G 8- Gipfel:
Eine andere Welt ist möglich

von der Gruppe "Internationale Kommunistische Strömung" (IKS)

05/07

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Zehntausende Menschen aus allen Erdteilen kommen nach Heiligendamm, um gegen den empörenden Zustand unserer Welt zu protestieren. Anlass: der so genannte G8 bzw. Weltwirtschaftsgipfel, wo die Führer der sieben führenden Industriestaaten plus Russland sich treffen, um ihre menschenverachtende Politik auf Kosten der Interessen der menschlichen Gattung abzusprechen. Turnusgemäß findet das Treffen diesmal in Deutschland statt. Um die Ruhe und Sicherheit der Staatschefs zu garantieren, werden auch diesmal Sperrzonen festgelegt, Sicherheitszäune hochgezogen, Demonstrationsverbote verhängt, Razzien durchgeführt, Menschen verprügelt oder in Beugehaft genommen. Diese Heerschau der bewaffneten Staatsmacht wird diesmal nicht vom russischen Geheimdienst- und Polizeistaat veranstaltet, sondern von der zur Musterdemokratie mutierten Bundesrepublik Deutschland. Die Spezialkräfte der Polizei, welche die Demonstranten einschüchtern sollen, werden von der christdemokratischen und sozialdemokratischen Bundesregierung in Berlin bzw. von der aus SPD und Linkspartei bestehenden Landesregierung in Mecklenburg-Vorpommern befehligt. Diese Aufmärsche des Staates sind keine Überschreitungen der bürgerlich-demokratischen Kultur, sondern sind Teil dieser von Blut und Schmutz durchtränkten Unkultur. „Die von der Dominanz der G8 geprägte Welt ist eine Welt der Kriege, des Hungers, der sozialen Spaltung, der Umweltzerstörung und der Mauern gegen Migrantinnen und Flüchtlinge“ schreibt einer der Demonstrationsaufrufe.

Eine notwendige Suche nach Antworten

Wie der wahnwitzigen Spirale der Ausbeutung, Verarmung und Zerstörung Einhalt gebieten? Wie die Auflösung der menschlichen Gesellschaft durch ungezügelten Individualismus und ungezügeltes Profitstreben umkehren? Wie die Vernichtung unserer natürlichen Lebensgrundlage, wie die Schändung unseres herrlichen Planeten durch eine außer Kontrolle geratene Wirtschaftsmaschinerie aufhalten, bevor es zu spät ist? Es gibt keine Fragen, vor denen die Menschheit steht, die wichtiger wären als diese – oder dringlicher.

Das Zusammenkommen so vieler Menschen aus aller Herren Länder, um ihre Stimmen dagegen zu erheben, dass unsere Gesellschaft sehenden Auges gegen die Wand gefahren wird, muss uns Anlass sein, um miteinander zu debattieren. Ein solcher internationaler Dialog wäre bereits ein erster und sehr wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Schließlich liegt es auf der Hand, dass nicht mal eine einzige der großen Menschheitsfragen der Gegenwart anders als auf Weltebene angegangen und gelöst werden kann.

Eins ist klar: Die Zusammenkünfte der Regierenden können kein anderes Ergebnis haben als die Fortsetzung und Verschärfung der bereits bestehenden Barbarei. Was wir brauchen ist ein globaler Austausch unter den Betroffenen aller Länder, damit wir gemeinsam und von „unten“ die Verantwortung für unsere Welt kämpfend in die eigenen Hände nehmen können.

Nicht allein die Proteste gegen G8, sondern die Dringlichkeit der Aufgaben sind Anlass genug, nicht nur um über echte, realistische Alternativen zur bestehenden Weltordnung nachzudenken, sondern um mit der gebührenden Ernsthaftigkeit und Aufrichtigkeit der Frage nachzugehen, welche Kräfte oder Kampfmethoden gegenüber den gestellten Aufgaben Aussicht auf Erfolg haben können?

Handeln ist dringlich: Aber wie?

Unter den „Protestierenden“ gibt es bei jedem Weltwirtschaftsgipfel viele, welche in Wahrheit zur Erhöhung des Glanzes dieser Zusammenkünfte beitragen. Sie gehören zum Gipfeltross dazu wie die polizeilichen Aufmärsche oder das festliche Staatsbankett am Abend. So etwa die superreichen Clowns der Musikindustrie und die anderen Bittsteller, die gute Taten von Bush, Putin und Merkel verlangen. So die kritischen Intellektuellen und linken Politiker, welche über die Staatschefs herziehen, aber selbst Mitglied derselben politischen Parteien sind wie diese, oder ihnen auf andere Weise dienen. Aber es gibt auch viele, die, ohne persönliche Interessen zu verfolgen, aus ehrlicher Empörung heraus anreisen. 

Die „Gipfelgegner“, wie man sieht, stellen keine geschlossene und handlungsfähige Gruppe dar. Das wissen selbstverständlich auch die Regierungen der G8. In der Öffentlichkeit wird zwischen Friedlichen und Gewalttätern unterschieden. Im Vorfeld des Gipfels haben die deutschen Sicherheitsbehörden dieser Unterscheidung Ausdruck verliehen, indem sie erklärten: Das Recht auf friedlichen Protest werden wir nicht nur gewähren, sondern – wenn nötig mit Waffengewalt – schützen. Die Gewalttäter hingegen werden wir unerbittlich verfolgen, ihre Anreise aus dem Ausland bereits an der Grenze beenden bzw. sie unverzüglich des Landes verweisen (so viel zu Europa ohne Grenzen!) Die anderen sind am ehesten in Beugehaft zu nehmen und bei Auseinandersetzungen wie Terroristen zu behandeln.

Allerdings ist diese Unterteilung in die guten, weil friedlichen, und die bösen, weil gewalttätigen Protestierenden, aus dem Munde der Staatgewalt wenig überzeugend, ja geradezu verdächtig. Schließlich ist die nackte, militärische Gewalt wie auch die indirekte, ökonomische Gewalt das Alltagsgeschäft der Herrschenden. Diese Unterteilung dient dazu, diejenigen zu kriminalisieren und einzuschüchtern, die eine radikale Infragestellung des Systems anstreben. Zugleich wird damit der Anschein geweckt, dass es die Gewalt ist, vor der sich die Herrschenden fürchten. So wird dafür gesorgt, dass auch auf der anderen Seite des Sicherheitszauns nur ein Spektakel stattfindet: Musikkonzerte, Gottesdienste und lammfromme Kundgebungen, aber auch Auseinandersetzungen mit der Polizei. Alles, was man will, nur eins nicht: Dass Teilnehmer aus den verschiedenen Erdteilen miteinander die Möglichkeit einer weltweiten Umwälzung erörtern, welche das Herrschaftssystem wirklich zum Einsturz bringen könnte.

Nachdenken, miteinander diskutieren – haben wir dazu überhaupt noch Zeit? Und beim Gipfel erst! Sollte die Losung da nicht heißen: Protestieren statt Palavern?

Andererseits: Ist das Kennzeichen jeder aussichtsreichen menschlichen Tätigkeit nicht deren Zielgerichtetheit? Und bedingen sich nicht das Ziel einer Handlung und die entsprechenden Mittel dazu nicht gegenseitig? Mit einem Wort: Müssen Mittel und Ziel nicht miteinander übereinstimmen?

Was sind aber die Ziele der Protestierenden gegen G8? Oder andersrum gefragt: Welche Selbstverständnis über die Ziele und über das Wesen des Problems drücken sich aus durch diese Art des Kampfes zur Lösung der Probleme der Welt, die darin besteht, sich dort protestierend zu sammeln, wo die Staatschefs sich versammeln?

Die Lösung der Gipfelgegner lautet seit langem: Eine andere Welt ist möglich. Was aber zumeist darunter verstanden wird, ist: Eine andere Politik ist möglich. Es geht also darum, die versammelten Politiker durch öffentlichen Druck zu zwingen, einen Politikwechsel zu betreiben. Ansonsten ergäbe es auch keinen Sinn, den Politikern von Gipfel zu Gipfel hinterher zu jagen.

Welche andere Politik verlangt wird, ist auch bekannt: Die Politik der neoliberalen Globalisierung, welche die Wirtschaftspolitik an den Renditen-Interessen internationaler Finanzanleger und Konzerne ausrichtet, soll abgelöst werden durch eine Rückkehr zur Politik des Wohlfahrtsstaates, wie sie nach dem 2. Weltkrieg in den westlichen Industriestaaten praktiziert wurde. Man verspricht sich davon, die globale Verarmung und die globalen Verheerungen der letzten Jahrzehnte rückgängig machen oder ihnen zumindest Einhalt gebieten zu können.

Die Organisatoren der Gipfelproteste rühmen sich, nicht nur radikal, ja antikapitalistisch zu sein, sondern auch knallhart realistisch. Anstatt träumerischen Utopien nachzuhängen wollen sie konkrete Reformen, welche dem Großkapital wehtun und der arbeitenden Bevölkerung handfeste Vorteile bescheren. Zwar teilen sich die Gipfelstürmer in „gemäßigte“ und „radikale“ Fraktionen. Aber diese Auseinandersetzungen beschränken sich auf die Frage, welche Mittel des Protestes eingesetzt werden sollen, stellen also die allgemeine Zielsetzung einer Reform des Kapitalismus nicht in Frage.

 

Rückkehr zum Wohlfahrtsstaat?

Viele Gipfelgegner, die durchaus gegen den Kapitalismus eingestellt sind, stimmen dieser Zielsetzung zu, denn unter Rückkehr zum Wohlfahrtstaat verstehen sie v.a. Aufrechterhaltung und Verbesserung der Gesundheitsfürsorge oder der Bildung, Bekämpfung der Armut usw. Jedoch muss die Frage zur Diskussion gestellt werden, ob diese Ziele durch eine Rückkehr zum Wohlfahrtsstaat überhaupt erreichbar sind! Wie realistisch sind eigentlich die „handfesten“ Reformvorhaben der Gipfelgegner?

Das, was man Wohlfahrtsstaat nennt, war übrigens keine Erfindung des Nachkriegsstaates. In Deutschland z.B. wurden Elemente davon bereits unter Bismarck eingeführt (um die revolutionäre Arbeiterbewegung zu bekämpfen), oder unter Hitler (als Teil der Kriegswirtschaft). Aber als der „Welfare State“ keynesianischer Prägung nach dem 2. Weltkrieg in allen westlichen Industriestaaten ausgebaut wurde, geschah dies in einem ganz konkreten geschichtlichen Rahmen. Das kapitalistische System war zwar am Anfang des 20. Jahrhunderts in seine Niedergangsphase getreten, in die Epoche der Kriege und Revolutionen (Die beiden Weltkriege, die Weltwirtschaftskrise der 30er Jahre, aber auch die sozialistische Arbeiterrevolution, welche am Ende des 1. Weltkriegs in Russland für sehr kurze Zeit siegte, aber in Deutschland scheiterte, machen das deutlich.). Dennoch gab es nach 1945 viel mehr Möglichkeiten für die Herrschenden, das System zu stabilisieren als heute. Das Regulierungsinstrument dieser Stabilisierung war der Staat.

Die „Globalisierungskritiker“ (die dazu neigen, den Staat zu beschönigen) behaupten, dass die „Globalisierung“ ein Produkt der neoliberalen Politik der letzten 30 Jahre sei, und die die Welt in die  Händen der internationalen Konzern gelegt und damit undemokratisch gemacht habe. Der Wohlfahrtsstaat nach 1945 hingegen sei auf nationale Interessen ausgerichtet und somit demokratischer gewesen und habe mehr den Interessen der Gesamtbevölkerung gedient. Sie vergessen dabei, dass die Hauptzielscheiben ihrer Kritik – Weltbank und Internationaler Währungsfond – keine Schöpfungen der neoliberalen Zeit waren, sondern nach dem 2. Weltkrieg von den „keynesianisch“ geprägten Nationalstaaten des Westens geschaffen wurden. Im Rahmen des damals prägenden Ostwestkonflikts war nämlich erstmals eine internationale Koordinierung der Wirtschaftspolitik der westlichen Konkurrenten möglich geworden u.a. mit dem Ziel, sich der Ressourcen der sog. Dritten Welt systematischer zu bedienen. Das Ziel: Die Stabilisierung der Herzländer des Kapitalismus. Eines der tragischsten Ergebnisse dieser Politik war denn auch die Verbreitung von Armut und Hunger in weiten Teilen der Welt in einem zuvor nicht gekannten Ausmaß. Das geschah wohlgemerkt unter dem Leitstern nicht von Milton Friedman und der Chicago Boys, sondern von Keynes!

Was den Wohlfahrtsstaat selbst betrifft, war er keineswegs als Wohltat für die Armen gedacht. Er war zu einer wirtschaftlichen Notwendigkeit für das kapitalistische System geworden. Während der „Wirtschaftswunderzeit“ herrschte zunehmend Arbeitskräftemangel. Da wurde es dringend, das angeschlagene „Humankapital“ schnell zu „reparieren“ (Gesundheitswesen), die Frauen für den Arbeitsmarkt zu mobilisieren (Kindergeld, Krippenplätze) oder den rar gewordenen Arbeitskräften Mut zu machen, flexibler zu werden und eine neue Stelle zu suchen (Arbeitslosenversicherung).

Die Klasse der Kapitalisten begann erst dann, den Wohlfahrtsstaat in Frage zu stellen (die Ideologie des Neoliberalismus), als in Folge der Rückkehr der Massenarbeitslosigkeit dieser Einrichtung der wirtschaftliche Sinn abhanden gekommen war. Warum das „Humankapital“ am Leben erhalten und „reparieren“, wenn es im Überfluss vorhanden ist? Dennoch wurde der Wohlfahrtsstaat nicht sofort zerschlagen, sondern zunächst nur eingeschränkt. Dies nicht aus wirtschaftlichen, sondern aus politischen Erwägungen. Denn die Massenarbeitslosigkeit offenbart das Wesen der Lohnarbeit als Grundlage des Kapitalismus: Die Unsicherheit der Lebenslage. Hält diese Unsicherheit zu lange an, überschreitet sie einen gewissen Intensitätsgrad, wird sie kaum noch zu vereinbaren sein mit der menschlichen Natur. Da kann es passieren, dass die Menschen, deren Arbeitskraft zur Ware degradiert worden ist, dass die Lohnsklaven gegen diese absolute Unsicherheit, gegen den Kapitalismus aufstehen, um ihre eigene Menschlichkeit zu verteidigen.

Weltreform oder Weltrevolution?

Was bedeutet, wenn heute der „Neoliberalismus“ weltweite Triumphe feiert. Es bedeutet, dass der Kapitalismus aufgrund der Tiefe der geschichtlichen Krise des allgemeinen Warensystems es sich wirtschaftlich nicht mehr leisten kann, diese Krise in dem Maße durch wohlfahrtsstaatliche Maßnahmen politisch abzufedern wie zuvor.

Das sind die Ideen, die wir anlässlich der G8 Gipfelproteste gerne zur Debatte stellen möchten. Wir meinen, dass das Projekt einer Rückkehr zum Wohlfahrtsstaat der Nachkriegszeit eine reaktionäre Utopie darstellt. Utopisch, weil die Krise des Kapitalismus selbst den Wohlfahrtsstaat unmöglich gemacht hat. Reaktionär, weil die Weltordnung des Wohlfahrtsstaats nicht minder barbarisch war als die heutige. Die Krise der Gegenwart ist eine Krise des Lohnsystems, eine Krise der verallgemeinerten Warenwirtschaft, des Kapitalismus, welcher die menschlichen und natürlichen Grundlagen unserer Gesellschaft immer mehr zerstört. Eine Lösung kann es nur auf Weltebene geben. Aber diese Lösung kann nicht eine Reform der Welt sein, weil der Kapitalismus nicht reformierbar ist. Die Lösung kann nur in einer Weltrevolution liegen. Da diese Revolution sich gegen das Lohnsystem selbst richten muss, kann sie nur von den Lohnsklaven angeführt werden. Eine proletarische Revolution für eine Welt ohne Waren und ohne Ausbeutung: Das ist es, was wir zur Debatte stellen möchten.

Eine andere Welt ist möglich.

Editorische Anmerkungen

Den Artikel erhielten wir von der AutorInnengruppe der IKS am 23.5.07.