ZUR PERSON:
Olivier Besancenot wurde im April dieses Jahr, kurz vor dem
ersten Durchgang der französischen Präsidentschaftswahl, 33.
Bereits zum zweiten Mal trat er, wie schon 2002, als Kandidat
der Ligue Communiste Révolutionnaire (LCR) zur
Präsidentschaftswahl an. In diesem Jahr stand seine
Wahlkampagne unter dem Motto: „Unsere Leben sind mehr wert als
ihre Profite“. Mit 4,1 Prozent und 1,5 Millionen Stimmen wurde
Besancenot zum bestplatzierten Kandidaten links von der
Sozialdemokratin Ségolène Royal. Vor fünf Jahren hatte er (bei
geringerer Wahlbeteiligung) 4,2 Prozent und 1,2 Millionen
WählerInnen.
Besancenot kam als Oberschüler Anfang der neunziger Jahre zur
LCR, die selbst 1969 als direktes Produkt aus dem
französischen Mai 68 entstand - unter dem Namen Ligue
Communiste, bevor sie infolge eines Parteiverbots 1973/74
unter ihrem heutigen Namen wiedergegründet wurde.
Besancenot hat später Geschichte studiert und einen Job bei
der Post gefunden, wo er auch Mitglied der linken
Basisgewerkschaft SUD-PTT ist. Er arbeitet heute als
Briefträger im Pariser Nobelvorort Neuilly-sur-Seine, wohnt
aber selbst im proletarischen 18. Pariser Bezirk. Er hat ein
Kind und verdient, laut seiner obligatorischen Finanzerklärung
als Kandidat, 1.050 Euro im Monat.
Frage: Sie haben das höchste Wahlergebnis unter allen
Kandidaten links von der sozialdemokratischen
Präsidentschaftsbewerberin Ségolène Royal erzielt. Aber
insgesamt haben die Kandidatinnen und Kandidaten links von der
Sozialdemokratie, sofern man die Grünen in die Rechnung mit
einbezieht, in diesem Jahr 10 Prozent der Stimmen bekommen. Vor
fünf Jahren waren es noch zusammen 19 Prozent. Wie erklären Sie
sich diesen Rückgang ?
Antwort : Ganz ehrlich, ich glaube, dass die Antwort nach
fünf Jahren einer sehr offensiv vorgehenden Rechtsregierung und
nach dem Wahlausgang von 2002 – als Jean-Marie Le Pen gegen den
Amtsinhaber Jacques Chirac in die Stichwahl kam – tatsächlich
vor allem im oft beschworenen « Vote utile » (Nützlich stimmen)
liegt. Also in der sehr verbreiteten Neigung, das « kleinere
Übel » zu wählen, um sicher zu sein, am Ende nicht allein die
Wahl zwischen einem selbst weit nach rechts gerückten
konservativen Lager und der extremen Rechten zu haben. Diese
Logik hat Ségolène Royal und der Sozialistischen Partei im
übrigen in den letzten Wochen des Wahlkampfs als Ersatz für ein
Programm gedient! Sie beschworen das Gespenst einer Wiederkehr
des Szenarios von 2002, um moralischen Druck auf zögernde
Linkswähler auszuüben.
Frage: Was bedeutet das konkret?
Antwort: Ich selbst habe am Ausgang meiner
Wahlveranstaltungen oftmals Dutzende von Leuten sagen hören:
„Mit dem Herzen würde ich für Dich stimmen, aber mit dem Kopf
wähle ich Royal schon im ersten Wahlgang, damit sie überhaupt in
die zweite Runde kommt.“ Ich habe darauf immer geantwortet, dass
man den Kopf auch dazu benutzen sollte, an die Programme und
Ideen der jeweiligen Kandidaten zu denken, und dass auf dieser
Ebene Linke mit Royal und den von ihr ständig beschworenen
Werten ein Problem haben müssten. Allem Anschein nach hielt
Royal es für eine vordringliche Frage, dass jeder Haushalt eine
französische Nationalflagge daheim haben müsse, wie sie bei
ihrer Rede in Marseille forderte, anstatt die sozialen
Bedürfnisse offensiv aufzugreifen! Aber die Angst und der
moralische Druck, „nützlich zu stimmen, um seine Stimme nicht zu
verschwenden“, waren schließlich übergroß. Alle Kandidatinnen
und Kandidaten auf der Linken haben darunter gelitten. Um diesem
Druck zu widerstehen, musste man eine totale politische
Unabhängigkeit gegenüber der Sozialdemokratie behaupten. Und ich
glaube, dass uns dies relativ gut gelungen ist. Wir haben die
Notwendigkeit betont, eine starke antikapitalistische Linke zu
haben, egal wie die Wahl ausgeht, für die gesellschaftlichen
Kämpfe von morgen…
Frage: Was ist mit den übrigen Linken, beispielsweise
mit der französischen KP? Besiegelt ihr schlechtes Wahlergebnis,
1,9 Prozent für ihre Parteichefin Marie-George Buffet, nun
endgültig ihr historisches Schicksal? Und warum hat der
Globalisierungskritiker José Bové derart schlecht abgeschnitten?
Antwort: Anders als wir hat die französische KP eine
zweideutige Position gegenüber möglichen künftigen Bündnissen
mit der sozialdemokratischen Parteiführung bezogen. Und sie hat
es teuer bezahlt, da nicht klar wurde, warum man gerade für ihre
Kandidatin und nicht für Royal stimmen solle, wo sie doch schon
im Wahlkampf andeutete, dass sie künftig eventuell mit den
Sozialdemokraten zusammen regieren würde. Aber die KP hat ein
strategisches Problem: Bei den Parlamentswahlen Mitte Juni hat
sie ihre 20köpfige Abgeordnetengruppe und ihren Fraktionsstatus
zu verlieren. Und bei den Kommunalwahlen Anfang nächstes Jahres
hat sie die ihr noch verbleibenden Rathäuser zu verteidigen.
Deshalb meint die KP, sie dürfe es sich mit der Sozialdemokratie
nicht verscherzen - denn wenn diese keine Rücksicht auf die KP
mehr nimmt, sondern in deren Hochburgen im ersten Wahlgang gegen
sie antritt, dann sind die meisten KP-Kandidaten künftig weg vom
Fenster. Die KP-Führung hat sich dafür entschieden, lieber diese
verbleibenden institutionellen Einflussmöglichkeiten zu
bewahren, und sich in relative Abhängigkeit von der
Sozialdemokratie zu begeben. Aber politisch ist sie damit
profillos geworden. Falls sie trotz ihrer Bemühung bei den
Parlamentswahlen viele Mandate einbüßt, dann stellt sich für
diese Partei tatsächlich die Überlebensfrage.
José Bové wollte zuerst das gesamte Spektrum der Gegner des
Neoliberalismus repräsentierte. Als das nicht funktionierte, hat
er vorgegeben, eine breite Bewegung gegen die Parteien auf der
Linken und radikalen Linken zu vertreten. Aber in Wirklichkeit
ist er nicht als Vertreter eines breiten Spektrums erschienen,
sondern er wurde in der öffentlichen Meinung mit bestimmten
einzelnen Themen identifiziert: Ablehnung genmanipulierter
Nahrungsmittel, Ökologie, Kritik an der Globalisierung. Aber er
wurde kaum mit den sozialen Fragen und Bedürfnissen
identifiziert, die links im Mittelpunkt der Debatten standen.
Frage: Was ist Ihre beste Erinnerung an den Wahlkampf?
Und welches die schlechteste?
Antwort: Offen gesagt, ich habe nur gute Erinnerungen… (Lacht)
Dieser Wahlkampf war sehr ermüdend, aber ich habe viel
Enthusiasmus in den Veranstaltungen erlebt. Wir hatten sehr viel
mehr neue Leute, die noch nie Kontakt mit uns und unseren
Mitgliedern hatten, in den Veranstaltungen als im Wahlkampf von
2002. Vor allem habe ich bewegende Erinnerungen an meine
Auftritte in bestreikten Unternehmen, etwa bei Citroen in
Aulnay-sous-Bois bei Paris, wo vier Wochen lang und bis kurz vor
den Wahlen für eine Lohnerhöhung gestreikt worden ist, oder
anderswo bei Streiks gegen Massenentlassungen. Auch meine
Besuche in den quartiers, also den Unterschichtsvierteln
und Trabantenstädten, waren sehr positive Erlebnisse. Ich
erntete viel Zuspruch, man sagte mir immer wieder: Endlich ein
Kandidat, der ohne Leibwächter hierher kommt, normal mit uns
spricht und sich für unsere Probleme interessiert! Meine
schlimmste Erinnerung ist es, einen bestimmten Kandidaten von
„nationaler Identität“ im Zusammenhang mit Zuwanderung reden und
von einer „angeborenen, genetischen Neigung“ zu Pädophilie,
Suizid und Homosexualität reden zu hören…
Frage: Sie spielen auf Aussprüche von Nicolas Sarkozy
an. Besteht ein Zusammenhang zwischen seinem Wahlerfolg, und dem
Rückgang der Stimmenzahl Jean-Marie Le Pens?
Antwort: Alles spricht dafür. Ungefähr ein Viertel der
Stimmen, die 2002 für Le Pen abgegeben wurden, gingen dieses Mal
zu Sarkozy. Und der konservative Kandidat hat explizit Wahlkampf
zu Themen und mit Ideen gemacht, die bis dahin die von Le Pen
waren: nationale Identität, Autoritätsverlangen usw. Der
Stimmenanteil des Front National ist also zurückgegangen, aber
nicht der Einfluss seiner Ideen in der Gesellschaft. Letztere
haben sich „banalisiert“, erscheinen also heute als etwas
relativ Normales. Auch rechts hat man in diesem Jahr „nützlich
gewählt“, da viele frühere Wähler Le Pens den Eindruck
vermittelt bekamen, dass zumindest mancher ihrer Ideen endlich
von einem aussichtsreichen Kandidaten in reale Politik umgesetzt
werden könnten. Das rechtsextreme Potenzial ist also nicht
zurückgegangen, es hat nur andere Ausdrucksformen gefunden. Das
ist vielleicht noch gefährlicher.
Frage: Was tun Sie, wenn Sarkozy dennoch gewinnt?
Antwort: Ich glaube, dass man dann mit einer
Beschleunigung der Angriffe auf soziale Errungenschaften und
einer verstärkten Diskriminierung gegen die Nachfahren von
Einwanderern und gegen Trabantenstadtbewohner rechnen muss. Aber
ich denke, dass man auch in diesem Fall mit Widerständen und
Protestbewegungen rechnen muss. In den letzten fünf Jahren hat
die Rechtsregierung bereits die Gangart bei den regressiven
„Reformen“ beschleunigt, aber die Lohnabhängigen haben ihren
Willen und ihre Fähigkeit zur Gegenwehr bewiesen. Etwa 2003
gegen die „Rentenreform“, wobei dieser Abwehrkampf mit einer
Niederlage endete, oder 2006 mit dem erfolgreichen Kampf gegen
die Angriffe auf den Kündigungsschutz. Die soziale Bewegung von
unten steckt in Schwierigkeiten, aber sie ist nicht auf Dauer
besiegt. Man wird also den sozialen Widerstand organisieren
müssen. Dabei wird man auch darauf hinweisen müssen, dass es
falsch wäre, der Sozialdemokratie Vertrauen zu schenken, nur
weil sie in der Opposition ist.
Mehr denn je wird künftig eine radikale und antikapitalistische
Linke benötigt werden, die den Interessen der Lohnabhängigen und
der Unterdrückten so eng verbunden ist, wie ein Präsident
Sarkozy den Kapitalinteressen verbunden wäre.
Frage: Und wenn Ségolène Royal, wider die
augenblicklichen Erwartungen, gewinnen sollte?
Antwort: Zunächst einmal wären ein Gutteil der
Lohnabhängigen und der Jugend sicherlich sehr erleichtert. Nicht
so sehr deshalb, weil Royal gesiegt hätte, sondern deswegen,
weil Sarkozy verloren hätte. Aber dadurch wäre noch keines der
sozialen Probleme gelöst. In diesem Wahlkampf habe ich eine
Umverteilung der gesellschaftlichen Reichtümer vorgeschlagen:
Das Kapitel strich vor dreißig Jahren noch 30 Prozent des
produzierten Mehrwerts ein – gegenüber 70 Prozent für die Löhne
und Gehälter -, heute sind es 40 Prozent. Ich schlug einfach
vor, diese Verschiebung rückgängig zu machen. So forderte ich
eine Anhebung des gesetzlichen Mindestlohns (SMIC) von zur Zeit
1.200 Euro brutto (und 980 Euro netto), auf 1.500 Euro netto,
denn das braucht man, um in Paris von seinem Lohn zu leben. Aber
Ségolène Royal hat ihrerseits 1.500 Euro brutto versprochen, und
das innerhalb von fünf Jahren… Das wäre ziemlich genau, was die
gesetzlichen Vorschriften – die die Regierung dazu verpflichten,
jährlich die Inflationsrate und die Hälfte des
durchschnittlichen Anstiegs von Löhnen und Gehältern auf den
SMIC draufzulegen – ohnehin zur Folge hätten.
Von allein wird also auch unter Royal kein soziales Problem
gelöst werden. Es wird auch dann soziale Kämpfe und Bewegungen
brauchen. Und vor allem wäre es wichtig, dass es dann nicht nur
eine rechte Opposition gibt, die Royal massiv unter Druck setzen
wird, sondern eben auch eine Opposition von links.
Editorische Anmerkung
Der Artikel wurde uns vom Autor am 3.5.07 zur
Verfügung gestellt.
EINE LEICHT GEKÜRZTE FASSUNG ERSCHIEN AM
2.5.07
IN
DER ‚JUNGLE WORLD’.
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