Bernard Schmid berichtet aus Frankreich

Nach dem ersten Wahlgang der Präsidentenwahl:
Klaut Nicolas Sarkozy nun Le Pen seine Wähler?

05/07

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Der große Wahlverlierer im ersten Durchgang der französischen Präsidentschaftswahl ist der rechtsextreme Kandidat Jean-Marie Le Pen. Zuvor hatten ihn die Meinungsforschungsinstitute die letzten Monate hindurch konstant überbewertet, und zahlreiche Beobachter hatten über mögliche „Überraschungen“ auf dieser Seite spekuliert oder gemunkelt. In aller Regel waren dem Chef des Front National (FN) zwischen 13 und 17 Prozent der Stimmen vorhergesagt worden. Nur war Le Pen dieses Mal, anders als früher, durch die Meinungsforschungsinstitute über- und nicht unterschätzt worden. Da seine Wähler ihre Stimmabsichten den Meinungsforschern gegenüber oft verschweigen, werden oft so komplizierte „Umrechnungsfaktoren“ an seine Umfragewerte angelegt. Oft täuschen diese Prognosen. 

Zahlen, Zahlen 

Am 22. April 2007, in der ersten Runde der Präsidentschaftswahl, erhielt der Chef des Front National (FN) 10,44 Prozent der Stimmen (Ergebnisse für Frankreich inklusive der Überseegebiete, ohne letztere sind es 10,5 Prozent). Dies ist sein magerstes Ergebnis überhaupt bei einer Präsidentschaftswahl, sieht man von seiner Kandidatur im Jahr 1974 (0,74 Prozent) ab, als die extreme Rechte noch eine Splitterpartei bildete. 1981 hatte der rechtsextreme Politiker nicht kandidieren können, und bei seinen drei Kandidaturen von 1988, 1995 und 2002 erhielt er zwischen 14,4 und 17 Prozent.

Man muss aber auch die absoluten Zahlen heranziehen, denn da die Wahlbeteiligung in diesem Jahr stark angestiegen ist (eine Konsequenz insbesondere der Polarisierung „pro oder kontra Sarkozy“ in einem Grobteil der Wählerschaft), sinkt der prozentuale Anteil automatisch bei gleichbleibender Wählerzahl. In absoluten Zahlen ausgedrückt, hat Jean-Marie Le Pen am 22. April dieses Jahres 3,8 Millionen Wähler angezogen. Das sind gut eine Million weniger als beim ersten Durchgang, und anderthalb Millionen Stimmen weniger als im zweiten Durchgang der Wahl von 2002. Damals hatte Jean-Marie Le Pen 4,77 Millionen Wähler in der ersten Runde (zuzüglich 660.000 für seinen rechtsextremen Konkurrenten Bruno Mégret) und 5,45 Millionen im zweiten Wahlgang. Dies entsprach damals einem Stimmenanteil von jeweils rund 17 Prozent.

Der rechtskatholische Politiker und nationalkonservative Graf Philippe de Villiers, Chef der Kleinpartei Mouvement pour la France (MPF, „Bewegung für Frankreich“), erhielt seinerseits in diesem Jahr 2,2 Prozent der Stimmen und gut 800.000 Stimmen. Seine Stimmen wären wohl, hätte de Villiers nicht antreten können, gut zur Hälfte an Le Pen und zu rund einem Drittel an Nicolas Sarkozy gegangen. Er war vor fünf Jahren nicht angetreten. Aber 1995 hatte Philippe de Villiers bereits einmal zur französischen Präsidentschaftswahl kandidiert und damals einen Anteil von 4,74 Prozent sowie 1,4 Millionen Stimmen erzielt. Sein diesjähriges Ergebnis ist ein klarer Misserfolg. Ihm war es im Vorfeld der Wahl nicht gelungen, einen eigenständigen Platz zwischen Jean-Marie Le Pen auf der einen Seite, und den Konservativen unter Nicolas Sarkozy auf der anderen Seite zu behaupten. 

Der grobe Wahlsieger in der diesjährigen ersten Runde ist bekanntlich der frühere Innenminister Nicolas Sarkozy. Er erhielt, mit 11 Millionen Wählerinnen und Wählern, genau 31 Prozent der Stimmen.  

Regionale Unterschiede... 

Besonders deutlich ist der Rückgang des FN-Kandidaten in jenen Regionen, wo die Wählerschaft der Partei historisch von der traditionellen Rechten gekommen ist. Dies gilt für das Elsass, wo der FN seit den 1980er Jahren eine traditionell christdemokratisch geprägte Wählerschaft – im Zuge ihrer Entkonfessionalisierung - aufgesogen hatte, und für die Region PACA (Provence-Alpes-Côtes d’Azur). Dort hatte die rechtsextreme Partei sich vor allem auf ehemalige Algerienfranzosen, die nach der Entkolonialisierung in Mittelmeernähe angesiedelt worden und traditionelle Rechtswähler sind, stützen können. In diesen Regionen hat die konservative Rechte mit ihrem Kandidaten Nicolas Sarkozy beträchtliche Zugewinne auf Kosten Le Pens erzielen können. Gleichwohl zählen dieselben Regionen weiterhin zu jenen, wo der FN-Kandidat, relativ betrachtet,  am stärksten abgeschnitten hat: Im Elsass und in PACA erhält er je noch 13,6 bzw. 13,8 Prozent.  Geringer sind seine Verluste (gemessen am früheren Stimmenanteil) in früheren Arbeiterregionen - wie der Picardie, die erst in den letzten Jahren zur Hochburg des FN geworden ist, wo Le Pen sich aber noch immer bei 15,4 Prozent hält und seinen gröbten Stimmenanteil in einer französischen Region erzielt. Hier sind die Überschneidungen zwischen dem traditionellen rechten, konservativen Publikum und dem FN relativ gering, und Le Pen hat nicht so hohe Verluste zugunsten des Kandidaten der bürgerlichen Rechten zu beklagen.  

...und soziale Verteilung der FN-Stimmen 

Was die Verteilung seines landesweiten Ergebnisses auf soziale Gruppen betrifft, so sind die Kleinunternehmer mit rund 13 Prozent und die Arbeiter in ähnlicher Höhe leicht überrepräsentiert. Was die Arbeitslosen betrifft, soi kommt es darauf an, auf welche Auswertung der Wahl man blickt, denn mal sollen sie zu 9 Prozent und dann wieder zu 15 Prozent für Le Pen gestimmt haben. Am stärksten fällt der Stimmenanteil für Le Pen, laut Zahlen der Wirtschaftszeitung ‚La Tribune’ vom 23. April, unstrittig mit 24 Prozent unter den Zeitarbeitern aus. Anscheinend sind viele von ihnen darum bestrebt, ihre täglich erlebte soziale und wirtschaftliche Prekarität durch ein ausgeprägtes, ideologisiertes „Sicherheitsbedürfnis“ zu kompensieren. 

Sarkozy attraktiv für viele FN-Wähler       

  Offenkundig ist das Kalkül des Kandidaten, der für den konservativen Bürgerblock antrat, aufgegangen: Nicolas Sarkozy rückte demonstrativ weit nach rechts und appellierte so oft an die „nationale Identität“, dass er einen Teil der rechtsextremen Wähler anziehen konnte.  

Laut Zahlen, die am 24. April 07 in der Tageszeitung ‚Libération’ veröffentlicht wurde, haben 23 Prozent der Wähler Jean-Marie Le Pens aus dem Jahr 2002 sich in diesem Jahr schon im ersten Wahlgang für den konervativen Kandidaten entschieden. Hingegen spricht die liberale Pariser Abendzeitung ‚Le Monde’ gar von 28 Prozent der Wähler Le Pens von vor fünf Jahren, die direkt zu Nicolas Sarkolas übergelaufen seien. Die auf Satire und Enthüllung spezialisierte Pariser Wochenzeitung ‚Le Canard enchaîné’ (25. April) stellt dies in einer Karikatur dar: „Immer dieses Unsicherheitsproblem! (Le Pen beschwert sich beim Polizeikommissar, der für die Aufnahme von Strafanzeigen zuständig ist und die Züge von Ex-Innenminister Sarkozy trägt:) ‚Man hat mir meine Wähler gestohlen!’“ 

Die linksliberale ‚Libération’ ihrerseits hatte am 23. April in einer Karikatur einen Kopf Nicolas Sarkozys auf dem Rumpf Jean-Marie Le Pens, neben dessen abgefallenem Haupt, dargestellt. Für Polemiken mit Linken und Liberalen im Vorfeld der Wahl hatte insbesondere Sarkozys –- am 8. März 07 geäußerter, und oftmals wiederholter -– Vorschlag zur Einrichtung eines Ministeriums für „Einwanderung und nationale Identität“ gesorgt. In einem Interview mit Libération vom 12. April hatte der Ex-Innenminister explizit von seinem Willen, „die Wähler des FN zu gewinnen“, gesprochen.

AUSZUG AUS NICOLAS SARKOZYS INTERVIEW IN ‚Libération’ VOM 12. APRIL 07

Frage: Diese Forderung nach dem Ministerium (Anm. „für Einwanderung und nationale Identität“, laut Sarkozys Formulierung) erhob bislang allein der Front National.

Antwort Nicolas Sarkozy: Wenn Le Pen etwas anfasst, ist es deshalb noch nicht verboten, es zu berühren. (...) Es gibt ein Problem mit der Zuwanderung, die Integration funktioniert nicht länger.

Frage: Aber die meisten Einwanderer integrieren sich...

Antwort: Das Kopftuch, die ‚groben Brüder’, die Zwangsehen, (...) die Neuankömmlinge, die unter sich bleiben, die schwierigen Viertel mit Ghettostrukturen, habe ich das alles erfunden?

Frage: Sie wollen die Wähler Le Pens?

Antwort: Wenn ich sage, ich will die Stimmen der Arbeiter, greift niemand mich an. Aber wenn ich sage: Achtung, man muss die Wähler des FN gewinnen, dann gibt es ein Erdbeben! In wessen Namen soll es schlecht sein, die Wähler des FN gewinnen zu wollen?

Jean-Marie Le Pen selbst wird am 1. Mai anlässlich des traditionellen rechtsextremen Aufmarschs vor der Pariser Oper verkünden, zu welchem Stimmverhalten im zweiten Durchgang er aufruft. In der Vergangenheit hat er sich dabei unterschiedlich positioniert. So rief er 1988 aus: „Keine Stimme für (François) Mitterrand!“ Das ließ eine Stimmabgabe für dessen konservativen Gegenkandidaten Jacques Chirac ausdrücklich offen. Aber in der Folgezeit zürnte Le Pen über den bürgerlichen Politiker, da dieser keinen persönlichen Kontakt mit ihm akzeptierte, sondern ihn nach Le Pens Worten „als Aussätzigen behandelte“. Bei der Wahl von 1995 dagegen wertete Le Pen im Vergleich mit Chiracs sozialdemokratischem Widersacher: „Chirac ist schlimmer als Jospin!“ Derzeit wird mit Spannung erwartet, ob Le Pen am 1. Mai, direkt oder indirekt, zur Stimmabgabe für Nicolas Sarkozy in der Stichwahl fünf Tage später aufrufen wird oder nicht.

Ankündigung

Unsere Berichterstattung darüber, sowie unsere Wahlauswertung werden wir in der kommenden Woche fortsetzen. Zumal nun auch in der rechtsextremen Presse eine spannende Diskussion über die Ursachen der Niederlage begonnen hat. Die rechtsextreme Wochenzeitung ‚Minute’, die eine Scharnierfunktion zwischen dem rechten Flügel der Konservativen und dem FN einnimmt, publizierte ihre Ausgabe vom 25. April unter dem Titel: „Die Gründe eines Flops.“ Im Blattinneren analysiert sie ausführlich die Ursachen für den Rückgang, und berichtet ferner über einen angespannten Wahlabend beim FN, in dessen Verlauf die Fäuste flogen. Spannende Lektüre in der nächsten Woche...

Editorische Anmerkung

Der Artikel wurde uns vom Autor am 3.5.07 zur Verfügung gestellt.