Jihadistische Umtriebe in Nordafrika
Jihad-Aktivisten sind zunehmend im eigenen politischen Lager isoliert, erzielen aber zugleich mächtige Medien- und internationale Wirkung

von Bernard Schmid

05/08

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Manchmal geht es in der Wirklichkeit zu wie in einem mittelmäßigen Holloywoodfilm. Durch einen unterirdischen Tunnel von 25 Metern Länge, den sie von den Toiletten ihrer Zelle aus gegraben hatten, sollen neun islamistische Aktivisten – von denen zum Tode, die anderen zu langjährigen Haftstrafen verurteilt worden waren - am 7. April dieses Jahres aus dem Zentralgefängnis im nordmarokkanischen Kénitra ausgebrochen sein. 

 Die Erdmassen, die sie dabei ausgehoben hatten, sollen sie bei Hofgängen unauffällig im Innenhof der Haftanstalt aus den Taschen geschüttelt haben. Ferner sollen sie meterweise Plastiksäcke mit Erdreich hinter einem Leintuch am Toiletteneingang verborgen haben. Der Tunnel, so hört man ferner, habe direkt in den Garten des Gefängnisdirektors geführt. Und von dort aus hätten die neun nur über eine Mauer zu hüpfen brauchen, während draußen eine schwarze Limousine auf sie wartete. Drinnen hinterließen  sie eine Wandinschrift, in der sie versprachen, „niemandem etwas zu leide zu tun“. Zuvor waren einige von ihnen lediglich aufgrund von Organisationsdelikten – also Mitgliedschaft in einer verbotenen Vereinigung oder Teilnahme an einer Versammlung -, andere jedoch aufgrund von Blutverbrechen wie dem Mord an einer 60jährigen französischen Touristin verurteilt worden. 

Legende oder Wirklichkeit? So jedenfalls schildert das seriöse Wochenmagazin Maroc Hebdo International in einer Ausgabe, die wenige Tage später erschien, in nüchternem Tonfall die jüngsten Ereignisse. Diese erregten nicht nur Aufmerksamkeit weit über die Grenzen des Königreichs hinaus, sondern sorgten auch dafür, dass in der marokkanischen Öffentlichkeit zahllose Gerüchte in Umlauf kamen. Wie war das nur möglich? Waren übermenschliche Kräfte am Werk?  

Die Erklärungen der Wochenzeitschrift sind unterdessen erheblich banaler. Kénitra, wo einst unter König Hassan II. (1961 bis 1999) einige von dessen prominentesten Gegnern einsaßen, ist längst nicht mehr die Hochsicherheitsfestung, die sie einmal war. Vielmehr ist das einstige Vorzeigegefängnis eine relativ banale Haftanstalt geworden, in die man – etwa beim Familienbesuch oder auch über Anwälte – schon mal kleinere Geräte einschmuggeln kann. Zudem ist das Aufsichtspersonal sehr schlecht bezahlt, und folglich reichlich unmotiviert. Von einer ideologischen „Sache“ hoch motivierte Gefangene, die eine gewisse kollektive Disziplin besitzen und ihren  Handlungen oder ihrem Leiden hinter Gittern einen vermeintlichen „Sinn“ verleihen können, über deswegen eine gewisse Anziehungskraft, ja Faszination auf ihre Wärter aus. Zumal beide oft aus denselben Armutsvierteln stammen, so jedenfalls das Wochenmagazin. Daraus resultieren mitunter Komplizenschaft. Ferner hätten radikale Islamistengruppen sich daran gemacht, durch Gefängnisprediger gezielte Agitation unter Häftlingen wie unter ihren Wärtern zu betreiben – die sozusagen einen „strategischen Sektor“ darstellen wie weiland die Arbeiterklasse aus der Sicht marxistisch-leninistischer Parteien. 

Am 1. Mai gaben die marokkanischen staatlichen Sicherheitskräfte bekannt, dass sie einen der neun Ausgebrochenen - Mohammed Chebti, der zu einer 20jährigen Haftstrafe verurteilt worden war - inzwischen wieder geschnappt haben. 

Länderübergreifendes Spektakel 

Durch spektakuläre Ausbrüche oder Aktionen haben djihadistische Aktivisten in den letzten Wochen in mehreren Ländern der Region von sich reden gemacht. Zur selben Zeit wie der Gefängnisausbruch in Marokko waren auch in der mauretanischen Hauptstadt Nouakchott prominenten islamistische Häftlinge am 2. April „verschwunden“, unter ihnen die mutmaßlichen Mörder von vier französischen Touristen, die am 24. Dezember 2007 in einer Provinzstadt im Nordosten Mauretaniens getötet wurden. Die Ausgebrochenen fielen jedoch auf, weil sie sich als Frauen verkleidet bewegten, dabei jedoch unter ihrer Kopfbedeckung Männerbärte verbargen. Am Montag, den 7. April wurden sie durch eine Schar  fröhliche Kinderschar aufgedeckt, denen ihre „männlichen“ Bewegungsweisen aufgefallen waren. Die lieben Kleinen riefen neugierig „Mann – Frau, Mann – Frau“ und lockten dadurch am Ende die Polizei herbei. Die Hälfte der Gruppe flog auf und wurde nach einem Schusswechsel festgenommen, fünf ihrer Mitglieder liefen hingegen nach wie vor frei herum.

Am 29. April dann konnte die mauretanische Polizei einen neuen Coup landen und verhaftete am Morgengrauen jenes Tages u.a. den 21jährigen früheren Soldaten und Dijhad-Aktivisten Sidi Ould Sina - der beschuldigt wird, die vier französischen Touristen selbst getötet zu haben - in einem ärmeren Viertel der Hauptstadt Nouakchott. Seit seiner Flucht 22 Tage zuvor war es ihm zwischendurch mehrfach gelungen, den staatlichen Sicherheitskräften durch die Lippen zu gehen. Nun kann er sich ihrem Zugriff nicht länger entziehen, und mit ihm sitzen erneut alle drei mutmaßlichen Urheber des Attentats vom Weihnachtstag in Haft. Zusammen mit Sidi Ould Sina wurden vier weitere dijhadistische „Kämpfer“ festgenommen, unter ihnen Khadim Ould Semane, der als der Kopf jenes Kommandos gilt, das am 1. Februar 2008 die israelische Botschaft in Nouakchott angriff. 

Zur selben Zeit dauert die Affäre um zwei österreichische Geiseln an, die Urlauber Wolfgang Ebner und Andrea Kloibner, die am 22. Februar dieses Jahres im algerisch-tunesischen Grenzgebiet mitten in der Sahara entfüihrtr worden sind - mutmaßlich durch Terroristen, die sich zum Netzwerk Al-Qaïda im Maghreb zählen. Seit Wochen laufen die Geheimverhandlungen, mehrere Ultimaten der Entführer sind ausgesprochen und immer wieder hinausgeschoben worden. Letztere fordern Geldzahlungen sowie die Freilassung von zehn islamistischen Häftlingen in Tunesien und Algerien. Die beiden Geiseln werden unterdessen im Nordosten von Mali vermutet, und sind mutmaßlich in der Region von Kidal geortet worden. 

Unterdessen hat sich die libysche „Muammar Gaddafi-Stiftung“, vertreten durch den Sohn des  Staatsoberhaupts Saif el-Islam Gaddafi, in den Vordergrund gedrängt: Sie erklärte aus eigenem Antrieb, dass sie mit den Entführern über die Zahlung eines Lösegelds verhandele. Ihr Korrespondent und Sprachrohr in Österreich ist dabei – am Außenministerium vorbei – der Kärnter Gouverneur Jörg Haider (BZÖ), der ihre Verlautbarungen an die heimische Presse gibt. Die beiden sind seit den Studienzeiten des Gadaffi-Sprösslings in Wien miteinander bekannt und gelten als befreundet.  

Die Gaddafi-Stiftung hatte bereits im Jahr 2003 das Lösegeld- die Rede ist inoffiziell von fünf Millionen Euro -  an die damaligen Entführer von fünfzehn deutschen, schweizerischen und österreichischen Geiseln bezahlt. Allerdings hat sie es sich kurz darauf mutmaßlich vom deutschen Staat wiedergeholt. Die damaligen Entführer gehörten zum GSPC (Salafistische Gruppe für Predigt und Kampf), der Vorläuferorganisation von „Al-Qaida im Land des islamischen Maghreb“, die ihren jetzigen Namen 2006 angenommen hat. Der libysche Staat wiederum befindet sich zwar zweifellos nicht auf einer ideologischen Wellenlänge mit den Entführern, im Gegenteil bekämpft er ihre innenpolitischen Pendants – vor allem in der östlichen Landeshälfte um Benghazi – erbittert. Allerdings wittert er hier eine Chance, seinen Ambitionen auf Anerkennung als Regionalmacht zusätzliche Geltung zu verschaffen, wie etwa die algerische Tageszeitung La Tribune (Ausgabe vom 18. März 08, Thema auf ihrer Titelseite) argwöhnt. Insbesondere möchte er demonstrativ den Beweis dafür führen, als einziger Machtfaktor stabilisierend auf die Sahelregion einwirken zu können. Möglicherweise profitiert die Gaddafi-Stiftung nebenbei auch finanziell, was allerdings auch ein verzichtbarer Luxus für sie sein könnte. 

Machtpolitische Interessen unterschiedlicher Staaten mischen mit 

Der libysche Staat ist nicht der einzige, der aus den Umtrieben des nordafrikanischen Al Qaida-Ablegers (geo)politischen Nutzen zu ziehen versucht. Denn zahllose Akteure machen sich das so symbolträchtige wie prominente Label von „Al Qaida“ zunutze, um ihrem eigenen geostrategischen Spiel neue Rechtfertigungen und neue Bedeutung zu verleihen. Das gilt für viele der im Namen von Al-Qaïda handelnden Akteure selbst, denn die genauen Konturen ihres nordafrikanischen Netzwerks bleiben bislang absolut rätselhaft. Aller Wahrscheinlichkeit aber operieren neben einem harten Kern ideologisch motivierter Jihad-Aktivisten eine ganze Reihe von puren Banden, vor allem aus den in den Sahara nomadisch lebenden Bevölkerungsgruppen, unter diesem Etikett. Im Gegensatz zu den „echten“, ideologisch gestählten Jihadisten, die in aller Regel aus den Städten kommen, können sie als Einzige in der Wüste leben. Die von Schmuggel und manchmal eben auch von Kidnapping lebenden Nomadengruppen benutzen dabei eine Art von „Joint-Venture“ mit den Gruppen oder Grüppchen von Jihad-Aktivisten – die ohne sie in der Wüste aufgeschmissen wären- , um sich eine weltweit wahrnehmbare Aura zu verleihen. Ihre Ziele sind aber äußerst begrenzt, und meistens rein finanzieller Natur. 

Aber auch westliche Großmächte nutzen das Auftauchen des globalen ‚Public Ennemi Number One’, Al-Qaida, als bequeme Rechtfertigung, um – aus Sicherheitsgründen - neue Militärbasen und eine verstärkte Präsenz in der ganzen Großregion rund um die westafrikanischen Sahelzone zu forcieren. So suchen die USA noch immer, einen regionalen Generalstab – AFRICOM – mitsamt erforderlicher Infrastruktur in einem afrikanischen Land einzupflanzen. Bislang hatte Afrika in den strategischen Plänen des US-Militärs eher „eine Art Anhängsel Europas gebildet“, wie das Wochenmagazin ‚Jeune Afrique’ in seiner Ausgabe vom 5. Mai 2008 schreibt. Und der Kontinent war innerhalb des US-Militärs zum Teil dem in Stuttgart ansässigen EUCOM, zum Teil dem für den Mittelost und Asien zuständigen CENTCOM mit Sitz in Florida, zum Teil (den im Indischen Ozean liegenden Teil Afrikas, darunter Madagaskar und die Komoren, betreffend) aber auch dem Pazifikkommando PACOM in Hawaii unterstellt gewesen.  Kurz, Afrika bildete wenn nicht einen blinden Fleck, dann doch zumindest eine (lange Zeit) vernachlässigbare Größe in den strategischen Planungen des Pentagon. Dies soll nun vollständig anders werden. Als Rechtfertigung für eine neue strategische Offensive - die parallel zur ökonomischen Großoffensive von US-Amerikanern und Chinesen zur Neuaufteilung der Einflusszonen in Afrika, und zum Einbrechen in den bisherigen französischen „Hinterhof“ auf dem Kontinent, verläuft - dient den US-Eliten „das Einsickern und die zunehmende Präsenz von Al-Qaida in der Sahara und der Sahel-Zone“. Nunmehr soll, schöne Demagogie!, ein schwarzer US-General die militärische Präsenz der Nordamerikaner auf dem afrikanischen Kontinent verkörpern: Der bislang in Stuttgart residierende General William Ward soll künftig das AFRICOM befehligen.   

Doch Pech nur, dass die Afrikaner nicht so wollen, wie Washington D.C. gerne möchte. Zunächst hatte die Entwicklungsgemeinschaft der Staaten des südlichen Afrika (SADC) im Jahr 2007 das Anliegen abgeschmettert, den Generalstab samt Truppe und Logistik in ihrem Raum stationiert zu sehen. Seitdem sondieren die USA diesbezüglich eher in Nordwestafrika, Stichwort „Einsickern von Al Qaida-Kräften in die Sahelzone“. Im Februar dieses Jahres lehnte nun auch Ghana das Stationierungsprojekt auf seinem Boden definitiv ab. Nun hat vor kurzem auch die Regierung Algeriens definitiv Nein zu dem Projekt gesagt: Sie befürworte eine Kooperation bei der Terrorismusbekämpfung, verlautbarte anlässlich eines Seminars zu ebendiesem Thema in Algier, möge aber keine dauerhaften Einschränkungen ihrer Souveränität durch längerfristig angelegte Militärbasen hinnehmen. 

Strategiedebatte im radikal-islamistischen Lager: Al-Qaida verliert an Boden und Fans 

Aber auch innerhalb der radikal islamistischen Bewegung tauchen in jüngster Zeit erhebliche Verwerfungen rund um die Aktionen von Al Qaïda im Maghreb auf. Letztere hat begonnen, sich von ihren eigenen ideologischen Glaubensbrüdern zu isolieren, insbesondere indem sie die – in Algerien bis vor anderthalb Jahren quasi unbekannte – „Technik“ des Selbstmordattentats vom Kriegsschauplatz Irak nach Nordafrika importierte. Dem widersprechen nun  sowohl Religionsexperte, die selbst der Strömung der Salafisten – welche eine Rückkehr zum „ursprünglichen Islam“ des 7. Jahrhunderts christlicher Zeitrechnung, jener der „Weggefährten des Propheten“ (al-salaf) angehören, als auch andere islamistische Unterströmungen: Aufgrund ihrer Vorgehensweisen, und aufgrund des rücksichtlosen Aufopferns von Zivilisten etwa durch die Streuwirkung von Autobombenanschläge, verlören die Al Qaïda-Fans auch die letzten Reste von Rückhalt in der Bevölkerung. Gleichzeitig wird ihnen auch die religiöse Autorität ihrer Begründungen abgesprochen. Eine Reihe salafistischer Imame wie ‚Tartussi’ oder ‚Abu Bakr El-Djezairi’ haben in der jüngsten Zeit die Selbstmordattentate, die Al-Qaida im Maghreb etwa im Laufe des Jahres 2007 in Algerien beging, verurteilt. 

Von der Heftigkeit des Konflikts zeugt ein Mord, den Al Qaïda-Anhänger am 16. März 2008 im algerischen Oued Souf an zwei Anhängern der Salafisten verübten, die gegen ihre Kampfmethoden Einwände erhoben. Sie wurden in eiçner Moschee während der Gebetszeit ermordet, was nunmehr viele Gläubige umso schärfer abstößt. Eine größere Anzahl radikal islamistischer Aktivisten hätten, berichtet die Informations-Webpage Magharabia.com, daraufhin vorläufig jegliche Tätigkeit eingestellt, um Instruktionen und Anweisungen von ihren religiösen Autoritäten abzuwarten. 

Der Konflikt um die Kampfmethoden und Strategien des harten Kerns von Al Qaida hat inzwischen das radikal islamistische Milieu im gesamten Nordafrika erfasst. In Ägypten veröffentlichte der inhaftierte ehemalige militante Islamistenführer „Doktor El-Fadl“, mit bürgerlichem Namen Sayed Imam Al-Chérif, vom Gefängnis aus eine kritische Abhandlung, in welcher er die Einstellung sämtlicher bewaffneter Aktivitäten fordert, die Anfang März 2008 bekannt wurde. Al-Qaida, deren Dunstkreis er früher angehörte, hat äußerst empfindlich und heftig darauf reagiert. Sie hätte dessen Schrift auch als Kapitulationsurkunde eines, unter dem Druck von Haftbedingungen oder Folter eingeknickten, Abtrünnigen abtun können. Stattdessen antwortete die Nummer Zwei in der Hierarchie von Al-Qaïda, der Ägypter Aylan al-Zawahari, darauf aber mit einer Kampfschrift von 380 Seiten Länge, die im Internet heruntergeladen werden kann und die die Argumente von „Doktor El-Fadl“ Punkt für Punkt widerlegen und den angeblichen Jihad rechtfertigen soll. Offensichtlich sitzt der Spaltpilz tief in den Reihen der Jihad-Anhänger.

Editorische Anmerkungen

Den Text erhielten wir vom Autor zur Veröffentlichung.