Bernard Schmid berichtet aus Frankreich

Nach dem ersten Wahlgang der Präsidentenwahl:
Interview mit Olivier Besancenot,
Ex-Kandidat

05/07

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ZUR PERSON:

Olivier Besancenot wurde im April dieses Jahr, kurz vor dem ersten Durchgang der französischen Präsidentschaftswahl, 33. Bereits zum zweiten Mal trat er, wie schon 2002, als Kandidat der Ligue Communiste Révolutionnaire (LCR) zur Präsidentschaftswahl an. In diesem Jahr stand seine Wahlkampagne unter dem Motto: „Unsere Leben sind mehr wert als ihre Profite“. Mit 4,1 Prozent und 1,5 Millionen Stimmen wurde Besancenot zum bestplatzierten Kandidaten links von der Sozialdemokratin Ségolène Royal. Vor fünf Jahren hatte er (bei geringerer Wahlbeteiligung) 4,2 Prozent und 1,2 Millionen WählerInnen.

Besancenot kam als Oberschüler Anfang der neunziger Jahre zur LCR, die selbst 1969 als direktes Produkt aus dem französischen Mai 68 entstand - unter dem Namen Ligue Communiste, bevor sie infolge eines Parteiverbots 1973/74 unter ihrem heutigen Namen wiedergegründet wurde. Besancenot hat später Geschichte studiert und einen Job bei der Post gefunden, wo er auch Mitglied der linken Basisgewerkschaft SUD-PTT ist. Er arbeitet heute als Briefträger im Pariser Nobelvorort Neuilly-sur-Seine, wohnt aber selbst im proletarischen 18. Pariser Bezirk. Er hat ein Kind und verdient, laut seiner obligatorischen Finanzerklärung als Kandidat, 1.050 Euro im Monat.


Frage:  Sie haben das höchste Wahlergebnis unter allen Kandidaten links von der sozialdemokratischen Präsidentschaftsbewerberin Ségolène Royal erzielt. Aber insgesamt haben die Kandidatinnen und Kandidaten links von der Sozialdemokratie, sofern man die Grünen in die Rechnung mit einbezieht, in diesem Jahr 10 Prozent der Stimmen bekommen. Vor fünf Jahren waren es noch zusammen 19 Prozent. Wie erklären Sie sich diesen Rückgang ?

Antwort : Ganz ehrlich, ich glaube, dass die Antwort nach fünf Jahren einer sehr offensiv vorgehenden Rechtsregierung und nach dem Wahlausgang von 2002 – als Jean-Marie Le Pen gegen den Amtsinhaber Jacques Chirac in die Stichwahl kam – tatsächlich vor allem im oft beschworenen « Vote utile » (Nützlich stimmen) liegt. Also in der sehr verbreiteten Neigung, das « kleinere Übel » zu wählen, um sicher zu sein, am Ende nicht allein die Wahl zwischen einem selbst weit nach rechts gerückten konservativen Lager und der extremen Rechten zu haben. Diese Logik hat Ségolène Royal und der Sozialistischen Partei im übrigen in den letzten Wochen des Wahlkampfs als Ersatz für ein Programm gedient! Sie beschworen das Gespenst einer Wiederkehr des Szenarios von 2002, um moralischen Druck auf zögernde Linkswähler auszuüben.

Frage: Was bedeutet das konkret?

Antwort: Ich selbst habe am Ausgang meiner Wahlveranstaltungen oftmals Dutzende von Leuten sagen hören: „Mit dem Herzen würde ich für Dich stimmen, aber mit dem Kopf wähle ich Royal schon im ersten Wahlgang, damit sie überhaupt in die zweite Runde kommt.“ Ich habe darauf immer geantwortet, dass man den Kopf auch dazu benutzen sollte, an die Programme und Ideen der jeweiligen Kandidaten zu denken, und dass auf dieser Ebene Linke mit Royal und den von ihr ständig beschworenen Werten ein Problem haben müssten. Allem Anschein nach hielt Royal es für eine vordringliche Frage, dass jeder Haushalt eine französische Nationalflagge daheim haben müsse, wie sie bei ihrer Rede in Marseille forderte, anstatt die sozialen Bedürfnisse offensiv aufzugreifen! Aber die Angst und der moralische Druck, „nützlich zu stimmen, um seine Stimme nicht zu verschwenden“, waren schließlich übergroß. Alle Kandidatinnen und Kandidaten auf der Linken haben darunter gelitten. Um diesem Druck zu widerstehen, musste man eine totale politische Unabhängigkeit gegenüber der Sozialdemokratie behaupten. Und ich glaube, dass uns dies relativ gut gelungen ist. Wir haben die Notwendigkeit betont, eine starke antikapitalistische Linke zu haben, egal wie die Wahl ausgeht, für die gesellschaftlichen Kämpfe von morgen…

Frage: Was ist mit den übrigen Linken, beispielsweise mit der französischen KP? Besiegelt ihr schlechtes Wahlergebnis, 1,9 Prozent für ihre Parteichefin Marie-George Buffet, nun endgültig ihr historisches Schicksal? Und warum hat der Globalisierungskritiker José Bové derart schlecht abgeschnitten?

Antwort: Anders als wir hat die französische KP eine zweideutige Position gegenüber möglichen künftigen Bündnissen mit der sozialdemokratischen Parteiführung bezogen. Und sie hat es teuer bezahlt, da nicht klar wurde, warum man gerade für ihre Kandidatin und nicht für Royal stimmen solle, wo sie doch schon im Wahlkampf andeutete, dass sie künftig eventuell mit den Sozialdemokraten zusammen regieren würde. Aber die KP hat ein strategisches Problem: Bei den Parlamentswahlen Mitte Juni hat sie ihre 20köpfige Abgeordnetengruppe und ihren Fraktionsstatus zu verlieren. Und bei den Kommunalwahlen Anfang nächstes Jahres hat sie die ihr noch verbleibenden Rathäuser zu verteidigen. Deshalb meint die KP, sie dürfe es sich mit der Sozialdemokratie nicht verscherzen - denn wenn diese keine Rücksicht auf die KP mehr nimmt, sondern in deren Hochburgen im ersten Wahlgang gegen sie antritt, dann sind die meisten KP-Kandidaten künftig weg vom Fenster. Die KP-Führung hat sich dafür entschieden, lieber diese verbleibenden institutionellen Einflussmöglichkeiten zu bewahren, und sich in relative Abhängigkeit von der Sozialdemokratie zu begeben. Aber politisch ist sie damit profillos geworden. Falls sie trotz ihrer Bemühung bei den Parlamentswahlen viele Mandate einbüßt, dann stellt sich für diese Partei tatsächlich die Überlebensfrage.

José Bové wollte zuerst das gesamte Spektrum der Gegner des Neoliberalismus repräsentierte. Als das nicht funktionierte, hat er vorgegeben, eine breite Bewegung gegen die Parteien auf der Linken und radikalen Linken zu vertreten. Aber in Wirklichkeit ist er nicht als Vertreter eines breiten Spektrums erschienen, sondern er wurde in der öffentlichen Meinung mit bestimmten einzelnen Themen identifiziert: Ablehnung genmanipulierter Nahrungsmittel, Ökologie, Kritik an der Globalisierung. Aber er wurde kaum mit den sozialen Fragen und Bedürfnissen identifiziert, die links im Mittelpunkt der Debatten standen.

Frage: Was ist Ihre beste Erinnerung an den Wahlkampf? Und welches die schlechteste?

Antwort: Offen gesagt, ich habe nur gute Erinnerungen… (Lacht) Dieser Wahlkampf war sehr ermüdend, aber ich habe viel Enthusiasmus in den Veranstaltungen erlebt. Wir hatten sehr viel mehr neue Leute, die noch nie Kontakt mit uns und unseren Mitgliedern hatten, in den Veranstaltungen als im Wahlkampf von 2002. Vor allem habe ich bewegende Erinnerungen an meine Auftritte in bestreikten Unternehmen, etwa bei Citroen in Aulnay-sous-Bois bei Paris, wo vier Wochen lang und bis kurz vor den Wahlen für eine Lohnerhöhung gestreikt worden ist, oder anderswo bei Streiks gegen Massenentlassungen. Auch meine Besuche in den quartiers, also den Unterschichtsvierteln und Trabantenstädten, waren sehr positive Erlebnisse. Ich erntete viel Zuspruch, man sagte mir immer wieder: Endlich ein Kandidat, der ohne Leibwächter hierher kommt, normal mit uns spricht und sich für unsere Probleme interessiert! Meine schlimmste Erinnerung ist es, einen bestimmten Kandidaten von „nationaler Identität“ im Zusammenhang mit Zuwanderung reden und von einer „angeborenen, genetischen Neigung“ zu Pädophilie, Suizid und Homosexualität reden zu hören…

Frage: Sie spielen auf Aussprüche von Nicolas Sarkozy an. Besteht ein Zusammenhang zwischen seinem Wahlerfolg, und dem Rückgang der Stimmenzahl Jean-Marie Le Pens?

Antwort: Alles spricht dafür. Ungefähr ein Viertel der Stimmen, die 2002 für Le Pen abgegeben wurden, gingen dieses Mal zu Sarkozy. Und der konservative Kandidat hat explizit Wahlkampf zu Themen und mit Ideen gemacht, die bis dahin die von Le Pen waren: nationale Identität, Autoritätsverlangen usw. Der Stimmenanteil des Front National ist also zurückgegangen, aber nicht der Einfluss seiner Ideen in der Gesellschaft. Letztere haben sich „banalisiert“, erscheinen also heute als etwas relativ Normales. Auch rechts hat man in diesem Jahr „nützlich gewählt“, da viele frühere Wähler Le Pens den Eindruck vermittelt bekamen, dass zumindest mancher ihrer Ideen endlich von einem aussichtsreichen Kandidaten in reale Politik umgesetzt werden könnten. Das rechtsextreme Potenzial ist also nicht zurückgegangen, es hat nur andere Ausdrucksformen gefunden. Das ist vielleicht noch gefährlicher.

Frage: Was tun Sie, wenn Sarkozy dennoch gewinnt?

Antwort: Ich glaube, dass man dann mit einer Beschleunigung der Angriffe auf soziale Errungenschaften und einer verstärkten Diskriminierung gegen die Nachfahren von Einwanderern und gegen Trabantenstadtbewohner rechnen muss. Aber ich denke, dass man auch in diesem Fall mit Widerständen und Protestbewegungen rechnen muss. In den letzten fünf Jahren hat die Rechtsregierung bereits die Gangart bei den regressiven „Reformen“ beschleunigt, aber die Lohnabhängigen haben ihren Willen und ihre Fähigkeit zur Gegenwehr bewiesen. Etwa 2003 gegen die „Rentenreform“, wobei dieser Abwehrkampf mit einer Niederlage endete, oder 2006 mit dem erfolgreichen Kampf gegen die Angriffe auf den Kündigungsschutz. Die soziale Bewegung von unten steckt in Schwierigkeiten, aber sie ist nicht auf Dauer besiegt. Man wird also den sozialen Widerstand organisieren müssen. Dabei wird man auch darauf hinweisen müssen, dass es falsch wäre, der Sozialdemokratie Vertrauen zu schenken, nur weil sie in der Opposition ist.

Mehr denn je wird künftig eine radikale und antikapitalistische Linke benötigt werden, die den Interessen der Lohnabhängigen und der Unterdrückten so eng verbunden ist, wie ein Präsident Sarkozy den Kapitalinteressen verbunden wäre.

Frage: Und wenn Ségolène Royal, wider die augenblicklichen Erwartungen, gewinnen sollte?

Antwort: Zunächst einmal wären ein Gutteil der Lohnabhängigen und der Jugend sicherlich sehr erleichtert. Nicht so sehr deshalb, weil Royal gesiegt hätte, sondern deswegen, weil Sarkozy verloren hätte. Aber dadurch wäre noch keines der sozialen Probleme gelöst. In diesem Wahlkampf habe ich eine Umverteilung der gesellschaftlichen Reichtümer vorgeschlagen: Das Kapitel strich vor dreißig Jahren noch 30 Prozent des produzierten Mehrwerts ein – gegenüber 70 Prozent für die Löhne und Gehälter -, heute sind es 40 Prozent. Ich schlug einfach vor, diese Verschiebung rückgängig zu machen. So forderte ich eine Anhebung des gesetzlichen Mindestlohns (SMIC) von zur Zeit 1.200 Euro brutto (und 980 Euro netto), auf 1.500 Euro netto, denn das braucht man, um in Paris von seinem Lohn zu leben. Aber Ségolène Royal hat ihrerseits 1.500 Euro brutto versprochen, und das innerhalb von fünf Jahren… Das wäre ziemlich genau, was die gesetzlichen Vorschriften – die die Regierung dazu verpflichten, jährlich die Inflationsrate und die Hälfte des durchschnittlichen Anstiegs von Löhnen und Gehältern auf den SMIC draufzulegen – ohnehin zur Folge hätten.

Von allein wird also auch unter Royal kein soziales Problem gelöst werden. Es wird auch dann soziale Kämpfe und Bewegungen brauchen. Und vor allem wäre es wichtig, dass es dann nicht nur eine rechte Opposition gibt, die Royal massiv unter Druck setzen wird, sondern eben auch eine Opposition von links.

Editorische Anmerkung

Der Artikel wurde uns vom Autor am 3.5.07 zur Verfügung gestellt. EINE LEICHT GEKÜRZTE FASSUNG ERSCHIEN AM 2.5.07 IN DER ‚JUNGLE WORLD’.