Fall für die Phase der Diktatur des Proletariats aus den Erfahrungen des untergegangenen Sozialismus zu lernen haben, ist: keinerlei materielle oder andere korrumpierende Anreize für die Zugehörigkeit der „politischen Klasse“ bzw. der kommunistischen Partei zulassen und so schnell wie möglich die Rolle des Marktes als Nährboden für bürgerliches Bewusstsein minimieren.

Marcuses aus der Gegenüberstellung von Sein und Sollen gewonnene Inkriminierung der von dir zitierten Schandtaten der bolschewistischen Revolution als irrational und damit nicht zu rechtfertigen hilft hier, abgesehen von ihrer immanenten Zweifelhaftigkeit, nicht recht weiter. Angenommen sein Urteil träfe zu, liefert es doch keinerlei Hinweis für die künftige Praxis. Es ist sicherlich kein Zufall, dass Marcuse selbst mit der „großen Weigerung“ aus „Der eindimensionale Mensch“ angesichts der als übermächtig angesehenen integrativen Kraft der konsumorientierten Industriegesellschaft in einer defätistischen Haltung versinkt.

Da ergibt sich übrigens eine verblüffende Parallele zu Schiller, dessen 250. Geburtstag gerade gefeiert wird. Begeisterung für die Aufklärung und Gegnerschaft zum Absolutismus wichen schnell Ernüchterung und Ablehnung der Französischen Revolution, als Köpfe fielen. Schiller flüchtete in die Ästhetische Erziehung, deren Notwendigkeit er aus der dem „künstlichen und lichtscheuen Uhrwerk“ der modernen Gesellschaft geschuldeten Zerrüttung von Kunst und Gelehrsamkeit herleitete.

Wir haben es in beiden Fällen wohl mit dem Typus des fortschrittlichen Intellektuellen zu tun, der die Flucht ergreift, wenn er die Reinheit seiner zur materiellen Gewalt gewordenen Ideen befleckt sieht.

HPB: Es scheint mir, daß der nun zur Debatte stehende Punkt der „Übergangsgesellschaft“ oder eben etwas allgemeiner ausgedrückt die „Bewegung vom Sein zum Sollen“ der heikelste Punkt ist, denn bei ihm geht Theorie in Praxis über.

Im Gegensatz zu Dir halte ich Marcuses Kritik der "Entartung" der Bolschewistischen Revolution für äußerst wichtig und stichhaltig – auch wenn ich selber Marcuse nicht in allen Punkten folge, z.B. halte ich seine späte Abkehr von der Arbeitswerttheorie zugunsten eines werttheoretische Betrachtungen verdrängenden „Technologie“-Begriffs für äußerstproblematisch. Die Moskauer Prozesse und den permanenten Terror versteht Marcuse allerdings meiner Lesart nach nicht als „irrational“, sondern vielmehr als Ergebnis einer bereits regredierten Rationalität, welche sich in der Anwendung ihrer Mittel gegen ihre ursprünglichen Ziele wendet. Ich glaube nicht, daß es eine vernünftige Rechtfertigung für diesen Umschlag der Revolution in offenen Terror gibt wie auch Stalins Kritik der bürokratischen Entartung aufgrund des absurden Personenkultes um seine Person wenig glaubwürdig erscheint. In diesem Zusammenhang halte ich auch nach wie vor die glänzende Studie des marxistischen Soziologen Werner Hofmann „Stalinismus und Antikommunismus“ aus dem Jahre 1968 für äußerst lesenswert, denn Hofmann verbindet hier die Ideengeschichte der sowjetischen Marxismus mit Untersuchungen zu seiner historischen Praxis.

Der Punkt, der mir hierbei wichtig erscheint ist der, daß dieses Spannungsverhältnis zwischen Sein und Sollen prekär bleibt und uns allen beständig zu denken geben sollte. Aus meiner Sicht läßt es sich nur lösen, wenn die gesellschaftliche Transformation nicht Angelegenheit einer Partei ist, sondern getragen wird von einfachen, aber hochgradig politisierten Praxisformen. Der Sozialismus liegt dann gewissermaßen in Unmut, Wut, der Verständigung über gemeinsame Ziele, dem Wunsch nach Gerechtigkeit und Würde und der Tendenz der Menschen, diesen Zustand einzuklagen und als vernünftig zu verstehen. Das wäre dann weder eine „große Verweigerung“ noch eine parteipolitisch gebundene Bewegung, sondern die viel näher liegende Bewegung alltäglicher Erfahrung, die das „eiserne Gehäuse“ des Kapitals beständig sprengt. Aufgabe von uns Kommunisten wäre es dann, die in dieser Erfahrung noch nicht hinreichend artikulierte Vernunft zur Sprache bringen. Ich persönlich habe Marx immer so gelesen, als die Sprache der Unterdrückten, welche die Form der Vernunft angenommen hat.

HD: Eine nüchterne Einschätzung der Stalinzeit ist sicherlich nicht leicht angesichts der Verbrechen und des Terrors. Dafür ist diese Epoche, vermittelt durch den Kalten Krieg und das Trommelfeuer des Antikommunismus, noch zu tief im kollektiven Gedächtnis verankert im Vergleich zur jakobinischen Terror oder zur vom Blut der royalistischen Bauern der Vendée gefärbten Loire. Ich habe übrigens die Verbrechen nicht gerechtfertigt; ich halte vielmehr dafür, dass die Verbrechen es nicht rechtfertigen, ein Verdammungsurteil über diese Zeit oder gar den Entwicklungsweg des Sowjetunion auszusprechen. Die Anwendung dieser Mittel richtete sich gerade nicht gegen die ursprünglichen Ziele der Revolution. Zu Grunde gelegt, was ich in der Antwort auf Frage 3 als genuin sozialistisch bezeichnet habe, fand die „Entartung“ erst nach Stalin statt.

Personenkult und Kampf gegen Bürokratismus passen in der Tat nicht gut zusammen (wo verläuft schon eine Entwicklung ohne Widersprüche?). Dennoch wurde letzteres versucht. Der wahrscheinlich letzte Impuls vor Stalins Tod ging vom 19. Parteitag, 1952, aus. In dem von Malenkow vorgetragenen Rechenschaftsbericht nahm dieses Problem einen breiten Raum ein. Bemerkenswert ist dabei auch, dass Malenkow, Ausführungen aus Stalins gerade erschienener Arbeit „Ökonomische Probleme des Sozialismus in der UdSSR“ zusammenfassend, drei grundlegende Vorbedingungen für den Übergang zum Kommunismus nannte: bevorzugtes Wachstum der Produktionsmittelindustrie (Abteilung I) gegenüber der Konsumgüterindustrie (Abteilung II); Anhebung des Kolchoseigentum auf das Niveau des allgemeinen Volkseigentums, um dadurch die Wirkungssphäre der Warenzirkulation einzuengen und drittens die Anhebung des Bildungsniveaus für alle auf ein Maß, das die aktive Teilnahme aller an der gesellschaftlichen Entwicklung gewährleisten kann. Zudem sei erforderlich, die Reallöhne der Arbeiter auf mindestens das Doppelte zu erhöhen – eine Maßnahme, die der produktivitätshemmenden systematischen Unterbewertung der Arbeit entgegengewirkt hätte. Mit all dem hatten Malenkow den Nagel auf den Kopf getroffen. Leider ist nicht so viel daraus geworden.

Deine Ausführungen über die Berechtigung vielfältiger politisierter Praxisformen kann ich nur unterstreichen. Doch es reicht nicht, die noch nicht zur Sprache gebrachte Vernunft nur zur Sprache zu bringen, sie muss sich auch – mittels ihrer Träger, der Vernünftigen – als Organisiertes artikulieren. Ich komme gerade von einer Anti-Nazi Demo zurück. Unser Ziel war, den Nazi-Aufmarsch zu blockieren. Im vorigen Jahr – unter anderen Bedingungen und an einem anderen Ort – war uns das geglückt. Ein breites „Bündnis gegen Rechts“ von Organisationen und Einzelpersonen war angetreten. Was passierte, als es ernst wurde? Grüne, Bunte, die Honoratioren (die PdL wurde gar nicht erst gesichtet) verpissten sich allmählich. Übrig blieben im Wesentlichen die organisierten Kommunisten, SDAJ, junge Antifas. Da die Autonomen sich plötzlich etwas anderes überlegten, wurde diesmal die kritische Masse nicht erreicht, die erforderlich ist um eine zunehmende Anzahl von Menschen zu binden.

Solche Erfahrungen haben eine symbolische Seite. Da sind all die politisierten Praxisformen - vom Lesezirkel über Bürgerinitiativen, Gewerkschaften bis hin zu militanten Gruppen oder revolutionären Zellen -, die die Strudel und Bewegungen in unserer Gesellschaft bilden. Doch ohne diejenige politische Praxisform, die den Kampf um das Teewasser mit dem Kampf um die Macht im Staat konzeptionell in sich vereinigt und deren individueller Idealtypus der „organische Intellektuelle“ (womit – das dürfte wohl klar sein – selten der Universitätsprofessor gemeint ist) darstellt, ist die Erzeugung des die notwendige materielle Gewalt annehmenden gerichteten Stromes so unwahrscheinlich wie eine sich (ohne Energiezufuhr!) vollziehende Konzentration von Gasmolekülen an einem Ort.

Dies lässt mich an der Notwendigkeit der Kommunistischen Partei festhalten, auch wenn es zur Zeit wegen der völligen Marginalisierung ein mühsames Geschäft ist.

HPB: Das ist natürlich eine tragische und allen bewusste Situation: die Revolutionäre stehen da, organisiert in einer revolutionären Partei, und nichts passiert. Letztlich steht hinter dieser Idee aber der alte, avantgardistische Gedanke von Lenin und damit das der bereits erwähnten Stellvertretung der vielen durch wenige. Lassen wir aber, wenn Du nichts dagegen hast, das Thema – das offenbar immer auf diese Polarität zwischen Organisation (also Zentralität) und Spontaneität (also Dezentralität) hinausläuft – für den Moment ruhen und wagen wir einen Blick in die nähere Zukunft.

Der Kapitalismus ist in jüngerer Zeit doch recht angeschlagen und die Weltfinanzkrise noch längst nicht überwunden. Die sog. "Rettungsprogramme" wurden ja in windigen "Nacht-und-Nebel-Aktionen" durch die Parlamente gepeitscht und so die geplatzten "Vermögens"-Werte auf die Staaten übertragen. Die Reproduktionsprobleme des Weltkapitals und die Flucht in fiktive Verzinsungsketten sind nicht positiv überwunden, sondern auf ein neues Niveau gehoben worden. Die „Rettungsprogramme“ werden wiederum unweigerlich den Zinsanteil der Staatshaushalte weiter steigen lassen und zu neuen sozialen Einschnitten führen – die dann wiederum mit den Masseneinkommen die Nachfrageseite der Märkte weiter strangulieren usw. Es wundert mich insofern, dass ein solch nackter Kaiser sich noch auf die Straße traut, wobei neoliberale Ökonomen mittlerweile in einem ideologischen "Roll back" die Schuld allein auf die Niedrigzins-Politik der "Fed" schieben wollen. Das Versagen der Rating-Agenturen und der Banken bei Zinsvergabe wie auch der Überakkumulationsdruck der globalen Märkte werden hier komplett ausgeblendet und geleugnet.

Kann man angesichts dieser Entwicklung als Marxist nicht auf den Gedanken kommen, dass womöglich das subjektive Bewußtsein (v.a. in den Staaten des kapitalistischen Zentrums) noch an einer Ordnung fest hält, die sich im Prinzip bereits überlebt hat und die nur noch durch abenteuerliche Verschuldungsketten notdürftig vor der Selbstzerstörung bewahrt wird?

Die Arbeitswerttheorie, welche ja immer an der Differenz zwischen Profit resp. Mehrwert (also dem vom Kapital angeeigneten Mehrprodukt) und Zins (als einer bestimmten Abspaltung von der Profitrate) festgehalten hat, steht als analytisches Instrument angesichts der Finanzkrise m.E. gar nicht so schlecht da. Nun wird plötzlich offenbar, dass die "Finanzindustrie" gänzlich unproduktiv ist und die alte Weisheit von John Kenneth Galbraith noch gilt, dass es auf den Finanzmärkten keine Innovationen gibt, sondern hier nur immer wieder das Schuldenmachen neu erfunden wird.

HD: Zumindest erleichtert die Arbeitswerttheorie die grundsätzliche Orientierung nicht nur in der Wirtschaftskrise, sondern auch in der sie auslösenden Finanzkrise. Das aus der Fähigkeit des Staates, die Steuerschuld seiner Bürger zu erzwingen, hergeleitete Geld ist nicht Reichtum, sondern reklamiert nur einen Anspruch auf einen Wohlstandsanteil und damit auf Arbeit, die andere geleistet haben. (In diesem Sinne sprach Adam Smith von „commanded labour“) Nun gibt es produktive und unproduktive Arbeit. Zur produktiven Arbeit gehört alle Arbeit, die direkt oder indirekt der Konsumtion der werktätigen Bevölkerung und ihrer Angehörigen dient. Man könnte meinen, dass das Bankwesen, insofern es Ersparnisse, d.h. die Freigabe von Arbeitsressourcen für andere Zwecke als den Konsum, einsammelt und in Investitionen kanalisiert, durchaus eine produktive Funktion ausübt. Doch eine solche produktive Kreditvergabe macht heute nur einen geringen Teil des Finanzwesens aus. Schon seit der Formierung des industriellen Kapitalismus bildete sich eine Schicht von Rentiers oder Couponschneidern heraus. Heute sind in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern die industriellen Profitraten so gering, dass die Ersparnisse bei weitem nicht von den Investitionsmitteln absorbiert werden. Verschärfend kommt hinzu, dass der industrielle Sektor vom Kreditnehmer selbst zum Kreditgeber geworden ist – für die gänzlich unproduktive „Finanzindustrie“. Was an Spareinlagen über den Investitionsbedarf hinausgeht, fließt in den Konsum der ehrenwerten Finanzwelt – bis die Sache eben auffliegt; denn Sparen ist nur möglich, insoweit Kapital akkumuliert, also gesellschaftliche Arbeit eingesetzt wird. Sparen in Geldform ist etwas anderes als Sparen von Korn. Während das gesparte Korn tatsächlich in der Zukunft verzehrt werden kann, ist das Sparen von Geld nur ein - ungewisser - Vertrag mit der Zukunft. Der Anspruch auf den Anteil am zukünftigen Mehrprodukt kann nur durch die Arbeit der zukünftigen jungen Generation erfüllt werden. Wenn ein Großteil der Ersparnisse heute unproduktiv verschlungen wird, fehlt die Arbeit, die die künftigen Rentner trägt. Eine allgemeine Altersarmut ist ein sehr reales Schreckgespenst.

Eine Gegenmaßnahme im Interesse der werktätigen Bevölkerung liegt auf der Hand: Banken und andere Finanzinstitutionen auf ihren faulen Krediten sitzen und in die Pleite gehen lassen. Alle Sparanlagen bis, sagen wir, zum Doppelten der gesetzlichen Einlagensicherung von 20.000 Euro bleiben garantiert. Alle sonstigen Schulden werden gestrichen. Getroffen würde damit die Geldaristokratie, während die große Mehrheit nichts verlieren würde und auch die Industrie ungeschoren bliebe. Das von den Steuerzahlern aufzubringende diesjährige Finanzsaldo des Staates von über 77 Mrd. bliebe uns erspart.

Bei all dem sollten wir jedoch nicht vergessen, dass die Probleme eines „Finanzmarktkapitalismus“, mit wir uns hier herumschlagen, nur die Kehrseite der Medaille sind, deren andere Seite darin besteht, dass die Fabrik des Weltkapitalismus heute in Ostasien steht. Zu der wurde sie, als in den fortgeschrittenen kapitalistischen Industriestaaten, die industriellen Profitraten so gering wurden, dass der Anreiz zur
Kapitalakkumulation verloren ging und das Kapital Zuflucht in den Heerscharen von billigen Arbeitskräften Ostasiens suchte, um die Profitabilität im globalen Maßstab wieder herzustellen. Es folgte damit einem (dynamischen) Gesetz (an dessen Aufdeckung C&C ebenfalls entscheidend mitgewirkt haben), nach dem die durchschnittliche Profitrate gegen einen stationären Wert tendiert, der größer wird bei einem schnelleren Wachstum der zur Verfügung stehenden Arbeitszeit und der Arbeitsproduktivität und kleiner wird bei einer wachsenden Akkumulationsrate. Da die Arbeitszeit durch das Arbeitskräftepotenzial begrenzt ist, hat die demografische Entwicklung einen – letztlich entscheidenden – Einfluss auf die Entwicklung der Profitraten. Die Entwicklung, die die kapitalistischen Hauptländer nach dem 2. Weltkrieg durchlaufen haben – hohe Wachstumsraten (bei hohem Wachstum der Arbeitsproduktivität), Erschöpfung des Arbeitskräftepotenzials (das die Stellung der Arbeiterklasse in der sozialen Auseinandersetzung stärkte), sinkende Profitraten – haben China, Indien und weitere Länder vor sich. Danach werden wir – ökonomisch gesehen – wieder bessere Karten haben, und/oder eine neue Runde des Kapitalexports beginnt mit der Erschließung der letzten Arbeitskraftreserven in Afrika und anderswo...

Die Krise wird im Bewusstsein durchaus realistisch abgebildet und von vielen auch als Krise des Kapitalismus gesehen. - aber eben nur bruchstückhaft. Was fehlt, ist die Verbreitung eines kohärenten marxistischen Erklärungsmodells, das eine Kritik der politischen Ökonomie, die die Theorien des Neoliberalismus mit wissenschaftlichen Methoden auf der Höhe der Zeit widerlegt und gleichzeitig die Grundlage für eine politische Ökonomie des Kommunismus liefert, und eine dazu kohärente Entwicklung politischer, moralischer und kultureller Vorstellungen umfasst. Die Bedingungen dafür sind, wie wir wissen, sehr schwierig. Die Gewerkschaften sind (nicht nur, aber wesentlich) dadurch gelähmt, dass ihr Führungspersonal bis herunter bis zu manchen Betriebsratsfürsten zum herrschende Block zu zählen sind, und um die kommunistische Bewegung ist es auch schlecht bestellt. Aber das führt uns zur Organisationsfrage zurück und die sollten wir in der Tat nicht noch einmal aufrollen.

HPB: Du erwähnst in Deinen Überlegungen die Arbeitsteilung innerhalb des kapitalistischen Weltsystems zwischen Ostasien/Indien als "billiger Werkbank" und den Zentren. Nun hat ja diese billige Werkbank ihre Produkte nur verkaufen können durch die Verschuldungsorgien im Zentrum, v.a. das fiktive Kapital, das der US-Immobilienmarkt (und andere Derivatenmärkte wie z.B. der spanische) aufgebaut hat. Die indischen oder chinesischen Binnenmärkte hätten niemals diese Warenmengen absorbieren können. In den kapitalistischen Zentren aber liefen längst die Umverteilungsmechanismen von unten (den konsumstarken Schichten) nach oben (den sparorientierten Schichten), welche auch in den USA den Massenkonsum eingeschnürt haben. Die Hypothekenkredite versprachen hier eine unendlich clevere Lösung: Sinkende Massen-Einkommen wurden über hypothekenbesicherte Kredite aufgeblasen, so der Konsum befeuert, und gleichzeitig die globale Überakkumulation an Kapital elegant in die Kredite und ihre abgeleiteten Derivate gepumpt. Das gewaltige US-Außenhandelsdefizit, die weit überzeichneten Hypothekenwerte als "Sicherheiten" und die Verbriefungsketten, welche an dieser Kreditstruktur hingen, waren dann das Dynamit im Fass des globalen Kapitalismus und nicht die heilsame Rheumadecke.

In der Jungen Welt vom 30.11.2009 beschrieb der Autor Tomasz Konicz (sh. http://www.jungewelt.de/2009/11-30/007.php) wie ich denke sehr gut das Dilemma der staatlichen Rettungsprogramme, die erstens nur Symptombekämpfung betreiben (nämlich billiges Geld in die Märkte pumpen und marode Banken retten), zweitens das Ausweichen des überakkumulierten Kapitals in fiktive Wertketten nicht stoppen können und drittens mit ihrer eigenen Hyperverschuldung dieses System noch verstärken müssen dadurch, dass sie den Schuldendienst wieder den (konsumstarken) "kleinen Leuten" in Rechnung stellen müssen. Gerald Celente, Direktor des US-amerikanischen Trends Research Institute, spricht deshalb schon von "der letzten aller Spekulationsblasen", denn danach kann eigentlich nichts mehr kommen außer großflächig bankrottierten Staaten (das deutet sich ja mit Staaten wie Griechenland oder Island schon im Zentrum an) und dem "letzten Gefecht" der an Nullzinsen verzweifelnden Zentralbanker. Eine radikale, gesellschaftskritische Linke – und damit komme ich wieder zurück zu unserer Ausgangsdebatte um Cockshott und Cottrell – sollte sich da doch schon mal überlegen, ob sie nicht das Heft in die Hand nehmen sollte für eine andere historische Praxis. Sollten wir uns darauf nicht gefasst machen als marxistische Linke?

HD: Die Situation, in der wir heute das Heft in die Hand nehmen müssen, unterscheidet sich von allen Situationen, in denen bisher sozialistische Revolutionen stattfanden – sei es die Oktoberrevolution, die Bauernrevolution in China, die aus Guerilla- bzw. Antikolonialkämpfen hervorgegangenen Revolutionen in Jugoslawien, Kuba, Vietnam und Korea oder die Revolutionen in den osteuropäischen Ländern, die die Bajonette einer äußeren Befreiungsarmee zur Voraussetzung hatten. Der entscheidende Unterschied heute liegt in der Existenz einer entwickelten bürgerlichen Gesellschaft, in der die politische Macht der herrschenden Klasse nicht nur auf ökonomischer und militärischer Macht beruht, sondern durch den Konsens vermittelt wird, der durch die hegemonialen Apparate der Zivilgesellschaft erzeugt wird. Gramsci hat daraus die Notwendigkeit eines „Stellungskrieges“ hergeleitet („...die Superstrukturen der Zivilgesellschaft sind wie das Grabensystem im modernen Krieg“).

C&C haben Vorschläge gemacht, wie aus einem fortgeschrittenen Stellungskrieg heraus der ökonomische Übergang in eine kommunistische Produktionsweise vollzogen werden kann – zunächst für Venezuela, dann übertragen auf Europa. Lassen wir einmal die Problematik außer Acht, die sich daraus ergibt, dass mit der gemeinsamen Währung und dem gemeinsamen Binnenmarkt ein grundsätzlicher Fortschritt von rechts durchgesetzt wurde (wer denkt da nicht an die Reichsgründung durch Bismarck!) und die Dynamik der konfligierenden europäischen Nationalstaaten einen ungewissen Ausgang hat und nehmen einmal an, dass bis zum „fortgeschrittenen Stellungskrieg“ der Euro erhalten geblieben ist. Dann könnte C&C zufolge das Heft – mit der Arbeitswerttheorie im Kopf! – so in die Hand genommen werden: Angesetzt wird mit der Verpflichtung der Zentralbank, die Währung an den Arbeitswert (und nicht an die Lebenshaltungskosten) zu binden und auf dieser Grundlage stabil zu halten. Mit den nationalen Input-Output-Tabellen ist es kein Problem, Geld in Arbeitszeit umzurechnen. So entspricht zurzeit ein Euro etwa einer Arbeitszeit von zwei Minuten. Währungsstabilität lässt sich durch Manipulationen am Umfang und Laufzeiten der Kredite bzw. über eine Steuerpolitik herstellen. Wenn das geschafft ist, sollte der Arbeitswert auf den Euro-Scheinen in Form von Stunden und Minuten angegeben werden. C&C sehen darin einen Akt revolutionärer Pädagogik. Durch ihn wird für die Arbeiter die nicht vorhandene Glocke, die im Arbeitsprozess anzeigt, wann die notwendige Arbeit in die Arbeit für den Kapitalisten übergeht, sinnlich wahrnehmbar und somit bewusstseinsfördernd wirksam. (In der letzten Phase würde dann der Euro übergehen in nicht übertragbare Arbeitszeitzertifikate.) Parallel dazu werden die Betriebe dazu verpflichtet, ihre Bilanzen auch als Arbeitszeitbilanzen auszuweisen. Das trägt wesentlich dazu bei, den Schleier über der Tatsache, dass monetäre Berechnungen in der staatlichen Wirtschaftspolitik nur eine Umverteilung gesellschaftlicher Arbeit darstellt, zu lüften.

Die wissenschaftliche Erkenntnis, dass die Arbeit einzige Quelle des Reichtums ist, sollte Gesetzeskraft erhalten, woraus der Anspruch der Arbeiter auf den vollen Ertrag ihrer Arbeit abgeleitet werden kann – ein Recht, das auch den Managern nicht vorenthalten wird. Eine sozialistische Regierung bräuchte hier kein Referendum zu fürchten. Das demokratische Recht auf Abstimmung über die Unternehmensleiter verhindert, dass die Kapitalisten, wenn ihnen verständlicher Weise die Lust an solchem Eigentum verloren geht, die Betriebe einfach schließen können.

Die Lösung der Eigentumsfrage, Voraussetzung für den Übergang zur Planwirtschaft, wird also nicht auf direktem Wege angegangen, sondern über einen Weg, der mit mehr Eigenaktivität der Massen verbunden ist und wahrscheinlich die Kontinuität der Produktion weniger beeinträchtigt. Ein ähnlicher Effekt kann in der Landwirtschaft durch eine geeignete
Einführung einer Bodensteuer, die die Kleinen ungeschoren lässt und die Großen zur Kasse bittet, erzielt werden.

Wie dem auch sei: Wie wir Hand anlegen könnten, darüber gibt es einigermaßen klare Vorstellungen. Was nur noch fehlt, sind die Hände, die das auch umsetzen wollen.

HPB: Wir sind mit diesem Vorschlag von C&C wieder an dem Punkt der hohen Politisierung, die ihr Konzept impliziert und welche ich für eine ganz große Stärke halte weil hier wirklich die eisernen, verselbständigten Sachgesetze des Marktes durch aktive Gestaltung überwunden werden. Freilich dürfte eine "geplant arbeitswerttheoretisch fundierte Geldordnung" – ich fasse das von Dir kurz umrissene Konzept mal so begrifflich zusammen – in einem so großen Raum wie der EU auf das Problem der Produktivitätsunterschiede innerhalb des Raumes stoßen. Das würde zur partiellen Über- bzw. Unterbewertung von Arbeitsleistungen führen, denn der von Dir erwähnte Mittelwert ist ja zunächst eine rein rechnerische Durchschnittsgröße. Je mehr Einzelwerte (mit ihren daran gebunden Einzelproduktivitäten) in den Durchschnittswert eingehen, desto größer die Möglichkeit der Abweichungen im Einzelfall.
Diese Abweichung könnte vermutlich am ehesten reduziert werden, indem eine aktive Strukturpolitik betrieben wird, welche effiziente Technologien fördert und so die "unterproduktiven" beseitigt. Dies würde die Wertproduktivität pro Arbeitsstunde wiederum steigern. Wie siehst Du das?

HD: Da stimme ich dir zu. In der ersten Phase der Transition, in der die Arbeiter zwar schon das Recht auf den vollen Ertrag ihrer Arbeit besitzen, aber die Ökonomie zum großen Teil noch durch (demokratisch-kontrollierte) Einzelunternehmen bestimmt ist, führt in der Tat die unterschiedliche Produktivität zu beträchtlichen Unterschieden im Wertprodukt pro Arbeiter. Das ist unvermeidbar, weil Wert durchschnittliche gesellschaftliche Arbeit ist und nicht mit der tatsächlichen Arbeitszeit in dem einzelnen Betrieb übereinstimmt.

Jetzt haben wir in der Euro-Zone die absurde Situation, dass es eine gemeinsame Währung, aber keine Körperschaft gibt, die zentral Steuern einzieht. Die Probleme etwa in Griechenland wären – wenn wir uns einmal auf die Logik der jetzigen EU einlassen – weit weniger groß, wenn es, wie in den meisten föderalen Staaten, einen Finanzausgleich der Länder gibt. (In der BRD hat der Finanzausgleich sogar Verfassungsrang.)

Nach dem Übergang zur Planwirtschaft wird sicherlich die Zuteilung steuerfinanzierter Investitionen an Regionen, in denen das technische Niveau niedriger ist, ein wichtiger Hebel zur Erhöhung bzw. zur Angleichung der Produktivität im Ganzen sein. Erst dann kann davon die Rede sein, dass die konkrete Arbeit auch direkte gesellschaftliche Arbeit wird und eine gleiche Bezahlung pro Stunde in ganz Europa erreicht wird.

HPB: Zum Ende kommend möchte ich noch kurz auf die bisher von uns noch nicht bedachte Umwelt-Problematik eingehen. C&C setzen sich damit im Unterkapitel „Umwelt und Naturressourcen“ ab Seite 102 in „Alternativen aus dem Rechner“ auseinander. Sie diskutieren ja zunächst die Möglichkeit, für die ökonomische Planung statt auf Arbeitswerte als Recheneinheit auf Energieeinheiten zurückzugreifen. Sie schlagen aber vor, „die Arbeitszeit als Basiseinheit für die Berechnung zu nutzen, weil (...) die Gesellschaft aus Menschen besteht und es schließlich von Belang ist, wie viel Zeit den Menschen in ihrem Leben außerhalb der Arbeitszeit verbleibt. Das ist wichtiger als eine beliebige natürliche Ressource“ (S. 76). Die ökologische Problematik wird bei C&C statt dessen politisiert: „In einer sozialistischen Demokratie sollte über die wichtigsten Umweltfragen nach abhaltender und offener Debatte in den Medien durch ein Referendum entschieden werden. Wenn ein hydroelektrisches System vorgeschlagen wird, bei dem vorgesehen ist, ein Tal zu fluten, das ein schönes Fleckchen Erde und ein einzigartiger Biotop ist, ist es witzlos, nach irgendeiner ökonomischen Formel zu suchen, die darüber entscheidet, ob grünes Licht für das Projekt gegeben wird. Das Problem ist ein politisches, kein ökonomisches“ (S. 105, Hervorh. von mir).

Wir sind hier erneut an dem Punkt des Verhältnisses von Politik zu Ökonomie. „Ökonomie“ erscheint hier als das Werkzeug effizienten (und damit auch Lebens-Arbeitszeit einsparenden) Ressourceneinsatzes, „Politik“ aber als die übergeordnete Instanz der Bewertung der Sinnhaftigkeit und der ethischen Legitimität ökonomischen Handelns. Bezogen auf die ökologische Frage bedeutet dies, dass Technik (marxistisch allgemeiner: die „Produktivkräfte“) nicht „neutral“ sein kann, sondern die Wahl zwischen beispielsweise Kernenergie einerseits oder Solarenergie bzw. gezielt geförderter Nachhaltigkeit andererseits impliziert. Dieser Unterschied macht in der Tat vom abstrakt-ökonomischen Kalkül aus keinen Sinn, sondern erst wenn die Technik als gesellschaftliches Naturverhältnis verstanden wird. Wie hätte insofern eine Konferenz wie die kürzlich gescheiterte Klimakonferenz von Kopenhagen verlaufen können, wenn hier sozialistische Gesellschaftsordnung nach Vorstellung von C&C zusammengekommen wären?

HD: Man könnte auch sagen: Politik beschäftigt sich mit den Zwecksetzungen der gesellschaftlichen Arbeit, Ökonomie mit ihrer rationellen Umsetzung. Rationeller Einsatz zweckgesetzter Arbeit kann natürlich nur da greifen, wo auch Arbeit stattfindet. Wohl lässt sich der Arbeitsaufwand, den die Extraktion einer Tonne Öl aus einem bestimmten Ölfeld erfordert, abschätzen, davon unberührt ist aber die Tatsache, dass im Ölfeld soundsoviel Barrel als nicht-regenerierbare Ressource lagern. Die Arbeitszeitrechnung ist hier nicht besser dran als die kapitalistische Marktpreisbildung, die die Differenzialrente zur Grundlage hat. Doch in der Frage des Umgangs mit den Ressourcen zeigen
sich vielleicht am klarsten die Vorteile einer auf dem Gemeineigentum beruhenden demokratisch verfassten Gesellschaft. All die in Frage 8 angedeuteten Möglichkeiten können hier zum Tragen kommen.

Die Frage allerdings, wie die großen ökologischen Probleme in einer sozialistischen (Welt-)Staatengemeinschaft, behandelt werden könnten, kann ich nicht auf seriöse Weise erörtern.

Über den Aufbau eines Sozialismus in einzelnen Ländern haben wir im 20. Jahrhundert wertvolle Erfahrungen gemacht, die C&C meines Erachtens mustergültig verarbeitet haben. Hierzu gehört auch die Erfahrung, dass der revolutionäre Entwurf immer weiter geht als das, was real erreicht wird: Absterben des Staates, Verschwinden der Arbeitsteilung, Abschaffung des Geldes, Überflüssigwerden der Gefängnisse, usw. All das, was wir bzw. unsere Vorkämpferinnen schon am nahen Horizont sahen, war nach 70 Jahren nicht eingetreten.

Mit einer sozialistischen (Welt-)Staatengemeinschaft werden wir wiederum Neuland betreten. (Das einzige, was wir hier haben, sind die 40 Jahre Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe - über den wir nicht gesprochen haben.) Dabei ist zu bedenken, dass auch der Kommunismus eine längere Zeit brauchen wird, bis er sich in eine adäquate (Selbst-)Herrschaftsform ausdifferenziert hat. Wenn wir zum Vergleich das Musterland für die Entwicklung bürgerlicher Herrschaft, Frankreich, nehmen: Welche unterschiedlichen Herrschaftsformen, mit krassen
Wendungen hat das Land zwischen 1789 und 1871 erlebt, bis schließlich mit der III. Republik die bis heute gültige Form (unter normalen Bedingungen!) gefunden wurde. Der bisherige Sozialismus, der sich in der Hälfte des Zeitraums seiner Existenz im Ausnahmezustand entwickeln musste, ging unter, bevor er eine analoge Form hervorgebracht hatte.

Es hat sich auch gezeigt, welch hartleibig Ding die Nation ist. Dabei wird dies noch eine der mildesten Form spezifischer Interessensunterschiede sein. 500 Jahre Conquista müssen ausgeglichen werden, d.h. wir werden noch lange Zeit mit tief gehenden Unterschieden hinsichtlich der ökonomischen, sozialen und kulturellen Entwicklung und den daraus resultierenden unterschiedlichen Interessen zu tun haben.

Eine sozialistische Klimakonferenz wird nicht unbedingt eine Idylle sein.

HPB: Helmut, Du hast das Buch von C&C übersetzt, so dass es vor nunmehr 4 Jahren auch in deutscher Sprache erscheinen konnte. Hast Du selber auch Kontakt mit beiden gehabt und v.a.: Hast Du jemals an eine umfangreichere eigene Veröffentlichung gedacht (also nicht nur kurze Kommentare in Aufsatzform), um die Thematik selber weiterzuführen und hierzulande die Basis für eine breitere Debatte der Problematik zu bereiten? Wir haben ja bereits festgestellt, dass die Zeit für gesellschaftliche Alternativen eigentlich reif ist und in nächster Zeit durchaus reifer werden könnte wenn die Krise des Kapitalismus ihre ganze Grausamkeit und Rücksichtslosigkeit entfaltet.

HD: Allin Cottrell kenne ich leider nicht persönlich. Er ist wohl auch selten in Europa. Mit Paul Cockshott habe ich hingegen engen Kontakt. Er war einige Male bei uns und meine Frau und ich haben ihn auch einmal in Schottland besucht. Da wohnte er noch in Lanark, von wo aus wir zu Fuß nach New Lanark gehen konnten, wo Robert Owen seine Baumwollspinnerei mit den seiner Zeit weit voraus eilenden sozialreformerischen Einrichtungen errichtet hatte. Man könnte sagen: ein symbolischer Spaziergang. Owen ist nämlich als Vorgänger von C&C zu betrachten, denn er führte später, in den 1830er Jahren, als er die für einen Unternehmer bemerkenswerte Karriere eines spiritus rectorder sich verbreitenden Genossenschaftsbewegung einschlug, für das Netzwerk von Kooperationsbetrieben bereits ein Arbeitsgeld ein. Owen unterschied sich von anderen utopischen Sozialisten eben dadurch, dass ihm die Rolle des Eigentums bewusst war. Er verfiel nicht, wie Marx anmerkte, dem „seichten Utopismus eines 'Arbeitsgeldes' auf der Grundlage der Warenproduktion“, sondern „setzt unmittelbar vergesellschaftete Arbeit voraus, eine der Warenproduktion diametral entgegengesetzten Produktionsform“. Die Owenschen Ideen wurden von Marx, insbesondere in der „Kritik des Gothaer Programms“ aufgegriffen und gingen schließlich als wichtiges Element in die Konzeption von C&C ein.

Ich bewundere Paul als ungeheuer produktiven, auf vielen Gebieten der Ökonomie, Politik und Informatik arbeitenden Wissenschaftler. Zur Zeit, in seinem Sabbatjahr, wühlt er sich tief in die Physik rein, um die physikalischen Grenzen der Berechenbarkeit zu erkunden.

Meine eigene Rolle ist demgegenüber vernachlässigbar.

HPB: Lieber Helmut, ich danke Dir sehr herzlich für dieses Gespräch.

Editorische Anmerkung

Das Interview erhielten wir von Hans-Peter Büttner zur Veröffentlichung in dieser Ausgabe.

Bei TREND erschienen von Hans-Peter Büttner: