Der große
Wahlverlierer im ersten Durchgang der französischen
Präsidentschaftswahl ist der rechtsextreme Kandidat Jean-Marie
Le Pen. Zuvor hatten ihn die Meinungsforschungsinstitute die
letzten Monate hindurch konstant überbewertet, und zahlreiche
Beobachter hatten über mögliche „Überraschungen“ auf dieser
Seite spekuliert oder gemunkelt. In aller Regel waren dem Chef
des Front National (FN) zwischen 13 und 17 Prozent der Stimmen
vorhergesagt worden. Nur war Le Pen dieses Mal, anders als
früher, durch die Meinungsforschungsinstitute über- und nicht
unterschätzt worden. Da seine Wähler ihre Stimmabsichten den
Meinungsforschern gegenüber oft verschweigen, werden oft so
komplizierte „Umrechnungsfaktoren“ an seine Umfragewerte
angelegt. Oft täuschen diese Prognosen.
Zahlen, Zahlen
Am 22. April
2007, in der ersten Runde der Präsidentschaftswahl, erhielt der
Chef des Front National (FN) 10,44 Prozent der Stimmen
(Ergebnisse für Frankreich inklusive der Überseegebiete, ohne
letztere sind es 10,5 Prozent). Dies ist sein magerstes Ergebnis
überhaupt bei einer Präsidentschaftswahl, sieht man von seiner
Kandidatur im Jahr 1974 (0,74 Prozent) ab, als die extreme
Rechte noch eine Splitterpartei bildete. 1981 hatte der
rechtsextreme Politiker nicht kandidieren können, und bei seinen
drei Kandidaturen von 1988, 1995 und 2002 erhielt er zwischen
14,4 und 17 Prozent.
Man muss
aber auch die absoluten Zahlen heranziehen, denn da die
Wahlbeteiligung in diesem Jahr stark angestiegen ist (eine
Konsequenz insbesondere der Polarisierung „pro oder kontra
Sarkozy“ in einem Grobteil
der Wählerschaft), sinkt der prozentuale Anteil automatisch bei
gleichbleibender Wählerzahl. In absoluten Zahlen ausgedrückt,
hat Jean-Marie Le Pen am 22. April dieses Jahres 3,8 Millionen
Wähler angezogen. Das sind gut eine Million weniger als beim
ersten Durchgang, und anderthalb Millionen Stimmen weniger als
im zweiten Durchgang der Wahl von 2002. Damals hatte Jean-Marie
Le Pen 4,77 Millionen Wähler in der ersten Runde (zuzüglich
660.000 für seinen rechtsextremen Konkurrenten Bruno Mégret) und
5,45 Millionen im zweiten Wahlgang. Dies entsprach damals einem
Stimmenanteil von jeweils rund 17 Prozent.
Der
rechtskatholische Politiker und nationalkonservative Graf
Philippe de Villiers, Chef der Kleinpartei Mouvement pour la
France (MPF, „Bewegung für Frankreich“), erhielt seinerseits
in diesem Jahr 2,2 Prozent der Stimmen und gut 800.000 Stimmen.
Seine Stimmen wären wohl, hätte de Villiers nicht antreten
können, gut zur Hälfte an Le Pen und zu rund einem Drittel an
Nicolas Sarkozy gegangen. Er war vor fünf Jahren nicht
angetreten. Aber 1995 hatte Philippe de Villiers bereits einmal
zur französischen Präsidentschaftswahl kandidiert und damals
einen Anteil von 4,74 Prozent sowie 1,4 Millionen Stimmen
erzielt. Sein diesjähriges Ergebnis ist ein klarer Misserfolg.
Ihm war es im Vorfeld der Wahl nicht gelungen, einen
eigenständigen Platz zwischen Jean-Marie Le Pen auf der einen
Seite, und den Konservativen unter Nicolas Sarkozy auf der
anderen Seite zu behaupten.
Der grobe
Wahlsieger in der diesjährigen ersten Runde ist bekanntlich der
frühere Innenminister Nicolas Sarkozy. Er erhielt, mit 11
Millionen Wählerinnen und Wählern, genau 31 Prozent der Stimmen.
Regionale Unterschiede...
Besonders
deutlich ist der Rückgang des FN-Kandidaten in jenen Regionen,
wo die Wählerschaft der Partei historisch von der traditionellen
Rechten gekommen ist. Dies gilt für das Elsass, wo der FN seit
den 1980er Jahren eine traditionell christdemokratisch geprägte
Wählerschaft – im Zuge ihrer Entkonfessionalisierung -
aufgesogen hatte, und für die Region PACA (Provence-Alpes-Côtes
d’Azur). Dort hatte die rechtsextreme Partei sich vor allem
auf ehemalige Algerienfranzosen, die nach der
Entkolonialisierung in Mittelmeernähe angesiedelt worden und
traditionelle Rechtswähler sind, stützen können. In diesen
Regionen hat die konservative Rechte mit ihrem Kandidaten
Nicolas Sarkozy beträchtliche Zugewinne auf Kosten Le Pens
erzielen können. Gleichwohl zählen dieselben Regionen weiterhin
zu jenen, wo der FN-Kandidat, relativ betrachtet, am stärksten
abgeschnitten hat: Im Elsass und in PACA erhält er je noch 13,6
bzw. 13,8 Prozent. Geringer sind seine Verluste (gemessen am
früheren Stimmenanteil) in früheren Arbeiterregionen - wie der
Picardie, die erst in den letzten Jahren zur Hochburg des FN
geworden ist, wo Le Pen sich aber noch immer bei 15,4 Prozent
hält und seinen gröbten
Stimmenanteil in einer französischen Region erzielt. Hier sind
die Überschneidungen zwischen dem traditionellen rechten,
konservativen Publikum und dem FN relativ gering, und Le Pen hat
nicht so hohe Verluste zugunsten des Kandidaten der bürgerlichen
Rechten zu beklagen.
...und soziale Verteilung der FN-Stimmen
Was die
Verteilung seines landesweiten Ergebnisses auf soziale Gruppen
betrifft, so sind die Kleinunternehmer mit rund 13 Prozent und
die Arbeiter in ähnlicher Höhe leicht überrepräsentiert. Was die
Arbeitslosen betrifft, soi kommt es darauf an, auf welche
Auswertung der Wahl man blickt, denn mal sollen sie zu 9 Prozent
und dann wieder zu 15 Prozent für Le Pen gestimmt haben. Am
stärksten fällt der Stimmenanteil für Le Pen, laut Zahlen der
Wirtschaftszeitung ‚La Tribune’ vom 23. April, unstrittig mit 24
Prozent unter den Zeitarbeitern aus. Anscheinend sind viele von
ihnen darum bestrebt, ihre täglich erlebte soziale und
wirtschaftliche Prekarität durch ein ausgeprägtes,
ideologisiertes „Sicherheitsbedürfnis“ zu kompensieren.
Sarkozy attraktiv für viele FN-Wähler
Offenkundig ist das Kalkül des Kandidaten, der für den
konservativen Bürgerblock antrat, aufgegangen: Nicolas Sarkozy
rückte demonstrativ weit nach rechts und appellierte so oft an
die „nationale Identität“, dass er einen Teil der rechtsextremen
Wähler anziehen konnte.
Laut Zahlen,
die am 24. April 07 in der Tageszeitung ‚Libération’
veröffentlicht wurde, haben 23 Prozent der Wähler Jean-Marie Le
Pens aus dem Jahr 2002 sich in diesem Jahr schon im ersten
Wahlgang für den konervativen Kandidaten entschieden. Hingegen
spricht die liberale Pariser Abendzeitung ‚Le Monde’ gar von 28
Prozent der Wähler Le Pens von vor fünf Jahren, die direkt zu
Nicolas Sarkolas übergelaufen seien. Die auf Satire und
Enthüllung spezialisierte Pariser Wochenzeitung ‚Le Canard
enchaîné’ (25. April) stellt dies in einer Karikatur dar: „Immer
dieses Unsicherheitsproblem! (Le Pen beschwert sich beim
Polizeikommissar, der für die Aufnahme von Strafanzeigen
zuständig ist und die Züge von Ex-Innenminister Sarkozy trägt:)
‚Man hat mir meine Wähler gestohlen!’“
Die
linksliberale ‚Libération’ ihrerseits hatte am 23. April in
einer Karikatur einen Kopf Nicolas Sarkozys auf dem Rumpf
Jean-Marie Le Pens, neben dessen abgefallenem Haupt,
dargestellt. Für Polemiken mit Linken und Liberalen im Vorfeld
der Wahl hatte insbesondere Sarkozys –- am 8. März 07
geäußerter, und oftmals wiederholter -– Vorschlag zur
Einrichtung eines Ministeriums für „Einwanderung und nationale
Identität“ gesorgt. In einem Interview mit Libération vom
12. April hatte der Ex-Innenminister explizit von seinem Willen,
„die Wähler des FN zu gewinnen“, gesprochen.
AUSZUG AUS NICOLAS SARKOZYS INTERVIEW
IN ‚Libération’
VOM 12. APRIL 07
Frage: Diese Forderung nach dem Ministerium
(Anm. „für Einwanderung und nationale Identität“, laut
Sarkozys Formulierung) erhob bislang allein der Front
National.
Antwort Nicolas Sarkozy: Wenn Le Pen etwas
anfasst, ist es deshalb noch nicht verboten, es zu
berühren. (...) Es gibt ein Problem mit der Zuwanderung,
die Integration funktioniert nicht länger.
Frage: Aber die meisten Einwanderer
integrieren sich...
Antwort: Das Kopftuch, die ‚groben
Brüder’, die Zwangsehen, (...) die Neuankömmlinge, die
unter sich bleiben, die schwierigen Viertel mit
Ghettostrukturen, habe ich das alles erfunden?
Frage: Sie wollen die Wähler Le Pens?
Antwort: Wenn ich sage, ich will die Stimmen
der Arbeiter, greift niemand mich an. Aber wenn ich sage:
Achtung, man muss die Wähler des FN gewinnen, dann gibt es
ein Erdbeben! In wessen Namen soll es schlecht sein, die
Wähler des FN gewinnen zu wollen? |
Jean-Marie
Le Pen selbst wird am 1. Mai anlässlich des traditionellen
rechtsextremen Aufmarschs vor der Pariser Oper verkünden, zu
welchem Stimmverhalten im zweiten Durchgang er aufruft. In der
Vergangenheit hat er sich dabei unterschiedlich positioniert. So
rief er 1988 aus: „Keine Stimme für (François) Mitterrand!“ Das
ließ eine Stimmabgabe für dessen konservativen Gegenkandidaten
Jacques Chirac ausdrücklich offen. Aber in der Folgezeit zürnte
Le Pen über den bürgerlichen Politiker, da dieser keinen
persönlichen Kontakt mit ihm akzeptierte, sondern ihn nach Le
Pens Worten „als Aussätzigen behandelte“. Bei der Wahl von 1995
dagegen wertete Le Pen im Vergleich mit Chiracs
sozialdemokratischem Widersacher: „Chirac ist schlimmer als
Jospin!“ Derzeit wird mit Spannung erwartet, ob Le Pen am 1.
Mai, direkt oder indirekt, zur Stimmabgabe für Nicolas Sarkozy
in der Stichwahl fünf Tage später aufrufen wird oder nicht.
Ankündigung
Unsere
Berichterstattung darüber, sowie unsere Wahlauswertung werden
wir in der kommenden Woche fortsetzen. Zumal nun auch in der
rechtsextremen Presse eine spannende Diskussion über die
Ursachen der Niederlage begonnen hat. Die rechtsextreme
Wochenzeitung ‚Minute’, die eine Scharnierfunktion
zwischen dem rechten Flügel der Konservativen und dem FN
einnimmt, publizierte ihre Ausgabe vom 25. April unter dem
Titel: „Die Gründe eines Flops.“ Im Blattinneren analysiert sie
ausführlich die Ursachen für den Rückgang, und berichtet ferner
über einen angespannten Wahlabend beim FN, in dessen Verlauf die
Fäuste flogen. Spannende Lektüre in der nächsten Woche...
Editorische Anmerkung
Der Artikel wurde uns vom Autor am 3.5.07 zur
Verfügung gestellt.