Wollte man
den Ausgang der ersten Runde der französischen
Präsidentschaftswahl auf einen Schlüsselbegriff bringen, so
würde er lauten: Le vote utile. Der Begriff (wörtlich
übersetzt "Nützlich stimmen") beinhaltet im französischen
Kontext der letzten fünf Jahre vor allem die Vorstellung, dass
man besser nicht so sehr seinen Überzeugungen entsprechend
abstimmen soll, da man sonst mit unvorgesehenen Übeln gestraft
werden könne. Eine Vernunftehe, im übertragenen Sinne auf einen
Kandidaten bezogen, könne deshalb einer politischen Liebesheirat
vorzuziehen sein. So hatte bei der letzten Präsidentenwahl vor
fünf Jahren die Enthaltung der klassischen Wählerschaft der
Linksparteien, die von der Regierungspolitik des
sozialdemokratischen Premiers Lionel Jospin zum Teil bitter
enttäuscht war, überraschend den Rechtsextremen Jean-Marie Le
Pen zusammen mit Amtsinhaber Jacques Chirac in die Stichwahl
befördert. Es war, wie sich jetzt zeigt, ein historischer
"Wahlunfall", der nur deshalb zustande kam, weil niemand mit ihm
gerechnet hatte. Entgegen vielen Unkereien und Vorhersagen blieb
"der neue Ausrutscher", die - in Wirklichkeit von vielen
erwartete - "völlig unerwartete Überraschung" in diesem Jahr
aus.
Zugleich
hat eine starke Konzentration auf die beiden großen politischen
Blöcke, also auf einen sozialdemokratischen und einen
konservativen Block zuzüglich eines erstarkten Zentrums rund um
François Bayrou, stattgefunden. Links und Rechts davon stehende
Kräfte sehen ihre Stimmenanteile zurückgehen. Dieser politische
Konzentrationsprozess geht mit einem starken Anstieg der
Wahlbeteiligung einher. Letztere liegt bei 84,6 Prozent (alle
Ergebnisse für das europäische Frankreich ohne Überseegebiete)
und damit weit höher als bei allen anderen
Präsidentschaftswahlen der letzten 30 Jahre.
Spürbar
geklettert ist die Teilnahme vor allem in jenen Schichten, die
in den letzten Jahrzehnten dem politischen Geschehen, nicht
allein in Form von Wahlen, eher fern standen. Also bei den
sozial marginalisierten Bewohnern von Trabantenstädten, den
abhängig Beschäftigten oder den Armen. Hier hatte man sich seit
Jahren nichts von der Politik erhofft, sich nicht angesprochen
gefühlt, sich selbst keinerlei Einfluss zugesprochen. Die große
Wende kam nach den Unruhen in den französischen Trabantenstädten
vom November 2005. Seitdem hat hier ein zuvor ungeahnter
politischer Mobilisierungsschub stattgefunden, da vor allem die
jüngeren Generationen nun mehrheitlich nicht mehr der Auffassung
sind, dass all das Politikspektakel sie überhaupt nichts angehe.
Die Figur des konservativen Präsidentschaftskandidaten Nicolas
Sarkozy, der bis zum 26. März dieses Jahres als Innenministers
im Amt blieb, personifiziert in ihren Augen in sehr hohem Maße
das abweisende, reiche und repressive Frankreich, das man
abzustrafen wünscht.
Die
Mobilisierung zu den Urnen trägt also in diesem Jahr Züge einer
starken Polarisierung, die sich aber in diesem Jahr nicht an
kleineren Parteien (links von der Sozialdemokratie oder rechts
von den Konservativen) festmacht, sondern sich in einem Votum
für die größeren politischen Kräfte selbst ausdrückt. Ein
Gutteil der zusätzlich mobilisierten Wähler ging vor allem
abstimmen, um Nicolas Sarkozy (und, nebenbei, Jean-Marie Le Pen)
zu verhindern. So wie umgekehrt ein Teil der besserverdienenden
und/oder innenstädtischen Wähler dezidiert für einen der rechts
stehenden Kandidaten votierte, "um uns den Abschaum vom Hals zu
halten", und sich dabei in Sarkozys Ausspruch von 2005 über
La racaille (den Abschaum, das Gesocks) wiedererkannte. Das
Votum ist somit also auch Spiegelbild einer sozial auseinander
driftenden Gesellschaft - wobei noch selten ein Vertreter der
bürgerlichen Rechten so "komplexfrei" (décomplexé), nach eigener
Begrifflichkeit, auftrat wie Nicolas Sarkozy.
Frankreichweit haben sich 1,8 Millionen erwachsene Bürgerinnen
und Bürger vor dem Anmeldeschluss, der am 31. Dezember
vergangenen Jahres lag, zusätzlich auf den Wählerlisten
registrieren lassen. Das entsprach einem Zuwachs in den
Wählerverzeichnissen um 4 Prozent. Aber im Département
Seine-Saint-Denis oder "93", dem (am Pro-Kopf-Einkommen
gemessen) ärmsten Bezirk der Hauptstadtregion, der die
nördlichen und östlichen Pariser Trabantenstädte umfasst,
beträgt er doppelt so viel, über 8 Prozent.
Längerfristige Perspektiven
Die
französische politische Landschaft nimmt eine Entwicklung, die
in groben Zügen mit jener in Italien während der letzten Jahre
vergleichbar ist. Dabei schälen sich,
längerfristig, zwei grobe
politische Blöcke heraus. Auf der einen Seite steht ein
„Mitte-Links-Pol“, innerhalb dessen klassische Sozial- und
Christdemokraten sich derart annähern, dass sie kaum noch
voneinander unterscheidbar werden. Den anderen Pol könnte man
als erneuerte, „harte Rechte“ bezeichnen.
Die erstere Variante verbindet sich derzeit mit den Namen
Ségolène Royal und François Bayrou, die zweite mit dem des
mehrjährigen Innenministers Nicolas Sarkozy. In den zwei Wochen
zwischen den beiden Durchgängen der französischen
Präsidentschaftswahl haben sich die beiden erstgenannten
Protagonisten einander spürbar angenähert. Am vergangenen
Samstag debattierten Royal und Bayrou, der Wahlverlierer in der
ersten Runde, im Fernsehsender BFM TV miteinander und
unterstrichen Gemeinsamkeiten, aber auch ein paar inhaltliche
Unterschiede – darauf kam es nicht an, vor allem das Symbol
zählt. Eine offene Wahlempfehlung für die Kandidatin Royal
sprach der christdemokratische Politiker Bayrou zwar nicht aus,
denn das würde seine Partei, die UDF, zur Explosion bringen:
Ihre Mitglieder stehen historisch klar eher rechts als links,
aber ein bedeutender Teil von Bayrous Wählern bei der ersten
Runde der Präsidentschaftswahl kam von der moderaten Linken. Es
handelte sich überwiegend um sozialdemokratische Wähler, die
taktisch wählten, da sie Royal nicht zutrauten, in der Stichwahl
gegen Sarkozy zu siegen - dem Mitte-Rechts-Politiker dagegen
schon eher. Diese Wähler umwirbt Royal nun vorrangig, wobei sie
sichzu Wochenanfang in ‚Le Monde’ aber auch bereit erklärte,
Bayrou im Falle eines Wahlsiegs eventuell zu ihrem
Premierminister zu machen. Eine ähnliche Annäherung zwischen
Royals Parti Socialiste (PS) und der UDF hatten im Wahlkampf
bereits führende Protagonisten des wirtschaftsliberalen
PS-Flügels gefordert, darunter Ex-Premier Michel Rocard,
Ex-Wirtschaftsminister Dominique Strauss-Kahn und der ehrgeizige
Streber Bernard Kouchner. Akzidentell und nur der Konjunktur der
Wahlprognosen geschuldet ist das auf keinen Fall. Rocard hatte
von 1988 bis 91 unter Präsident François Mitterrand bereits mit
UDF-Ministern regiert, in einem „Kabinett der Öffnung“. Nur
hatte das damals noch nicht dieselbe Bedeutung, da der bis dahin
bestehende Sozialstaat noch nicht annähernd in vergleichbarem
Ausmab
durch neoliberale „Reformen“ aufgebrochen worden war. Die zweite
Amtszeit Mitterrands, ab 1988, markierte in dieser Hinsicht
sogar eher eine „Reformpause“ nach der rechten
Sturm-und-Drang-Phase des Kabinetts von Premierminister Chirac
in den zwei Jahren zuvor. Heute hingegen besteht ein völlig
anderer Kontext.
Auf dem rechten Pol wiederum ist es gelungen, einige ehemalige
Neofaschisten ins bürgerliche politische Spiel zu integrieren.
Im französischen Falle geht es dabei eher um die Wähler denn um
die Kader, im Unterschied zu Italien: Rund 30 Prozent der
bisherigen Wähler Jean-Marie Le Pens hat der stramme Kandidat
der Konservativen, Nicolas Sarkozy, bereits im ersten Wahlgang
direkt für sich gewonnen. In vielen Regionen, wie dem Elsass und
der Côte d’Azur, lässt sich der Aufschwung für die Konservativen
unmittelbar mit dem Rückgang der Nationalen Front (FN) zahlenmäbig
verknüpfen. Auch rechts versteht man eben mitunter, für das
„kleinere Übel“ zu stimmen. Der harte Kern der extremen Rechten
möchte dagegen dem Sog hin zu Sarkozy widerstehen: Le Pen selbst
rief am 1. Mai zur Wahlenthaltung in der Stichwahl auf. Eine
Hintertür für spätere Annäherungen hielt er sich allerdings
offen, da er sein Angebot von Anfang April erneuerte, im Falle
einer tieferen Krise in ein „Kabinett der nationalen Rettung“
unter konservativer Führung einzutreten. Und zwei Drittel seiner
Wähler aus der ersten Runde wollen trotz allem im zweiten
Durchgang für Sarkozy votieren.
Die Unterscheidung zwischen den beiden Blöcken markiert dabei
vor allem die Geschwindigkeit beim „Umbau des Sozialstaats“,
also bei der Abtragung bisheriger gesellschaftlicher
Errungenschaften sowie ihrer Anpassung an die Bedürfnisse eines
modernisierten und von vielen früheren Fesseln befreiten
Kapitalismus. „Links“ – aber dieser Begriff hat in dem
Zusammenhang kaum noch einen Sinn – versucht man dabei, noch
einiges von den Trümmern des historischen Sozialstaats zu
bewahren und dem nationalen Standortstaat seine
„Wettbewerbsfähigkeit“ im internationalen Wirtschaftskrieg vor
allem durch erhöhte Bildungsausgaben zu garantieren. Letztere
bildeten etwa eines der herausragenden und ernsthaftetesten
Wahlkampfversprechen der Kandidatin Ségolène Royal. Also, kurz
und knapp, es geht darum, ins „Humankapital“ zu investieren,
soweit die Menschen sich als solches verhalten wollen – wenn
nicht, soll aber mit der „sozialen Hängematte“ auch rasch
Schluss sein, wie Royal mit ihrem Lob der „valeur travail“
(Arbeit als Werthaltung) ebenfalls verdeutlichte. Rechts, und
diesen Begriff kann man getrost ohne Anführungszeichen
verwenden, rückt man den bestehenden sozialen Garantien
schneller und brutaler zu Leibe. Zum Ausgleich gibt es Brot und
Spiele. Also konkret: das Versprechen auf Erfüllung von
Bestrafungswünschen, und ab und zu spektakuläre Polizeieinsätze,
die den zum Mitmachen Bereiten stets aufs Neue vorführen sollen,
dass gegen die Anderen – „das Gesindel“, die Bewohner von
Sozialghettos und Trabantenstädten – hart vorgegangen wird,
damit sie selbst sich „dazugehörig“ fühlen dürfen. Ach ja, das
Brot: „Mehr arbeiten, um mehr zu verdienen“ verspricht Sarkozy
denen, die bereit sind, die Überstunden zu vervielfachen,
„früher aufzustehen“ oder am Wochenende zu schuften. Das
bedeutet im Klartext: Lohnerhöhungen kommen nicht in die Tüte,
aber wer das Kräfteverhältnis zwischen Kapital und Arbeit als
gegeben hinnimmt und das Rückgrat beugt, für den oder die soll –
dank Mehrarbeit - am Ende auch zusätzlich etwas abfallen. Dumm
nur, dass das Kapital mit diesem Programm zugleich weniger
Arbeitskräfte benötigen wird.
Ausblick und Bewertung
Zwischen den beiden Blöcken gibt es, ja, tatsächlich ein „gröberes
Übel“. Man darf auf gar keinen Fall darauf hoffen, dass sich im
Falle eines Wahlsiegs Ségolène Royals am 6. Mai irgend etwas
verbessern würde. Aber man kann getrost sicher sein, dass sich
mit Nicolas Sarkozy als Präsident vieles in einem rasanteren
Tempo und auf brutalere Art und Weise verschlechtern würde.
Insofern ist zu hoffen, dass die Wähler am 6. Mai eine
Richtungsentscheidung treffen zwischen den Trümmern des
Sozialstaats und einem Parfoceritt in einen autoritaristischen
Wirtschaftsliberalismus. Viele ihrer Wähler auch schon im ersten
Wahlgang kneifen sich über Ségolène Royal die Nase zu, betonen
ihre Inkompetenz, Arroganz und ihre Appelle an reaktionäre
„Werte“. Zu Recht. Aber das ist gut und nicht schlecht: Je
illusions- und hoffnungsloser sie – so ist zu hoffen – am 6. Mai
für Royal votieren, desto weniger lassen sich diese Stimmen als
Unterstützung für die nächste Regierung werten. Diese wird,
möglicherweise in verlangsamtem Tempo als in den letzten fünf
Jahren, ebenfalls an der Verschärfung der kapitalistischen
Realitäten arbeiten. Je weniger reale Zustimmung es dafür gibt
und je eher die Stimmen für Royal nur ein vote anti-Sarkozy
darstellen, desto bessere Aussichten bietet das für künftige
gesellschaftliche Kämpfe.
Das böte auch neue Perspektiven für die Linke, diesseits der
neuen Achse Royal/Bayrou. Diese ist im ersten Wahlgang unter die
Räder gekommen, da das stark polarisierende Auftreten Sarkozys
sie – im Namen des „kleineren Übels“, das es anders als 2002
dieses Mal unbedingt in die Stichwahl schaffen sollte - in die
Arme Royals (und Bayrous) getrieben hatte. Statt 19 Prozent vor
fünf Jahren hatten die Bewerber links von der PS-Kandidatin,
Grüne eingeschlossen, in diesem Jahr noch 10 Prozent
verzeichnet. Aber falls es die Wahlen gewinnt, wird sich das
„kleinere Übel“ dann auch konkret an der Regierung beweisen
müssen.
Editorische Anmerkung
Der Artikel wurde uns vom Autor am 3.5.07 zur
Verfügung gestellt.