Algerien: Innenpolitisches Thema „Druck auf Christen“
Die Staatsmacht versucht, durch Gesetze und Prozesse eine arabisch-muslimische Leitkultur durchzusetzen und einen neuen Feind aufzubauen


von Bernard Schmid

05/08

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Macht frenetisches Beten kriminell und gewalttätig? Besteht eine Gefahr für die Stabilität des Staates, wenn eine Religionsgruppe ihrer Gebete in Kellern und Garagen verrichtet, statt sie von genehmigten Kultstätten aus gen Himmel zu schicken?

Hört man dem amtierenden Religionsminister zu, glaubt man beinahe, die Äußerungen mancher abendländischer Law and Order-Politiker zu vernehmen, die sich um die Gefahren für Sicherheit und Stabilität sorgen, welche der Moslem an und für sich verkörpert. Jedenfalls in einer Zeit, bevor die Mehrzahl der europäischen Regierungen beschloss, den in ihren Ländern praktizierten Islam lieber „ans Tageslicht“ zu holen und ihm offizielle Gebetsstätten anzubieten, damit das unkontrollierte Predigen in Kellergeschossen aufhört. Aber dieses Mal geht es um christliche Minderheiten, denen vorgeworfen wird, den Staat zu untergraben, sich dessen Kontrolle zu entziehen und die Werte und Tugenden der Mehrheitsgesellschaft in Frage zu stellen. 

            Das Ganze spielt sich in Algerien ab, wo die Behörden in den letzten Wochen und Monaten verstärkt gegen „illegale“ Aktivitäten christlicher Gemeinden vorgingen. Derzeit bestehen 32 funktionsfähige protestantische Kirchen in Algerien, von denen zwölf in jüngster Zeit Schließungsverfügungen erhielten, aufgrund nicht gesetzeskonformer Religionsbetätigung. Zudem erhielten mehrere christliche Kirchenvertreter aufgrund „missionarischer Bemühungen“ Strafen oder eine Ausweisungsverfügung. In Algerien leben derzeit rund 10.000 protestantische, und rund 1.500 katholische ChristInnen. Und es ist vor allem die Zahl der Erstgenannten, die zu steigen scheint - unter anderem auch die Frucht des frenetischen Missionseifers evangelikaler und anderer Protestanten, deren Kirchen und Sekten überwiegend nordamerikanischen Ursprungs sind und die (vgl. dazu unten mehr) in jüngster Zeit vor allem berberische Algerier zur ihrer Form des Aberglaubens bekehren konnten. Die relativ wenigen Katholiken, die in dem nordafrikanischen Land leben, sind hingegen überwiegend französischer Herkunft, oft Anhänger der Befreiungstheologie, die aus antikolonialen Motiven nach Algerien kamen und dort nach der Unabhängigkeit von 1962 blieben. 

            Ein solches staatliches Vorgehen ist in dem nordafrikanischen Land – in dem 98 Prozent der Bevölkerung der sunnitischen Richtung des Islam angehören - zwar nicht allein einer Minderheitsreligion wie dem Christentum vorbehalten. Zahlreiche Moscheen und muslimische Einrichtungen wurden in den letzten zwanzig Jahren aufgrund fehlender Gesetzeskonformität dicht gemacht, da der Staat befürchtete, dass sie außerhalb seiner Kontrolle zu „Brutstätten subversiver Propaganda“ der radikalen Islamisten werden könnten. Allmählich konnte der Zentralstaat so das Monopol der durch die Religionsbehörden der Regierung ernannten Imame auf das Predigen durchsetzen. Im sunnitischen Islam gibt es keinen hauptberuflichen, sondern nur einen Laienklerus, so dass im Prinzip jeder Gläubige zum Prediger werden kann, sofern er Religionskenntnisse nachweist. Dies nutzten in den späten achtziger und frühen neunziger Jahre junge Islamisten, um vielerorts die behäbigen und unpolitischen älteren Imame abzusetzen und ihre eigene Leuten durchzudrücken. Um sich behördlicher Kontrolle zu entziehen, predigten sie zudem oft in Moscheen, deren Bau noch nicht fertiggestellt war. Aber diesem Treiben hat die Regierung, im Laufe der Jahre zunehmend erfolgreich, einen Riegel vorgeschoben. Dafür ist das Religionsministerium da, das seit nunmehr elf Jahren von dem Konservativen Bouabdallah Ghlamallah angeführt wird. 

            Nur liegt der große Unterschied zum jetzigen Vorgehen einerseits darin, dass moslemische Gläubige in einem solchen Falle - in aller Regel - nur kurze Wegstrecken zurücklegen müssen, um auf die nächste Moschee zu treffen: Bei bestehenden 14.000 Moscheen im Land und 4.800 weiteren im Bau haben sie meist nur die Qual der Wahl. Hingegen trifft das jetzige Vorgehen der Regierung die christliche Minderheitsreligion tatsächlich empfindlich. Ferner bestehen keine Anzeichen dafür, dass die christlichen Aktivisten daran gearbeitet hätten, die algerische Regierung zu stürzen – was in jüngerer Vergangenheit zumindest auf manche Strömungen des algerischen Islamismus zutrifft, wenngleich zum Beispiel nicht für den algerischen Ableger der Muslimbrüder, deren Partei MSP-Hamas seit über 15 Jahren auf den „Marsch durch die Institutionen“ setzt.           

            Das Gesetz gegen Religionswechsel vom 28/02/2006 

            Grundlage für das staatliche Vorgehen gegen christliche Gemeinden ist ein Gesetz, das am 28. Februar 2006 verabschiedet worden ist. Es bedroht denjenigen, der „einen Muslim dazu auffordert, zwingt oder durch Einsatz verführerischer Mittel dazu veranlasst, eine andere Religion anzunehmen“, alternativ mit zwei bis fünf Jahren Haft oder einer Geldstrafe in einer Höhe zwischen 5.000 und 10.000 Euro. Der gesetzliche Mindestlohn für abhängig Beschäftigte in Algerien liegt bei  umgerechnet gut 100 Euro. Laut Verfassung ist der (sunnitische) Islam in dem 34 Millionen Einwohner zählenden Land Staatsreligion - wobei sie zugleich Parteien, die einen Gottesstaat anstreben, unter Verbot stellt. 

            In den letzten zwei bis drei Jahren finden sich in der algerischen Presse des Öfteren mal mehr, mal weniger hysterische Berichte über die Missionierungsbemühungen ausländischer, oft nordamerikanischer, Evangelikaler insbesondere in der Berberregion Kabylei.  

            Identitätspolitik mittels Christentum 

            Dort ist (rund um die Bezirkshauptstadt Tizi-Ouzou, in deren Umkreis allein sich schon rund 20 protestantische Kirchen, und damit glatte zwei Drittel der in ganz Algerien vorhandenen, befinden) in den letzten zehn Jahren tatsächlich ein Neuaufschwung des Christentums zu beobachten. Dieser viel mit der Tätigkeit solcher protestantisch-radikaler Missionare zu tun. Sie treffen dort auf Bestrebungen innerhalb der berberischen Gesellschaft, die sich um eine „identitäre“ Abgrenzung zu allem Arabischen bemüht zeigen. Nach dem Scheitern politischer Bewegungen in der Region, die die Gleichberechtigung der berberischen Kultur zusammen mit der sozialen Frage auf die Tagesordnung setzten – hingegen hat die Anerkennung der Berbersprache Tamazight als offizielle Verkehrssprache inzwischen Verfassungsrang erhalten – macht sich in einer Minderheit der dortigen Gesellschaft ein berberischer, antiarabischer Chauvinismus breit. In dem Bemühen, eine „neue Identität“ anzunehmen und jeglichen Bezug auf die den Berbern tatsächlich oft aufgezwungene „arabisch-muslimische Leitkultur“ abzulegen, wendet sich ein Teil der Gesellschaft auch dem Christentum zu; und wie jede auf  irrationalen Fundamenten aufbauende „Identitätspolitik“ handelt es sich auch hierbei um eine an & für sich fragwürdige Kiste.  

In Dörfern, wo jeder jeden kennt, sorgt dieses Phänomen seinerseits für eine gewisse soziale Verunsicherung, da der vermeintliche soziale Kitt tradierter Werte – in einer ländlich geprägten Gesellschaft, die in der Kabylei überwiegt – damit offenkundig zerbröckelt. 

            Die, insbesondere US-amerikanischen, Evangelikalen ihrerseits sind in den letzten Jahren zunehmend auf dem afrikanischen Kontinent aktiv. Dabei nimmt ihr Einfluss keineswegs immer nur die Form friedlich-naiver Bibelpredigten an. In vielen afrikanischen Ländern mischt sich der evangelikale Einfluss mit politischen Heilsideologien und kriegerischen Konflikten zu einem explosiven Cocktail. Im Bürgerkrieg in der Côte d’Ivoire, der nunmehr vorbei ist, stützten sich die Verfechter des rassistischen Konzepts  der Ivoirité – die die Südhälfte des Landes gegen den moslemischen Norden mobilisierte – auch stark auf evangelikale Kirchen. Im Ostkongo, wo der abtrünnige General Laurent Nkunda in den letzten Monaten einen neuen  bewaffneten Konflikt losgetreten hat, beruft dieser sich auch auf seine christliche Heilsbringermission. 

            Zurück zur algerischen Berberregion: Dieses tatsächliche Phänomen dient nun allerdings unterschiedlichen politischen Kräften als Projektionsfläche, um alle möglichen Gefahren zu beschwören. Die legale islamistische Partie En-Nahda zog etwa in den letzten Märztagen eine Verbindung zwischen der Untergrabung der Werte durch den wachsenden christlichen Einfluss und dem Anwachsen der Kriminalität: Die Evangeliken seien „dessen Hauptursache“ (vgl. http://www.lexpressiondz.com/). Dabei nutzen die legalen, regierungsnahen Islamisten von En-Nahda und MSP/Hamas die Warnung vor den Missionierungsbestrebungen mit ihrer traditionellen Fronstellung gegen die Kabylei, der sie seit längerem vorwerfen, den arabisch-muslimischen Charakter Algeriens in Frage zu ziehen. Sie vermengen zudem die traditionelle pro-israelische, zum Teil auf die Erwartung einer nahenden Verwirklichung der biblischen Apokalypse „in Jerusalem“ basierende, Haltung US-amerikanischer Protestanten und Evangelikaler mit dem algerischen „Problem“ – um von zionistischen Aktivitäten im Land zu sprechen. Eine ähnliche Tendenz weist  allerdings auch ein „geheimer Report von Sicherheitsdiensten“ auf, den die algerische Tageszeitung El-Khabar (Die Nachricht) publizierte. 

            Demgegenüber zeigte Religionsminister Ghlamallah sich in den letzten Tagen sogar moderat, indem er bei einer Pressekonferenz am 28. März betonte, es sei alles nicht so dramatisch: „Die evangelikalen Aktivitäten vollziehen sich weltweit und sind keine Besonderheit Algeriens.“ Panik sei nicht angebracht, zudem hätten sich im vergangenen Jahr - stolze Bilanz… - in Algerien auch 120 nicht-moslemische Ausländer zum Islam konvertiert. (Vgl. http://www.spcm.org/Journal/spip.php?article16096)  

            Die Regierung bemüht sich ihrerseits darum, vor allem die „positive“ Ausstrahlungsmission des Islam zu entwickeln. Anfang kommenden Jahres soll der Bau der geplanten größten Moschee der Welt – mit 300 Meter hohen Minaretten – für 900 Millionen Euro in Algier beginnen. Dieses Bestreben widerspiegelt auch eine reale, zunehmende Alltagsreligiosität in der algerischen Gesellschaft. Letztere ist heute sogar weitaus stärker als in jener Phase in den frühen neunziger Jahren, als die radikalen Islamisten der „Islamischen Rettungsfront“ (Fis) – die heute  in breitesten Kreisen diskreditiert sind – ihren Aufschwung nahmen. Die religiöse Praxis war damals weitaus schwächer, und viele Leute wählten den Fis, während sie selbst Alkohol tranken, Frauen anbaggerten oder andere Glaubensgebote übertraten. Die islamistische Partei vertrat weit eher eine politische Heilserwartung und –ideologie denn eine Religiosität im Alltag. Heute ist eine genau gegenläufige Erscheinung zu beobachten. Politische Utopien und Hoffnungen – auch auf ein reaktionäres Projekt wie jenes des früheren Fis – sind extrem schwach ausgeprägt. Stattdessen beherrscht ein Konsumfieber den Alltag, aber parallel dazu entwickelt sich ein Aufschwung religiöser Praktiken, welcher die empfundene „Sinnesleere“ auffüllen soll. Diese eher pietistisch daherkommende Glaubensschwung entspricht allerdings eher konservativen oder unpolitischen Haltungen gegenüber dem Staat und den Institutionen. 

            Nichtsdestotrotz hat die neue Gesetzgebung durchaus reale Konsequenzen und Auswirkungen für die Christen, seien sie nun evangelikale Fanatiker oder nicht. Dabei ist zudem zu beobachten, dass bei der Berichterstattung in der Presse oft unzulässig unterschiedliche Dinge miteinander vermischt werden: Artikel zu den missionierenden Evangelikalen werden oft durch Aufnahmen etwa von der katholischen Basilika Notre-Dame-de-Saint-Afrique auf den Anhöhen der Hauptstadt, die von der französischen Kolonisierung übriggeblieben und noch in Betrieb ist, illustriert. Aber die in Algerien ebenfalls präsente katholische Kirche missioniert nicht. Zudem war sie in den letzten Jahren im Land sehr gut akzeptiert. Nicht nur aufgrund ihrer sozialen Aktivitäten, sondern auch, weil viele ihrer langjährigen Vertreter vor Ort Anhänger der christlichen Befreiungstheologie sind und den Unabhängigkeitskampf gegen den französischen Kolonialismus seinerzeit unterstützten oder mit Sympathie begleiteten. Auch deshalb war die „identitäre“ Aufladung der Frage religiöser Zugehörigkeit, die während der Kolonialära auf die Spitze getrieben worden – das damalige französische Recht sah ein System konfessioneller Apartheid vor, in dem sich die Rechtsstellung der Individuen nach ihrer Religion richtete, weshalb viele den Islam mit der „Religion der Rechtlosen und Unterdrückten“ identifizierten – später real zurückgedrängt worden. Jedenfalls, wenn man die Ideologie der algerischen Islamisten ausnimmt, die genau diese Bruchlinien aus der kolonialen Periode wieder zu beleben trachteten.  

Druck auf Christen als Vorwand für die Verfolgung (schwarz)afrikanischer Migranten (…im Auftrag der Festung Europa!) 

            Am 30. Januar dieses Jahres wurde der katholische Priester Pierre Wallez, ein französischer Staatsbürger, in der Stadt Maghnia nahe der marokkanischen Grenze zu einem Jahr Haft, das zur Bewährung ausgesetzt wurde, verurteilt. Sein Berufungsprozess ist allerdings am 30. April von zuvor einem Jahr auf nunmehr zwei Monate Freiheitsstrafe auf Bewährung reduziert worden (vgl. http://www.oecumene.radiovaticana.org). - Ihm wurde vorgeworfen, in der Weihnachtszeit einen christlichen Gottesdienst außerhalb eines dafür genehmigten Gebäudes, anscheinend unter freiem Himmel, in einem Slumviertel von Maghnia abgehalten zu haben. An ihm hatten außer ihm selbst rund 30 Migranten aus dem subsaharischen Afrika, konkret handelte sich um christliche Kameruner, teilgenommen. Es handelte sich also keinesfalls um den Versuch, Algerier von ihrem Glauben abtrünnig werden zu lassen. Und hier zeigt sich ein weiterer Aspekt des derzeit massiv ausgeübten staatlichen Drucks auf Formen christlicher Betätigung: Er trifft in der Praxis besonders auch solche Bevölkerungsgruppen, die auch in Algerien – und nicht nur dort – besonders rechtlos sind, nämlich Ein- respektive Durchwanderer aus dem subsaharischen Afrika. Besonders drastisch kommt dies dadurch zum Ausdruck, dass neben dem Priester Wallez auch ein algerischer Arzt verurteilt wurde, in seinem Falle zu zwei Jahren Haft ohne Bewährung. Ihm wurde vorgeworfen, dass er die Schwarzafrikaner mit Medikamenten kostenlos behandelt hatte, die er angeblich aus dem Gesundheitszentrum von Maghnia gestohlen haben sollte. 

            Aufsehen erregte ferner in jüngerer Verangenheit, dass am 28. März zwei protestantische Pastoren, die auf einer Straße zwischen den beiden Bezirkshauptstädten der Kabylei – Tizi-Ouzou und Bejaïa – unterwegs waren, vorübergehend festgenommen wurden. Sie hatten elf Bibeln bei sich geführt, was den Verdacht einer Missionierungsaktivität näherte. Nach 24stündigem polizeilichem Gewahrsam kamen sie jedoch frei. 

            Dissidenz und Protest 

            Die öffentliche Meinung ist sich jedoch keineswegs einig über ihre Haltung zu diesen Formen religiöser Repression. Die Tageszeitung Liberté, die einem berberischen Milliardär – Ibrahim Rebrab – gehört, titelte etwa dazu: „Algeriens einziges Problem ist der Islamismus!“ Allerdings hat dieser, jedenfalls in seiner militanten und umstürzlerischen Form, seine stärksten Tage vorläufig hinter sich. 

            Unterdessen wurde am 17. März 2008 in Algier ein Aufruf von prominenten Intellektuellen des Landes „gegen Intoleranz“. Seine Unterzeichner sprechen sich für „die Glaubens- und Gewissenfreiheit“ aus und solidarisieren sich „mit der christlichen Gemeinde gegen die ebenso brutalen wie ungerechtfertigen Maßnahme“, die sich gegen sie richteten. Zu den Unterstützern zählen solch prominente und populäre Figuren wie der Karikaturist (u.a. bei Liberté) Ali Dilem, der kritische Historiker des algerischen Unabhängigkeitskriegs Mohammed Harbi und der frühere Vorsitzende der algerischen Liga für Menschenrechte, Ali Yahia Abdenour. Ihr Aufruf hat seitdem hohen Wellen in der öffentlichen Debatte geschlagen.

Editorische Anmerkungen

Den Text erhielten wir vom Autor zur Veröffentlichung.