Bernard Schmid berichtet aus Frankreich

Amok der Bubigesichter
Gewaltvideo einer Elektronikband nährt Fantasmen zum Thema „Die Barbaren aus den Banlieues kommen in die Stadt“

05/08

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Auf den ersten Blick wirken ihre Gesichter ausgesprochen knabenhaft. Aber sie mimen die knallharten Männer. Ausgerüstet mit Schlag- und Stechwerkzeugen ziehen sie zu sechs oder siebt marodierend durch ihre Cité, ihr Hochhausviertel – die Filmaufnahmen dürften, den Örtlichkeiten nach zu urteilen, wahrscheinlich in zwei verschiedenen Stadtteilen der Pariser Vorstadt Clichy-sous-Bois entstanden sein. Sie belästigen eine rauchende Frau im Minirock, werfen ihre Zigarette weg und begrapschen sie, prügeln einen Mann, der sich einzumischen versucht. Dazu hört man rhythmische elektronische Musik, die manche Betrachter als „schneidend“ oder „schrill“ (stridente) bezeichnen, die jedoch im Laufe der Minuten vor allem monoton wirkt. 

Im Anschluss an diese Szene fahren die Jugendlichen mit öffentlichen Verkehrsmitteln in die Kernstadt von Paris, wobei mehrere von ihnen intensiv in die Kamera gucken und die Augen in ihren Bubigesichtern aus der Nähe gefilmt werden. Die nächste Einblendung spielt auf dem Hügel von Montmartre, wo unterhalb der berühmten Kirche von Saint-Coeur die Touristen aus aller Welt herumstehen und –sitzen. Die als Bande auftretenden Jugendlichen stehlen einer überrumpelten asiatischen Touristin ihren Fotoapparat und werfen ihn zu Boden, dann zertrümmern sie die Gitarre eines langhaarigen Musikers und die Trommel seines Begleiters. Und weiter geht’s mit einem Streifzug durch den umliegenden 18. Bezirk, bei dem Autos zerkratzt, Rückspiegel abgerissen, einer Oma die Handtasche entrissen und das Mobiliar einer Bar zertrümmert, deren Gäste belästigt und der Mann am Tresen zu Boden geschlagen werden. Noch einen Augenblick später kommt es an einem nicht näher identifizierten Ort – dem Korridor nach zu schlieben, auf dem die jungen Bösewichter sich filmen lassen, wurde die Szene aber wohl im Pariser Flughafen aufgenommen – zum Zusammenstob mit der überraschend eintreffenden Polizei. Zuerst hält ein Polizist die Hand vor die Kamera, die offenkundig aus nächster Nähe dabei ist, und befiehlt: „Aufhören zu filmen!“ Die Beamten ziehen aber den Kürzeren und werden niedergeprügelt, nachdem die Jugendlichen ihre Schlagstöcke erbeuten konnten, wobei diese Szene eher wenig realistisch wirkt. Dann hechten die Jugendlichen eine Treppe hoch, einen Kameramann direkt in ihrem Gefolge. 

Das Ganze endet mit der Fahrt in einem gestohlenen Auto über ein unbekanntes Gelände, nicht ohne dass beim Aufbrechen des Wagens ein Kameramann in den Blickwinkel des Objektivs gekommen wäre, der von den jugendlichen Gewalttätern zum Einsteigen aufgefordert wird. Das Auto wird abgestellt und beschädigt. Einer der bösen Buben trägt einen Molotow-Cocktail herbei und wirft ihn in das Citroën-Fahrzeug, das ausbrennt - wobei ein direkt neben dem Auto stehender Kameramann von den Flammen erfasst wird, die auf seine Klamotten übergreifen. Nachdem man ihn einen ganz kurzen Augenblick lang brennen gesehen hat, gerät er vollends aus dem Bild, das seinerseits um 90 Grad kippt. Nun sieht man das in der Horizontale stehende Vertikalbild des ausbrennenden Autos und seiner Rauchwolke, und die Jugendlichen blicken in die sie aufnehmende Kameras, wobei sie pathetisch wirkende Gesten und Grimassen machen. Der unmittelbar vor der Kamera stehende Junge hat dabei seine Augen durch den Kapuzenpulli, den sie alle tragen, verhüllt, und nur seine untere Gesichtshälfte ist frei. Dadurch wirkt seine Grimasse noch zusätzlich verzerrt, während er unhörbare, aber anscheinend groteske Rufe ausstöbt. Dazu erklingt eine schwermütige, tragende Musik. Dann wird es auf dem Monitor dunkel. Offenkundig hat die Kamera Schaden genommen, und man hört dazu Stimmengewirr, Geschreie und den (akustisch schwer identifizierbaren) Ausruf: „Na, das geilt Dich wohl auf, das zu filmen, Hurensohn?“ (Im Original: ‚Alors, ça t’fait kiffer te filmer ça, fils de pute?’) Der Betrachter nimmt an dieser Stelle vielleicht an, dass die filmende Person nun auf die Mütze bekommen hat.  

Dies ist der gesamte Inhalt des Musik- und Actionvideos unter dem bezeichnende Titel „Stress“, das die Elektronikband „Justice“ (Gerechtigkeit) mit Hilfe des jungen Regisseurs Romain Gavras Anfang Mai ins Netz gestellt hat. Innerhalb von wenigen Tagen ist es allein auf den viel besuchten Webpages Youtube und Dailymotion über 1,2 Millionen betrachtet worden. Andere Quellen sprechen davon, es sei insgesamt bisher neun Millionen mal angeklickt worden, was schwer überprüfbar ist. Mit einem solchen Publikumserfolg hätte die aus zwei Personen - Caspar Augé und Xavier de Rosnay – bestehende Band sicherlich nicht gerechnet. Laut ihren eigenen Angaben kam es jedenfalls völlig unerwartet, dass der Clip derart zum Renner wurde.  

Auch mit der einsetzenden Polemik hatten sie nach eigenen Worten nicht gerechnet. Den an entsetzten Reaktionen mangelt es nicht, wobei in der anfänglich vor allem in Internetforen geführten – und später durch die Presse referierten – Diskussion schon schnell zwei Extrempositionen laut wurden: Wo die Einen die Anpreisung und Glorifizierung von Gewalt, ja nahezu eine Aufforderung zur Nachahmung erblicken mochten, vermuteten Andere eine verhüllte und dennoch deutlich rassistische Botschaft. Denn auffällig sei, so wurde in der Debatte schnell moniert, dass alle fünf Jugendlichen, die man die ganzen sechseinhalb Minuten über durch den Kurzfilm begleiten kann, entweder schwarz oder arabischstämmig seien. Ihre mehr oder minder dunkle Hautfarbe wird im übrigen zudem noch dadurch unterstrichen, dass sie schwarze Kapuzenpullis mit einem auf dem Rücken prangenden schwarzen, ungefähr kreuzförmigen Logo – dem der Band „Justice“ – tragen.  

Die Opfer hingegen, so dieselben Kritiker, seien „rein weib“. Dadurch wollten die Urheber die – Aufsehen erregende, aber falsche – Botschaft vom angeblichen „antiweiben Rassismus“, die während einer Debatte im Jahr 2005 die Gemüter kurzzeitig erregt hat (vgl. http://jungle-world.com/artikel/2005/14/14982.html), befördern. Allerdings hält die Behauptung, die Opfer seien „alle weib“, einer näheren Überprüfung nicht stand. Zwar scheinen die Bestohlenen oder Verprügelten mehrheitlich Herkunftsfranzosen zu sein. Aber schon in der ersten Szene sieht man eine Person eingeblendet, die selbst schwarz ist und mit den als Gang auftretenden Jugendlichen im Konflikt zu stehen scheint: In der Einblendung, die in der Hochhaussiedlung „La Forestière“ in Clichy-sous-Bois aufgenommen worden sein könnte, sieht man einen afrikanischstämmigen Mann mit nacktem Oberkörper auf dem Balkon stehen. Als er die Jugendlichen von dort aus erblickt, zieht er ein unerfreutes Gesicht, zeigt ihn einen Stinkefinger und bedeutet ihn mittels einer Handbewegung und eines – offenbar unfreundlichen – Zurufs, sie sollten gefälligst abzischen. Zu den Angegriffenen zählen, neben einer japanischen Touristin auf Montmartre, auch ein junger Mann mit „franko-asiatischem“ Aussehen. Ihn treffen die Jugendlichen auf einer Brücke, die in der Nähe des Pariser Nordbahnhofs über die Eisenbahngeleise führt, und schlagen ihn nieder.  

Eine lupenreine rassistische Botschaft ist also nicht einfach auszumachen. Sie lässt sich jedenfalls nicht an der Hautfarbe der Opfer, oder aller Opfer, festmachen. Es bleibt jedoch unbestreitbar, dass die gewalttätigen Jugendlichen in dem Film ihrerseits alle migrantischer Herkunft zu sein scheinen. Wahrscheinlich wird hier erst einmal nur ein Stereotyp, wie es in Teilen der Gesellschaft unstrittig existiert – wonach  fast alle straffällig Jugendlichen aus Unterschichten in den „Problemviertel“ farbig seien, was mit der Realität nicht übereinstimmt - , bedient. Ob die Urheber des Films so denken, oder ob sie nur mit einem Stereotyp anderer Personenkreise hantieren wollten, bleibt offen. 

Ebenso erscheint es nicht unbedingt plausibel, den Videofilm als Werbung für solcherlei Gewalt zu betrachten. Gar zu sinnentleert erscheint der Amok-Streifzug der fünf Protagonisten durch den Pariser Raum in seiner vollen Länge, und gar zu verzerrt blicken sie am Ende in die Kamera, um noch irgendwie bei einem Teil der Betrachter als positive „Helden“ erscheinen zu können. Zudem existieren mehrere Elemente ironischer Brechung in dem kurzen Film, beispielsweise dort, wo man – mehrfach innerhalb der gut sechs Minuten – die Kameramänner dicht auf den Fersen der Krawallmacher beobachten kann. Darin liegt wohl zumindest ein, bewusstes oder unbewusstes, Moment der Infragestellung der Rolle des Betrachters und erst recht der Medien. Beschwören doch Letztere gar zu oft die besonders spektakulären Symptome von Gewalt – insbesondere die Bilder brennender Autos – erst herauf. Nämlich indem sie durch ihre massive Präsenz und die massive Aufnahme solcher Bilder in den Medien den Jugendlichen in ghettosierten Unterklassenvierteln den Eindruck vermitteln, „so und nur so endlich mal ernst genommen und gefürchtet zu werden“. 

Ob der Effekt, darüber einmal nachzudenken, bei den Urhebern des Kurzfilms angedacht oder erwünscht war, bleibt freilich eine offene Frage. In einem Pressekommuniqué nahm das Künstlerduo der Band „Justice“ Mitte vergangener Woche (= GESTERN/VORGESTERN) Stellung, nachdem die Polemik einige Tage zuvor losgebrochen war – und dementierte jegliche absichtlich transportierte Message. Auch der Regisseur, der die Kamera führte, Romain Gavras, der Sohn des politisch engagierten Filmemachers Costas Gavras, ging in eine ähnliche Richtung, indem er argumentierte: „Meine Filmbilder haben keinen Sinn, sie sind für die Sinne gemacht.“ 

Falls wirklich so wenig bewusste Absicht hinter dem, was der Videofilm objektiv befördert, steht, so bleibt doch festzustellen, dass er vorhandene Fantasmata eifrig bedient. Insbesondere jenes von den „Barbaren“, die aus den Sozialghettos der Vorstädte eines nahen oder fernen Tages in die Kernstadt eindringen und dort Verwüstung sähen würden. Wobei es zwar Gewalt, gegen Rückspiegel wie mitunter gegen Person, in den Sozialghettos durchaus real gibt – eine solche Amokexpedition quer durch den Pariser Raum und auf den Touristenhügel von Montmartre, wie „Stress“ sie zeigt, in der Realität ziemlich schnell und mit mehrjährigen Haftstrafen enden dürfte. 

Absurd ist auch der, in Internetforen und verschiedentlich auch in Printmedien gezogene Vergleich zu Stanley Kubricks „Clockwork Orange“. Weder ist das dargestellte Niveau der Gewalt in beiden Fällen miteinander vergleichbar: „Clockwork Orange“ enthält extrem schockierende Bilder, ja traumatisierende Aufnahmen, wenn man an eine Szene (nicht direkt dargestellter, aber erkennbarer) sexueller Gewalt gegen eine Frau unter Zuhilfenahme eines phallusförmigen Kunstwerks denkt. Das Niveau der in „Stress“ zu sehenden Gewalt bleibt weit darunter, und das meiste Dargestellte hat man irgendwann schon einmal selbst gesehen. Als „einzige wirklich unerträgliche Szene“ bezeichnete ein Artikel in Le Monde jene, wo der Inhaber einer Bar einen Schlag auf den Kopf erhält. Nicht zuletzt kann sich das künstlerische Niveau, das auf der Eben von Dilettantismus bleibt, keinesfalls mit dem eines Stanley Kubrick messen lassen. 

NÜTZLICHE LINKS (VIDEO UND DEUTSCHSPRACHIGE ARTIKEL): 

- Zum Original-Videoclip: http://fr.youtube.com/watch?v=YnWUy8uFL1w  

- Artikel im SPIEGEL: http://www.spiegel.de/kultur/musik/0,1518,552821,00.html  

- Artikel im ‚Stern’: http://www.stern.de/unterhaltung/

- Artikel in der ‚taz’: http://www.taz.de/1/leben/musik/

Editorische Anmerkungen

Den Text erhielten wir vom Autor.