Allgemeine Geschichte des Sozialismus und der sozialen Kämpfe
 
 
von
Max Beer
05/07

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V. DIE KONSERVATIVE SOZIALREFORM   Zur Kapitelübersicht

1. Romantischer Charakter.

Gleichzeitig mit dem demokratischen Sozialismus und dem Marxschen Kommunismus machte sich eine sozial-reformerische Geistesbewegung bemerkbar, die zwar eine kritische Haltung gegenüber dem Liberalismus und der individualistischen, auf dem Selbstinteresse des Einzelmenschen begründeten Wirtschaftsweise einnahm, deren Ideal aber nicht der Kommunismus, sondern eine modernisierte mittelalterliche Ordnung oder auch ein soziales Königtum war. Die Träger der auf Autorität und Überlieferung beruhenden Institutionen: Theologen, Adlige, Innungsmeister, romantische Denker und Dichter, konnten sich nicht mit Ideen und Forderungen und Wirtschaftsformen befreunden, die so ganz und gar den Einzelpersonen — ohne Rücksicht auf Kirche, Staat und Allgemeinheit — die Freiheit des Urteilens, des Handelns und Wirtschaftens gewährten oder voraussetzten und an Stelle der Unterordnung, der Gemeinschaft, der sozialen Gebundenheit, den Egoismus, das Selbstinteresse, das freie, schrankenlose Walten des Einzelmenschen setzten. Die neueste Zeit erschien ihnen wie auf Flugsand gebaut, oder als Chaos, als Anarchie, als ein durch und durch unmoralisches, gottloses Austoben von geistigen und wirtschaftlichen Kräften, die zu scharfen sozialen Gegensätzen, zu Extremen von Reichtum und Armut, zum allgemeinen Umsturz führen müßten. In dieser Stimmung erschien ihnen das Mittelalter mit seiner festen Ordnung in Kirche, Wirtschaft und sozialem Leben, mit seinem Gottesglauben, seinen Lehen, seinen Klöstern, seinen autonomen Verbänden, seinen Zünften und Gilden, wie ein wohlgefügter Bau, wie ein feingegliederter Organismus, in dem jeder Christenmensch seinen Platz hatte, wo jeder fest verwurzelt war und als Glied seines Verbandes aus dem allgemeinen Boden seine Nahrung zog. Oder sie blickten auf den Staat, auf die Monarchie als den ruhenden Pol, als den festen Rückhalt in der Erscheinungen Flucht. Gespannt horchten diese Denker und Dichter auf das Klagendes Proletariats, auf die scharf kritischen Töne der Sozialisten und Kommunisten, auf das rebellische, revolutionäre Sausen der Unterwelt. Sie deuteten diese Erscheinungen als Symptome der Zersetzung, als unvermeidliche Folgen des liberalen, auflösenden Wirkens in Wirtschaft und Staat, und als einen Appell an alle Christen, ethischen Ökonomen und monarchistischen Politiker, der liberal-kapitalistischen Welt entgegenzutreten, dem Proletariat den Weg aus dem Elend zu zeigen und die Gesellschaft wieder auf christliche, religiös-sittliche, gemeinschaftliche und autoritäre Grundlage zu stellen.

Diese sozialkonservative Richtung hatte eine Anzahl bedeutender Schriftsteller, Staatsrechtslehrerund Dichter, aber nur wenige bedeutende Ökonomen. Sie brachte kein einheitliches Gedankensystem hervor; manche wandten sich gegen Adam Smith und seine freiheitliche Wirtschaftslehre; andere gegen den absoluten, zentralisierenden Staat, der alle autonomen Verbände unterdrückt; wieder andere idealisierten das Mittelalter, das germanische Recht, die katholische Kirche, faßten einen unüberwindlichen Widerwillen gegen Liberale und Juden (Antisemitismus). Nur zwei Männer machten einen Versuch, eine sozialkonservative Ökonomik zu schaffen: Karl Winkelblech (Pseudonym: Mario) und Karl Rodbertus. Ihr Einfluß auf die praktische Politik war unerheblich, aber sie waren tüchtige Köpfe, edle Charaktere, und einer von ihnen — Mario — hat 1848 eine propagandistische Tätigkeit in Handwerker- und Gesellen-Kongressen entfaltet, während Rodbertus nicht ohne Einfluß auf Ferdinand Lassalle und die christlich-soziale Bewegung war. Das Wort vom „tory-chartism", das Engels auf Lassalles Theorie und Praxis prägte, drückt dieses Zusammenwirken konservativer und revolutionärer Tendenzen im Wesen Lassalles aus.

2. Mario — Winkelblech

Während Marx westeuropäisch war und als Sozialforscher evolutionistisch dachte, indem er die vergangenen Phasen der Menschheitsgeschichte als zu ihrer Zeit berechtigt auffaßte, den Kapitalismus und das freie Wirtschaften im schrankenlosen Wettbewerb der Einzelpersonen gar nicht als Chaos, sondern als Fortschritt gegenüber der Vergangenheit, als mächtigen Umwälzer der Gegenwart und als werdende Zukunft betrachtete, — während Marx seinen Blick nach vorwärts, auf das Werden der sozialistischen Wirtschaftsstufe richtete, war Mario bestrebt, das germanischmittelalterliche Recht oder die auf dem Prinzip der gegliederten Gemeinschaft und der beruflichen Gebundenheit beruhende Gesellschaft — unter Ausmerzung aller ihrer Auswüchse, Vorrechte und eingeschlichenen Übel — den modernen Zuständen anzupassen. An Stelle der Gewerbefreiheit — eine feste Gewerbeordnung, an Stelle der freien Konkurrenz — die Gilde, die Innung, an Stelle der freiwirtschaftenden Einzelpersonen — die Zusammenfassung des gesamten Wirtschaftslebens, Gewerke und Industrien in wirtschaftlichen Gemeinschaften. Weder Liberalismus noch Kommunismus, weder Bourgeoisie, die nach der Staatsmacht und dem Volksreichtum giere und greife, noch das Proletariat, das in seinem revolutionären Grimm alles gleichmachen wolle und alles in Trümmer lege; weder der Staat, der alles zentralisiere, noch die Bureaukratie, die alles plattdrücke und die Initiative abtöte, sondern freischaffende, autonome Wirtschafts- und Lebensgemeinschaften. Sein „System" ähnelt in vielem den sozialökonomischen Lehren, die heute von katholischen Ökonomen vertreten werden und den Anschluß an die Ideologie der extremen Reaktionäre bilden. Marios Ideal war ein modernisiertes Mittelalter: die Organisierung des gesamten Wirtschaftslebens in Gilden und Innungen, wo Meister und Gesellen auf dem Fuß sozialer Gleichheit stehen, wo Preis und Lohn von Meister- und Gesellenausschüssen gemeinschaftlich bestimmt werden, wo Gewerbekammern den Einkauf und die Verteilung von Rohstoffen und Bestellungen regulieren, und wo ein soziales Parlament, bestehend aus Vorstehern der Gilden und Innungen, die ganze wirtschaftliche Gesetzgebung beraten und dem politischen Parlament zur Genehmigung vorlegen. Ebenso sorgt ein Arbeitsministerium für die Beschäftigung aller etwa vorhandenen Arbeitslosen, denn das Recht auf Arbeit muß jedem Arbeitswilligen gesichert sein. Wenn auch das Privateigentum an Produktionsmitteln weiter besteht, so sollen sie doch nicht im Sinne des römischen Rechts als absolut, als bedingungslos der Willkür des Eigentümers überlassen werden, sondern im Sinne des christlich-germanischen Rechts an Dienstpflichten für die Gemeinschaft gebunden sein. Zum Unterschiede von der mittelalterlichen Ordnung soll nunmehr demokratische Gleichheit herrschen und alle Vorrecht« sollen abgeschafft werden. Die ganze Produktion eine; Landes soll sich nach dem Bedarf des Landes richten Mario nannte sein System: Föderativer Sozialismus: die einzelnen Produktionskörper sollen sich wie gesagt, selbst verwalten und in einem föderativer Verhältnis zueinander stehen und nicht zentralistisch vom Staate geleitet sein.

Mario (Karl Winkelblech) wurde 1810 in Ensheim (Baden) geboren, studierte Chemie in Marburg und Gießen (unter Liebig), war 1836—1839 Dozent der Chemie in Marburg, wurde 1839 als Professor der technologischen Chemie an die höhere Gewerbeschule nach Kassel versetzt. 1838—1839 war er einige Monate in Paris; 1843 bereiste er studienhalber das nördliche Europa, besuchte auch die damals berühmte Blaufarbenfabrik in Modum (Norwegen), bewunderte die Maschinerie sowie die landschaftlichen Reize der Umgebung der Fabrik, bis ein dort beschäftigt gewesener deutscher Arbeiter ihm das Elend des Fabrikproletariats schilderte. „Ich hatte von jeher", erzählt Mario, „wie so viele Naturforscher, meine Blicke in die Werkstätten der Industrie nur auf Öfen und Maschinen, nicht auf Menschen, nur auf Produkte des menschlichen Fleißes, nicht auf die Produzenten gerichtet, und war deshalb völlig fremd im großen Reiche des Elends, welches die Grundlage unserer geschminkten Zivilisation bildet. Die überzeugenden Worte des Arbeiters ließen mich die Nichtigkeit meiner wissenschaftlichen Bestrebungen in ihrem ganzen Umfange fühlen, und in wenigen Augenblik-ken war der Entschluß gefaßt, die Leiden unseres Geschlechts, deren Ursachen zu ergründen und zu heilen(1)" Er blieb seinem Entschluß treu; seine Liebe galt insbesondere dem deutschen Handwerksgesellen.

Marios Stärke als Volkswirtschaftler liegt in seiner Zergliederung der verschiedenen ökonomischen Systeme von der antiken Zeit bis 1850. Den modernen Kommunismus von Marx kannte er nicht, und würde ihn, wenn er ihn gekannt hätte, verworfen haben, denn Marios Prinzip war die Arbeitsgemeinschaft und nicht politischer und wirtschaftlicher Klassenkampf. Nach seiner Ansicht sollten die Arbeiter sich auf soziale Probleme beschränken. Marios Gesellschaftsidee „verwirft alle heidnischen Prinzipien und gründet sich auf die christlichen. Sie besitzt alle sittlichen Institute des Mittelalters in höherer Vollendung; sie hat seine Reize ohne seine Schattenseiten, seine Romantik ohne seine Barbarei. Sie bildet mit ihren Zünften, Gemeinden, Gesellschaftsassoziationen und Familien eine große, sich in einer Reihe von kleineren abstufende Genossenschaft, in welcher das Interesse aller ihrer Glieder mit dem der Gesamtheit übereinstimmt"(2). Wir werden Mario später noch begegnen als geistigem Führer der Handwerker und Gesellen 1848/49.

3. Karl Johann Rodbertus.

Geistig verwandt ist Rodbertus sowohl mit Mario wie mit Marx, aber auch die Unterschiede zwischen ihnen sind sehr erheblich. Mit Mario teilt Rodbertus die Opposition gegen das römische Recht, gegen den Kapitalismus, gegen die Zersplitterung der Gesellschaft in wirtschaftende Einzelmenschen; beide hielten die Gemeinschaft für die Lebenskraft der menschlichen Gesellschaft; beide trennten die soziale Frage von der Politik. Mit Marx hatte Rodbertus gemeinsam die Arbeitswerttheorie sowie die Auffassung von der Konzentration des Kapitals. Von Mario—Winkelblech unterschied sich Rodbertus durch seine bedingungslose Verwerfung aller „Aufgalvanisierung der Innungen", sowie durch seine Verehrung des Staates und des Zentralismus: durch seine Annahme, daß der Staat schon heute durch seine Macht imstande sei, die Verteilung des Produkts zugunsten der Arbeiter zu regeln.

Rodbertus war, abgesehen von Marx, der bedeutendste nationalökonomische Theoretiker Deutschlands. Umfassende Kenntnis der englischen und französischen Nationalökonomie und Sozialkritik, scharfsinnige Zergliederung gesellschaftlicher Zustände der Vergangenheit und Gegenwart, konsequente Denkarbeit zeichnen seine Erstlingswerke aus. Seine 1839 geschriebene Abhandlung„Die Forderungender arbeitenden Klassen" und sein 1842 veröffentlichtes Buch „Zur Erkenntnis unserer staatswirtschaftlichen Zustände" sind meisterhafte Leistungen. In den ersteren kommen materialistischökonomische Gedanken vor, die lebhaft an Marx erinnern. Er erklärt dort: Wirtschaftsfragen beeinflussen tief das Leben der Gesellschaft. Der Grad der Produktivität bestimmt sogar die Gesellschaftsform. „Auf einer Stufe, auf der man nur die Handmühle kennt, muß Sklaverei existieren." Dieser Hinweis auf den Zusammenhang zwischen Wirtschaft, Technik und Gesellschaftsform findet sich fast wörtlich in Marx' „Elend der Philosophie" (Ausgabe 1892, 8.91, 117), wo gesagt wird: „Die Handmühle ergibt eine Gesellschaft von Feudalherren." Rodbertus' erste größere nationalökonomische Schrift („Zur Erkenntnis", 1842) darf man getrost als den Vorläufer von Marx' erstem Bande des „Kapital" bezeichnen. Daß Rodbertus in seinen späteren Werken keinen Fortschritt über seine ersten Schriften machte, ist der Enge der preußischen Verhältnisse und seinem Widerwillen gegen das Eintreten in die Kampfarena geschuldet. Rodbertus wurde 1805 m Greifswald geboren, wo sein Vater Professor des römischen Rechts war. Nach Absolvierung des Gymnasiums studierte er Rechtswissenschaft in Göttingen und Berlin, trat sodann in den Justizdienst ein, den er 1829 quittierte. Ein Jahr später heiratete er, lebte auf dem Erbgute seiner Eltern und begab sich 1832 nach Heidelberg, um dort Nationalökonomie (unter Rau) und klassisches Altertum zu studieren. 1834 reiste er in Westeuropa, um seine ökonomischen Studien zu vertiefen. In diesen Jahren legte er das Fundament zu seinen späteren nationalökonomischen und sozialkritischen Arbeiten, die jedoch anfangs gar keinen Widerhall beim deutschen Publikum fanden: sie waren für die damaligen deutschen Verhältnisse und Auffassungen viel zu kühn, sie eilten dem Verständnis viel zu sehr voraus. 1847 bis 1848 wurde er in den Vereinigten Landtag und in die Nationalversammlung gewählt, trat — gegenüber Bismarck — für die Anerkennung der deutschen Reichsverfassung ein, wurde Kultus- und Unterrichtsminister, legte jedoch sein Amt nach wenigen Wochen nieder. In den preußischen Kriegsjahren wurde er ein Anhänger Bismarcks, schrieb die vier „Sozialen Briefe an Kirchmann", verkehrte 1862—1864 mit Lassalle, zehn Jahre später mit Hasenclever, dem Führer der Lassalleaner; seit 1872 nahm er gegenüber Bismarck eine kritische Stellung ein, verurteilte seine innere Politik und prophezeite ihm, daß die soziale Frage sein Moskau sein werde (wie Moskau 1812 dem napoleonischen Feldherrngenie ein Ende bereitete). In den letzten Jahren seines Lebens (1874—75) gedachte er sogar als Kandidat der Sozialisten aufzutreten (3), starb jedoch im Dezember 1875.

Nach Rodbertus besteht die irdische Triebkraft  der Gesellschaft nicht im Geist, auch nicht im Willen, sondern im Leben selbst. Was er hiermit sagen will, ist dies: die menschliche Gesellschaft wird nicht von bewußten Kräften getrieben, sondern von irrationalen, oder vom Lebensdrang. Die Seele dieses gesellschaftlichen Lebens ist die Gemeinschaft. Sprache und Wissenschaft gründen sich auf die Gemeinschaft des Geistes; Sitte und Recht auf die Gemeinschaft des Willens; Arbeit und Wirtschaft auf die Gemeinschaft der vorhandenen materiellen Kräfte. Nicht der Einzelmensch, nicht das Sondereigentum, nicht die Freiheit der Person, sondern die menschliche Gemeinschaft an geistigen und materiellen Gütern ist die Seele der Gesellschaft. Die individuelle Freiheit oder der Liberalismus hat nur eine negative Bedeutung: die Freiheit zersetzt und fegt hinweg die unvollkommenen kommunistischen Formen, um anderen, neuen, vollkommeneren kommunistischen Formen Platz zu machen. Die menschliche Gesellschaft schreitet zur Gemeinschaftsökonomie fort, von der Stammesordnung zur Staatenordnung und endlich zur einheitlichen Organisation der menschlichen Gesellschaft — zur Gesellschaft der Zukunft. In unserer Zeit wirkt sich das freie wirtschaftliche Schalten und Walten der Einzelpersonen in Gegensätzen aus: in wachsendem Reichtum einer Minderheit und In der wachsenden Verarmung der arbeitenden Klassen. Denn nicht die Arbeit beherrscht das Wirtschaftsleben, sondern der Besitz. Der Egoismus wurde zur Tugend; der Wettbewerb führt nicht zum Glück der Besten, sondern zur Bereicherung der Spekulanten. Das Kapital vereinigt sich zu Gesellschaften, die einen Staat im Staate bilden; es bemächtigt sich der Staatsgewalt; es verurteilt die Handwerker und Lohnarbeiter zur Verelendung. Dem Übel des Pauperismus gesellt sich das der periodischen Wirtschaftskrisen, die auf die Minderbemittelten verheerend wirken, um so mehr, als auf Grund des ehernen Lohngesetzes die arbeitenden Klassen nur das Minimum von Lebensmitteln, das zu ihrer notdürftigen Erhaltung nötig sei, als Lohn erhalten, während der ganze Gewinn der steigenden Produktivität dem Kapital zufällt. Dies ist der organische Fehler der heutigen Gesellschaft. Dies ist die eigentliche „Soziale Frage": steigende Warenmassen bei gleichbleibender geringer Konsumkraft des inneren Marktes. Der Überschuß der Güter wird exportiert; deshalb der Drang nach Erschließung überseeischer Länder. Diese Erschließung neuer Märkte verschiebt die Lösung der sozialen Frage auf einige Zeit, denn die Stockung wird hierdurch zeitweilig beseitigt. Dieselbe Wirkung hat die Kolonialpolitik: die soziale Frage wird vertagt, da Europa wieder für einige Zeit atmen kann. Aber diese Vertagungen müssen einmal aufhören und dann wird es heißen: Lösung der sozialen Frage oder Auflösung der Gesellschaft.

Was ist die Lösung?

Obwohl Rodbertus — nach seiner Gesamtanschauung — zum Kommunismus als Lösung kommen müßte, hält er dieses Ziel erst in weiter Ferne für erreichbar. Besteht nach ihm die soziale Frage in dem Mißverhältnis zwischen steigender Produktivität der Wirtschaft, dem Stillstand oder der relativen Abnahme der Kaufkraft der arbeitenden Klassen, so muß offenbar die Lösung darin bestehen, die Arbeiter teilnehmen zu lassen an der steigenden Produktivität. Hierfür soll der Staat sorgen, und zwar auf Grund eines Planes, dessen Kern etwa wie folgt dargelegt werden kann:

Die einzelnen Warenartikel werden nach den in ihnen enthaltenen Normalarbeitsstunden gemessen. Die Normalarbeitsstunden bestimmen den Wert der erzeugten Güter, denn die Arbeit ist die Quelle und das Maß des Wertes. Die Verteilung der Produkte geschieht folgendermaßen: 30 Prozent der Werte fallen an die Arbeiter (Lohn), 30 an die Kapitalisten {Profit), 30 an die Grundbesitzer (Grundrente), 10 Prozent an den Staat (Steuer). Ist dieses Verhältnis der Verteilung festgesetzt, so erhält die Arbeit ihren Anteil an der steigenden Produktivität und die ganze Gesellschaft bewegt sich aufwärts; die Gegensätze werden vermieden; die sozialen Klüfte werden verschüttet. Nehmen wir an, im Jahre 1870 habe die Wertsumme der erzeugten Güter einer bestimmten Gegend 100 Millionen betragen, so erhielten die hierbei beschäftigten Arbeiter 30 Millionen. Stieg die Produktivität der Arbeit — bei gleichbleibender Arbeitszeit — nach 30 Jahren um das Doppelte, so erhalten die betreffenden Arbeiter 60 Millionen. An Stelle des Metallgeldes, wie überhaupt der heutigen Währung, tritt die Arbeitszeitpapiernote; es tauscht sich dann Arbeitszeit gegen Arbeitszeit aus. Und der Staat soll darüber wachen, daß dieses Verteilungsverhältnis des Produkts zwischen Arbeit, Kapital und Grundbesitz eingehalten wird.

Rodbertus sah nicht, daß, solange die Produktionsmittel in privaten Händen — also bei den Kapitalisten — sich befinden, auch die Verteilung privatkapitalistisch sich vollziehen muß. Er sah auch nicht, daß nicht der Staat regiert, sondern die stärkste Wirtschaftsmacht — in unserem Falle also das Kapital. Kein Wunder, daß Rodbertus beim Staat kein Gehör fand. Und auch bei den Arbeitern nicht, denn er schärfte ihnen ein: Kapital und Grundbesitz bestehen zu lassen(4); weder Gewerkschaften noch Genossenschaften zu gründen oder Schutzgesetze zu verlangen; er war auch gegen die selbständige Politik des Proletariats. Erst zu Ende seines Lebens scheint er eine sozialistische Politik der Arbeiter gebilligt zu haben.

Marx, Mario und Rodbertus beherrschen theoretisch alle Schriftsteller und Bewegungen, die, je nach ihrer Richtung, sozialpolitisch in Deutschland und Österreich 1860 bis 1920 wirkten, so zum Beispiel: Lassalle, Kautsky, Bebel (sozialdemokratisch); Bischof Ketteier, Moufang, Vogelsang, Schings, Hitze (katholisch-sozial); Hermann Wagener, Rudolf Meyer (sozial-konservativ); die Professoren Wagner, Schönberg, Schmoller (Kathedersozialisten); Pastor Todt, Hofprediger Stöcker (protestantisch-sozial). Mit Ausnahme der Sozialdemokratie und deren Vertreter waren diese Bewegungen und deren Wortführer mehr oder weniger antisemitisch. Der sich jetzt bemerkbar machende Nationalsozialismus ist ideologisch z. T. von ihnen (so von Stöcker, dem Freund Wilhelms II.) beeinflußt, sofern man sowohl bei Stöcker wie bei der N. S. D. A. P. überhaupt von einer auch nur äußerlich geschlossenen Ideologie sprechen kann. Zu bemerken ist jedoch, daß weder Mario noch Rodbertus(5) antisemitisch waren. Wir werden auf die verschiedenen christlich-sozialen Bewegungen des In- und Auslandes (Maurice und Kingsley in England, Perin und De Mun in Belgien und Frankreich) nicht weiter eingehen, da sie sich eher als Hindernis denn als Mittel zum Sozialismus erwiesen.

 

Anmerkungen
1) Mario, System der Weltwirtschaft, Vorrede, Band I, Abteilung 2. Kassel 1857.
2)
Mario, a. a. O., Seite 858—60.
3)
Rodbertus, Briefe und Sozialpol. Aufsätze, S. 352, herausgegeben von Dr. Rud. Meyer, Berlin 1882. Das Buch ist eine Fundgrube für alle, die Rodbertus studieren wollen.
4) Rodbertus sagt: „Die sozialwirtschaftliche Klassenteilung Arbeit, Kapital, Grundbesitz ist mit aller Zähigkeit festzuhalten und lediglich in der Verteilung des Arbeitsprodukts zu remedieren" (Briefe und Sozialnol. Aufsätze, S. 100).
5) Gegen eine antisemitische Bemerkung Rud. Meyers schreibt Rodbertus, er wundere sich über das Mißfallen, das die Juden erregen, „da doch lange Zeit bei uns ein Jude erster Führer der Konservativen war (Stahl), in England noch ist (Disraeli), in Frankreich lange gewesen ist (Fould)". Siehe R. Meyer, Briefe und sozialpolitische Aufsätze von Rodbertus, Seite 129.

 

Editorische Anmerkungen

Max Beer, Allgemeine Geschichte des Sozialismus und der sozialen Kämpfe, mit Ergänzungen von Dr. Hermann Duncker, S.544 -

Der Text ist ein OCR-Scan by red. trend vom Erlanger REPRINT (1971) des 1931 erschienenen Buches in der UNIVERSUM-BÜCHEREI FÜR ALLE, Berlin.

Von Hermann Duncker gibt es eine Rezension dieses Buches im Internet bei:
http://www.marxistische-bibliothek.de/duncker43.html