Thesen für eine antikapitalistische Linke

von Sarah Wagenknecht u.a.

05/06

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Mit dem Wegfall der Systemkonkurrenz ist das kapitalistische System in eine neue expansive und aggressive Phase getreten. Der weltweite Abbau von Kapitalverkehrskontrollen und Regulierungen, die Erpressung der ärmeren Länder, ihre Märkte zu öffnen und ihre Naturreichtümer und Wirtschaftsressourcen den Multis zu übereignen, rüde Privatisierungspolitik weltweit haben zu einer beispiellosen globalen Konzentration ökonomischer Macht geführt. Wenige hundert Konzerngiganten entscheiden heute über die Entwicklung der Weltwirtschaft, über Investitionen und Arbeitsplätze, über die Verteilung von Wohlstand und Armut, über die Lebensperspektiven von Milliarden Menschen. Je unumschränkter ihre Profitinteressen regieren, desto tiefer wird die Kluft zwischen Nord und Süd, zwischen Arm und Reich.

Auch in der Bundesrepublik öffnet sich die Schere zwischen Oben und Unten zusehends weiter. Die Gewinne der deutschen Konzerne haben sich allein in den vergangenen zwei Jahren mehr als verdoppelt. 21 Milliarden Euro an Dividenden werden die Dax-Unternehmen 2006 ausschütten, mehr als je zuvor. Dazu trägt der steigende Wettbewerbsdruck und ein Heer von über fünf Millionen Arbeitslosen bei. Zugleich werden hart erkämpfte soziale Sicherungen abgebaut. Besonders Frauen werden in Billigjobs oder ganz aus dem Arbeitsmarkt verdrängt, Grund- und Freiheitsrechte werden eingeschränkt und in ökologischen Fragen ist der Rückwärtsgang eingelegt. Der Militärhaushalt dagegen wird auf hohem Niveau gehalten. Massiv wird in die Um- und Aufrüstung der Bundeswehr zur Interventionsarmee investiert. Bundeswehreinsätze im Ausland, mehr als vierzig Jahre tabu, sind bereits unter der rot-grünen Bundesregierung wieder zur Normalität geworden. Über 7000 deutsche Soldaten befinden sich derzeit weltweit im Einsatz, von Sarajewo bis Kabul. Am Irak-Krieg war Deutschland umfangreich und unterstützend beteiligt, im Iran wird heute aktiv mitgezündelt. Engagiert wirkt die Bundesrepublik darauf hin, NATO und EU-Eingreiftruppen aufzubauen. Die deutschen Rüstungsexporte boomen.

Es sind immer die gleichen Lügen, die zur Rechtfertigung neoliberaler Politik herhalten müssen: Wir müssen sparen, behaupten eben jene Politiker, die zur Explosion der Konzerngewinne mit üppigen Steuergeschenken beigetragen haben und Spitzenverdienern und Vermögenden kaum noch mit Samthandschuhen in die gut gefüllten Taschen fassen. Der Sozialstaat ist unbezahlbar geworden, sagen sie, und sehen tatenlos zu, wie große Unternehmen und Banken sozialversicherte Beschäftigung in Zehntausender-Schritten vernichten. Unter dem Vorwand längerer Lebenserwartung wird der Rentenbeginn nach hinten geschoben, obwohl schon ein Fünfzigjähriger auf dem heutigen Arbeitsmarkt kaum eine Chance mehr hat. Von Menschenrechten und dem Kampf gegen den Terror wird geredet, obwohl es in Wahrheit um den Zugang zu Rohstoffen und Energieressourcen geht.
Die herrschende Politik ist nicht Sachzwang-geleitet, sondern Interessen-diktiert. Sie hat Profiteure. Deren Einfluss allerdings begründet sich nicht in Wählerstimmen, sondern in wirtschaftlicher Macht. Es sind die Lobbyverbände des grossen Kapitals, die seit über zwei Jahrzehnten den Umbau der europäischen Gesellschaften in Richtung eines entfesselten Kapitalismus betreiben. Und die noch längst nicht genug haben, wie ihre jüngsten Projekte, etwa die Bolkestein-Richtlinie, zeigen.

Genug von einer solchen Politik und Entwicklung haben allerdings immer mehr Menschen. Der Ausgang der Verfassungsreferenden in Frankreich und den Niederlanden ist dafür ebenso Beleg wie die häufiger werdenden Demonstrationen und Arbeitskämpfe in Europa gegen Lohndumping, gegen die Zerstörung sozialer Leistungen, gegen Privatisierungen. Die neoliberalen Lügen geraten in Konflikt mit elementarer Alltagserfahrung. Auch in Deutschland. Dass Rekordprofite nicht nur keine Arbeitsplätze schaffen, sondern mit weiteren Stellenstreichungen bestens vereinbar sind, haben nicht zuletzt Deutsche Bank und Telekom den Betroffenen ins Bewußtsein gehämmert. Dass selbst Unterwerfung unter die Forderungen der Kapitallobby nach längerer Arbeitszeit bei weniger Einkommen nicht dauerhaft Lohn und Brot sichert, hat Siemens mit dem Verkauf seiner Handysparte demonstriert. Sinkene Reallöhne und ein expandierender Niedriglohnsektor gehen in der Bundesrepublik seit 15 Jahren Hand in Hand mit weiter anschwellender Arbeitslosigkeit. Auch die Konsequenzen rüder Privatisierungspolitik – ob hohe Strompreise bei desolaten Netzen, eskalierende Wassergebühren oder Streckenstilllegungen der Bahn – sind mittlerweile offenkundig. Es sind einfach zu viele Menschen, die in ihrem täglichen Leben zu spüren bekommen, dass die neoliberalen Verheissungen größerer Freiheit und Eigenverantwortung vor allem eines bedeuten: das durch keine Regel mehr gebändigte Faustrecht des Wirtschaftsstärkeren.

Auch die herrschende Politik kann solche Stimmungen nicht mehr völlig ignorieren. Die verlogene Kapitalismus-Kritik der SPD im letzten Bundestagswahlkampf ist dafür ebenso Beleg wie das Gerechtigkeits-Gerede der Grossen Koalition. Vor allem aber sind über 4 Millionen Wählerinnen und Wählern der Linken ein Zeichen, dass auch in diesem Land etwas in Bewegung geraten ist. 4 Millionen Stimmen für ein linkes Projekt, dass zum Zeitpunkt der Wahl noch weit eher Vorhaben als politische Realität gewesen ist, sind allerdings nicht allein Ausdruck von Sympathien, Erwartungen und Hoffnungen, sondern auch ein ungemeiner Vorschuss an Vertrauen, den wir nicht verspielen dürfen.

PDS und WASG kommen aus unterschiedlichen Traditionen. Die PDS wurde in der Zeit der Niederlage des osteuropäischen Sozialismusversuchs geboren. Während die konkrete Bewertung ihrer Vorgeschichte und Vergangenheit umstritten blieb, gehörte Kapitalismuskritik und die Orientierung auf das Ziel einer sozialistischen Gesellschaft zu ihrem Gründungskonsens. Nicht nur eine Partei sozialer Reformen, sondern eine sozialistische Partei zu sein, war und ist ein Kernbestandteil ihrer Identität und dürfte für nicht wenige Mitglieder ein wichtiges Motiv gewesen sein, sich trotz politischer Ausgrenzung, Demütigung und massiver Angriffe, vor allem in den frühen neunziger Jahren, in der PDS zu engagieren. Versuche, sich von dieser programmatischen Ausrichtung, zu der auch ein klares friedenspolitisches Profil gehört, zu verabschieden, hat es gegeben; mehrheitsfähig waren sie nie. Mit den Akzeptanzgewinnen und Wahlerfolgen allerdings, die den Weg in die Landesregierungen von Schwerin und Berlin ebneten, entwickelte sich in der PDS zugleich ein politischer Flügel, der unberührt von programmatischen Festlegungen für eine Realpolitik zu stehen begann, die jener des neoliberalen Parteienkartells zusehends ähnlicher wurde. Privatisierungen, Lohnkürzungen, die Entschädigung reicher Fondsbesitzer aus Steuermitteln bei gleichzeitigen Verschlechterungen für finanziell schlechter gestellte, schmerzhafte Einschnitte bei Bildung und Kultur - vieles, wogegen die PDS auf Bundesebene opponierte, gehörte in einigen Ländern und Kommunen plötzlich zum eigenen politischen Repertoire. Ein jüngstes krasses Beispiel dieser Entwicklung ist die Entscheidung zur Privatisierung zehntausender kommunaler Wohnungen in Dresden. Eine solche Politik hat die PDS nicht nur sehr viel Glaubwürdigkeit und Vertrauen gekostet. Sie führte auch zu einem scharfen Kontrast zwischen sozialistischem Programmanspruch auf der einen Seite und einer von Vertretern der PDS mitverantworteten Realpolitik, die selbst elementaren Anforderungen einer sozialen Reformstrategie nicht gerecht wurde und wird.
Die WASG ist insbesondere aus den Protestbewegungen gegen Schröders Agenda 2010 entstanden. Verankert vor allem in den alten Bundesländern, mit starker gewerkschaftlicher Basis, war und ist sie im Anspruch eher ein sozialstaatlich orientiertes antineoliberales Projekt. Der antineoliberale Gründungskonsens der WASG schloss eines allerdings deutlich ein: Kritik an und Opposition zu jeder Art unsozial ausgerichteter Politik, einschließlich jener von der PDS in Landesregierungen mitgetragenen. Nicht zuletzt dadurch wurde die WASG auch über die Gewerkschaften hinaus ein Anknüpfungs- und Kristallisationspunkt für soziale Bewegungen. Durch ihre Wurzeln in der Anti-Hartz-Protestbewegung gehörte es für viele Mitglieder der WASG zum Gründungskonsens: Außerparlamentarischer Druck und Opposition dürfen neben der parlamentarischen Repräsentanz nicht vernachlässigt werden.

Mit ihrem gemeinsamen Wahlantritt und Wahlerfolg sind PDS und WASG zusammen zu einer politischen Kraft in der Bundesrepublik Deutschland geworden, wie keine der beiden Parteien es allein je sein konnte und kann. Die Chance auf eine starke mobilisierungsfähige Linke mit breiter Basis in Ost und West und realem gesellschaftlichen Einfluss ist heute gegeben. Ob sie eingelöst wird, hängt von der strategisch-inhaltlichen Ausrichtung ab, die die neue linke Partei sich gibt.

Die schlechteste aller denkbaren Varianten, in der Unterschiedlichkeit der Traditionen von WASG und PDS eine gemeinsame Basis zu finden, bestünde in der Kombination eines regierungsorientierten Pragmatismus, entsprechend etwa der dominierenden Strömung der PDS-Berlin, mit dem Verzicht auf programmatischen Antikapitalismus und sozialistisches Ziel, wie von einzelnen Vertretern der WASG gefordert. Klare Antikriegspositionen dürften bei einer solchen Entwicklung ebenfalls auf der Strecke bleiben. Denn wer in Deutschland unter den herrschenden gesellschaftlichen Bedingungen auch bundespolitisch mitregieren will, muss bereit sein, Bundeswehr und NATO in der heutigen Form zu akzeptieren und damit auch Kriegseinsätzen zuzustimmen. Was am Ende einer solchen Entwicklung stünde, wäre eine für die SPD als bundespolitischer Koalitionspartner akzeptable Partei, die sich von der neoliberal gewendeten Sozialdemokratie allerdings auch nicht mehr substantiell unterscheiden würde. Für eine solche Partei gibt es keinen gesellschaftlichen Bedarf. Eine solche Partei wollen wir nicht und brauchen wir nicht. Mit einem derartigen Ausgang des Fusionsprozesses würde das Vorhaben einer starken Linken nicht eingelöst, sondern erledigt.

Welche Aufgaben also hat eine linke Partei in einer Zeit, in der Mehrheiten das Gefühl zu teilen scheinen, dass es so, wie es ist, nicht weitergehen kann? Welche Aufgaben hat sie in einer Zeit, in der in Lateinamerika unter der Losung „Für einen demokratischen Sozialismus“ Wahlen gewonnen und die Diskussion über den Wert öffentlichen Eigentums an Energiequellen und Naturreichtümern wieder offensiv geführt wird, während in Europa der Gedanke an eine antikapitalistische Perspektive erst allmählich wieder Rückhalt findet? Welche Aufgaben hat eine linke Partei in einem Land, dessen Parteien jenseits der Linken nahezu nuancenfrei das wirtschaftshörige Programm des Neoliberalismus vertreten und Umverteilung von unten nach oben im Vergleich zu anderen europäischen Staaten besonders rabiat betreiben? Welche Aufgaben hat sie in einem Land, in dem sich aktive Gegenwehr zu regen beginnt, Ansätze für eine breite Protestbewegung aber noch kaum zu erkennen sind? Kurz: Was kann eine Linke in Deutschland unter den gegebenen Bedingungen in einem überschaubaren Zeitraum leisten, und was muss sie leisten, wenn sie die in sie gesetzten Hoffnungen nicht enttäuschen will?

Wir sehen zwei zentrale Aufgaben. Eine Linke, die gesellschaftlichen Einfluss nehmen will, muss mobilisierungsfähig werden. Eine Linke, die Anziehungskraft und Ausstrahlung gewinnen will, muss dafür sorgen, dass die Perspektive, für die sie - und nur sie - steht, als mögliche Antwort auf die Missstände der Welt in der öffentliche Debatte auch in Deutschland wieder präsent ist.

Mobilisierungsfähigkeit heißt, nicht nur abwartende UnterstützerIn sozialer Protestbewegungen zu sein, sondern zu ihrer eigenständigen AkteurIn werden zu können. Alle großen linken Parteien des europäischen Auslands haben in der Vergangenheit über diese Fähigkeit verfügt und tun dies bis zu einem gewissen Grade noch heute. Mobilisierungsfähigkeit ist entscheidend dafür, ob eine linke Partei Forderungen auf parlamentarischer Ebene wenigstens partiell durchsetzen und sie der herrschenden Politik aufzwingen kann. Starke parlamentarische Repräsentanz ist hierfür eine wichtige, aber bei weitem keine hinreichende Bedingung. Selbst die SPD ist aufgrund ihrer früheren und teilweise bis heute bestehenden engen Verflechtung mit den deutschen Gewerkschaften immer mobilisierungsfähig gewesen und hat diesen Einfluss in den vergangenen 7 Jahren als Macht zur Demobilisierung genutzt. Die Linkspartei.PDS war und ist zwar in den Vereinen und Verbänden Ostdeutschlands gut verankert; ihr Rückhalt in den sozialen Bewegungen und vor allem in den Gewerkschaften war dagegen nie stark genug, um Protestbewegungen selbst motivieren und prägen zu können. Die WASG bringt eine gewerkschaftliche Basis zumindest in einigen der alten Bundesländer mit. Ob es uns gelingt, diesen Rückhalt deutlich auszubauen und Teil der sozialen Bewegungen zu werden, wird über die Zukunftschancen des linken Parteienprojekts wesentlich entscheiden. Daran zu arbeiten, muss ein Schwerpunkt unserer politischen Tätigkeit in den nächsten Jahren sein.
Die zweite grundlegende Aufgabe ist es, die gesellschaftliche Alternative zum Kapitalismus wieder in die öffentliche Debatte zu bringen. Zumindest längerfristig sind Identität und Identifizierung einer gesellschaftlichen Linken nur über eine an die Wurzeln gehende Kapitalismuskritik bzw. die Orientierung auf eine sozialistische Perspektive möglich. Unverbindliche antineoliberale Floskeln sind, wenn sie opportun erscheinen, auch der SPD nicht fremd, wie der letzte Bundestagswahlkampf gezeigt hat. Was die SPD absehbar nicht mehr machen wird, ist antineoliberale Politik. Schon deshalb nicht, weil es unter den Bedingungen des globalisierten Kapitalismus der Gegenwart kein in sich schlüssiges antineoliberales Politikkonzept mehr gibt, das in der Ausrichtung nicht zugleich antikapitalistisch wäre. Antineoliberale Forderungen sind möglich und können im Falle starker Protestbewegungen in einzelnen Bereichen auch durchgesetzt werden. Aber 500 global wirtschaftsmächtige Konzerne und Finanzriesen, die die Weltproduktion an Gütern und Diensten kontrollieren und aufgrund ihrer Liquidität in der Lage sind, jede Währung in den Ruin zu treiben, lassen sich durch einzelstaatliche Gesetze nicht einfach reregulieren. Konsequenter Antineoliberalismus setzt unter heutigen Bedingungen voraus, die Frage von Eigentum und Macht zu stellen.

Auch wir wissen: Grundlegende Veränderungen der Wirtschaftsordnung sind unter den gegebenen Kräfteverhältnissen schwer erreichbar. Aber wenn die Linke bewirken kann, dass mehr als nur eine kleine Minderheit über die Möglichkeit einer Gesellschaft jenseits kapitalistischer Kapitalverwertung immerhin nachzudenken beginnt, haben wir einen ersten wichtigen Schritt zur Veränderung von Kräfteverhältnissen getan.

Die Linke sollte sich daher über eine Reihe antineoliberaler Forderungen definieren, die im Heute verankert sind und zugleich die Debatte über das Morgen ermöglichen: die Debatte also über die Voraussetzungen von Kriegspolitik und kapitalistischer Sozialbarbarei und deren Überwindbarkeit, über die kleine Minderheit der ProfiteurInnen, über die Bedingungen von Konzernmacht und Erpressung, über die Vorteile von öffentlichem im Gegensatz zu privatkapitalistischem Eigentum.

Folgende Forderungen wären unserer Ansicht nach in der Lage, eine solche Debatte anzustoßen. Sie könnten zentrale politische Projekte sein, die die neue Linke einbringt und die sie zugleich nutzt, um die Diskussion über gesellschaftliche Perspektiven jenseits des Kapitalismus zu eröffnen:

  1. Millionärssteuer zur Beseitigung von Armut: Die Bundesrepublik ist reich. Auf über 4000 Milliarden Euro summiert sich derzeit das private Geldvermögen. Allerdings sind es nur sehr wenige, die über dieses Geld tatsächlich verfügen. Allein die reichsten ein Prozent der Bevölkerung besitzen über die Hälfte davon. Würde das Geldvermögen dieser superreichen Oberschicht mit einer Geldvermögenssteuer von 5 Prozent belegt, ergäbe das für die öffentliche Hand Einnahmen von über 100 Milliarden Euro pro Jahr. 4,4 Millionen ALGII-EmpfängerInnen müssen derzeit zusammen von etwa 26 Milliarden Euro jährlich leben. Jeden von ihnen mit einem Grundeinkommen von 1.200 Euro je Monat auszustatten, würde Mehrausgaben von 37 Milliarden Euro verursachen. Das wäre mit der Millionärssteuer spielend zu decken, wobei noch Geld für höhere Bildungsausgaben, für öffentliche Investitionen und für einen Ausbau öffentlicher Beschäftigung verfügbar bliebe.

  2. Grosse Erbschaften besteuern statt Schuldenabbau durch Sozialraub: Die Schulden aller öffentlichen Haushalte in der Bundesrepublik belaufen sich derzeit auf etwa 1.400 Milliarden Euro. Grosse Teile der Steuereinnahmen können nicht für sinnvolle Ausgaben verwandt werden, weil sie für die Zahlung von Zins- und Zinseszins verschleudert werden. Insofern ist die Forderung nach Reduzierung des öffentlichen Schuldenstands nachvollziehbar. Allerdings: Die Schulden der öffentlichen Hand sind zugleich private Vermögen. Diese Vermögen wurden zum größten Teil nicht erarbeitet, sondern von Generation zu Generation weitervererbt und durch akkumuliertes Vermögenseinkommen vermehrt. Das betrifft insbesondere die Vermögen jener 760.000 reichsten BürgerInnen, die über mehr als 1 Million Euro Nettogeldvermögen verfügen. Würde dieses Geldvermögen der Reichsten, soweit es die Eine-Million-Grenze übersteigt, mit 100 Prozent Erbschaftssteuer belegt, wäre die öffentliche Hand nach nur einem Generationenwechsel schuldenfrei. Ohne eine einzige Sozialkürzung und ohne Einschnitte bei über 99 Prozent der Bevölkerung.

  3. Arbeitszeitverkürzung mit vollem Lohnausgleich: Die Einkommen aus unselbständiger Arbeit sind seit Jahren Ziel einer großen Offensive der Unternehmer und ihrer Verbände und der neoliberalen Politik. "Die Arbeit ist zu teuer" ist der Schlachtruf, der in die Köpfe der Menschen geimpft wird. In Wahrheit geht es um die Verbesserung der Profitrate der Kapitaleigner. Der Kampf um die Arbeitszeit und die Höhe der Einkommen hat den Kapitalismus immer geprägt. Auch heute wird darum die wichtigste gesellschaftliche Auseinandersetzung stattfinden, bei der die Linke ohne Abstriche auf die Seite der Lohnabhängigen steht. Sie ist für deutliche Lohnsteigerungen. Sie ist für den Beibehalt der kollektiven und durch Umlagen finanzierten sozialen Sicherungssysteme. Sie verteidigt die vollwertigen, sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse und fordert die Abschaffung des gesamten Gesetzeskomplexes, der unter dem Namen Hartz IV bekannt ist. Die Linke ist für radikale Umverteilung der Arbeit bei vollem Lohnausgleich. Sie ist für ein neues Arbeitszeitgesetz, dass die Wochenarbeitszeit herabsetzt und Überstunden drastisch begrenzt. Die Linke setzt sich für eine systematische Kontrolle der Umsetzung der Arbeitszeitverkürzung in den Betrieben durch gewerkschaftliche und betriebliche Strukturen ein. Die Linke ist für ein Verbot von Massenentlassungen. Gleichfalls abzulehnen ist die Verlängerung der Lebensarbeitszeit als verdeckter Angriff auf die Höhe der Renten.

  4. Jobvernichtung bestrafen statt fördern: Die Löcher in den Sozialkassen, insbesondere bei Rente und Gesundheit, rühren nicht aus steigenden Ausgaben, sondern aus der Vernichtung sozialversicherter Beschäftigung. Allein die grossen Konzerne haben seit Mitte der 90er Jahre in der Bundesrepublik über eine Million Arbeitsplätze vernichtet. Sie haben damit nicht nur unzählige Männer, Frauen und Kinder in soziale Not gestürzt, sondern sich zugleich um viele Milliarden Euro Einzahlungen in die Sozialkassen gedrückt. Das muss nicht so sein. Würden die von einem Unternehmen zu zahlenden Sozialabgaben die Anzahl der vernichteten Arbeitsplätze in Rechnung stellen, bei gleichzeitiger Berücksichtigung der gesamten Wertschöpfung im Konzern, würden Stellenstreichungen erheblich weniger lukrativ. Wer viel entlässt oder ganze Betriebsteile schließt, müsste am Ende überproportional in den Sozialtopf einzahlen und könnte so die durch die Entlassungen entstehenden sozialen Kosten wenigstens nicht mehr auf die Gemeinschaft abwälzen.

  5. Schluss mit der Zweiklassen-Medizin: Gesundheitliche Versorgung ist ein elementares Menschenrecht. Wir fordern eine gesetzliche Vollversicherung für Krankheit und Invalidität, in die jeder nach Maßgabe seines Einkommens einzahlt und die im Bedarfsfall alle entstehenden Kosten übernimmt. Eine tatsächliche Reduzierung der Kosten wird nicht durch Leistungskürzungen, sondern durch eine gesetzliche Limitierung der Arzneimittelpreise auf Kosten der Pharmaprofite erreicht. Für Pharmakonzerne wie für private Versicherungen ist Krankheit heute ein profitables Geschäft. Je weniger Leistungen die gesetzlichen Kassen abdecken, desto stärker werden PatientInnen zu selbstzahlenden KundInnen, die entsprechend ihrer Kaufkraft behandelt werden. Der persönliche Geldbeutel entscheidet damit auch über Lebenschancen. Solche Verhältnisse sind inhuman. Die Logik von Markt und Profit hat in essentiellen Bereichen des menschlichen Lebens nichts zu suchen. Private Zuzahlungen wie auch private Krankenkassen bewirken Ungleichheit und Entsolidarisierung; sie gehören abgeschafft.

  6. Finanzhaie brauchen Kontrolle und Regulierung: Das Finanzgebaren der großen Banken schlägt dem Gemeinwohl ins Gesicht. Während kleine und mittlere Unternehmen für ihre Investitionen kaum noch Kredite bekommen, werden Milliarden in die Finanzierung von Fusionen und Übernahmen gepumpt, die Arbeitsplätze vernichten und die Konzentration wirtschaftlicher Macht weiter erhöhen. Extrem hohe Überziehungs- und Konsumentenkreditzinsen tragen ebenfalls dazu bei, Kaufkraft abzuwürgen und Nachfrage zu verringern. 3 Millionen Haushalte in Deutschland sind bereits überschuldet. Rahmenvorgaben für Kredit- und Guthabenzinsen tun daher ebenso Not wie die gesetzliche Verpflichtung der Banken, einen festgelegten Mindestanteil ihrer Einlagen in Form von Kleinkrediten zu niedrigen Zinsen an mittelständische Unternehmen zu vergeben. Die Stärkung des öffentlichen Sparkassensektors gegenüber privaten Banken erleichtert die Umsetzung solcher Forderungen.

  7. Frieden und Abrüstung statt Staatsterrorismus: Kriege werden nicht für Menschenrechte, sondern um Rohstoffe und Energiequellen geführt. Rüstung ist ein glänzendes Geschäft. Auch Wiederaufbauverträge nach den Kriegen bringen Milliardenprofite. Deshalb gehören US-amerikanische und westeuropäische Konzerne zu den Profiteuren, aber auch den treibenden Kräften, wenn es um die Vorbereitung neuer Kriegsabenteuer geht. Wir setzen uns für die Beendigung der Militarisierung der deutschen und EU-Außenpolitik sowie die Auflösung der NATO ein. Wir fordern die Einhaltung des in der UN-Charta verankerten Gebots des Gewaltverzichts in den internationalen Beziehungen und kämpfen für den Verzicht auf Auslandseinsätze der Bundeswehr. Dazu gehören auch deutsche Beteiligungen an UN-mandatierten Militäreinsätzen. Unser mittelfristiges Ziel ist die strukturelle Nichtangriffs- und Nichtinterventionsfähigkeit Deutschlands, verbunden mit einem wirksamen Abrüstungs- und Friedensprojekt. Militärbasen, die die Infrastruktur für die Auslandseinsätze der Bundeswehr stellen, müssen geschlossen werden. Das gleiche gilt für alle Militärbasen der USA, Großbritanniens und der NATO in Deutschland, die zur Führung völkerrechtswidriger Kriege und zur Verschleppung von Gefangenen genutzt wurden und werden. Die EU und Deutschland müssen auf alle Atomwaffenoptionen grundsätzlich verzichten und alle in Deutschland stationierten Atomwaffen müssen abgezogen werden.

  8. Ausbau von Grund- und Freiheitsrechten statt Repression und Diskriminierung: Je schärfer die sozialen Kontraste werden, desto größer wird auch das Interesse der Herrschenden, demokratische Rechte abzubauen und den staatlichen Repressionsapparat hochzurüsten. Um Grund- und Freiheitsrechte umfassend zu gewährleisten, fordern wir gleiche Rechte für alle Menschen in Deutschland, die Wiederherstellung des Grundrechts auf Asyl, die Abschaffung der Geheimdienste, mehr direkte Demokratie durch die Ausweitung von Volksbegehren, Volksentscheiden und Volksinitiativen sowie die Einführung eines Wahlrechts für Nicht-Deutsche, die hier ihren Lebensmittelpunkt haben. Außerdem fordern wir die politische und strafrechtliche Bekämpfung von Neofaschismus, Rechtsextremismus, Rassismus und Sexismus und die Abschaffung aller Sondergesetze wie beispielsweise das Asylbewerberleistungsgesetz.

Die unmittelbare Alltagspolitik der neuen Linken - im Bund, in den Ländern und in den Kommunen - muss im Zeichen der glaubwürdigen Identifizierung mit einer an solchen konkreten Forderungen orientierten Strategie stehen. Nicht Regierungsfähigkeit im Bund an der Seite der SPD bringt uns ihrer Realisierung näher, sondern wachsende Mobilisierungsfähigkeit sowie der Druck einer von uns mitgeprägten öffentlichen Debatte, die sich nicht mehr nur auf antineoliberale Forderungen beschränkt. Hier müssen unsere politischen Prioritäten liegen, wenn die neue Linke ein Projekt mit Zukunft, Ausstrahlung und gesellschaftlichem Einfluss werden soll.

Entsteht stattdessen der Eindruck, wir strebten eher nach vermeintlicher Macht als nach politischen Zielen, beschädigt das unsere Glaubwürdigkeit und erschwert die angestrebte Verankerung in sozialen Bewegungen ebenso wie es die Überzeugungskraft unserer Ziele und Visionen verringert.

Eine glaubwürdige Linke kann sich auch keinen Dauerkonflikt zwischen Landes- oder auch Kommunalpolitik auf der einen und Bundespolitik auf der anderen Seite leisten. Auf Landesebene ist Umverteilung von oben nach unten in grossem Stil kaum erreichbar. Verlässlich können und müssen wir den Menschen allerdings zusagen, was mit der Linken auf keinen Fall zu machen ist. Als absolute Minimalbedingungen einer Regierungsbeteiligung auf Landesebene schlagen wir folgende Punkte vor:

  1. Keine weiteren Privatisierungen: Die Linke kämpft um die Ausweitung öffentlichen Eigentums, um die Rücknahme vergangener Privatisierungen, um die Rekommunalisierung von Eigentum, insbesondere in den Bereichen Wohnen, Wasser, Energie, Gesundheit oder Nahverkehr. Das Mindeste, was die Linke in Regierungen unter allen Umständen gewährleisten muss, ist ein sofortiger Stopp weiterer Privatisierungspolitik, egal in welchem Bereich und in welchen Facetten.

  2. Kein Abbau öffentlicher Beschäftigung: Die Linke kämpft um einen Ausbau des öffentlichen Beschäftigungssektors, um kürzere Arbeitszeiten mit vollem Lohnausgleich. Das Mindeste, was wir zusichern müssen, ist ein Erhalt der vorhandenen Stellen bei gegebenem Lohnniveau. Deutschland gehört zu den europäischen Ländern, in denen die Zahl öffentlich Beschäftigter pro Kopf der Bevölkerung schon heute sehr niedrig ist. An einer weiteren Reduzierung wird sich die Linke nicht beteiligen.

  3. Keine Förderung von sozialen Bildungsprivilegien: Das deutsche Bildungssystem bestärkt soziale Ausgrenzung und Chancenungleichheit. Armut ist heute wieder erblich. Studieren wird mehr und mehr zum Privileg von Kindern aus wohlhabenden Elternhäusern. Die Linke kämpft um Regelungen, die diese Situation verändern. Im Bildungsbereich hat Landespolitik keine geringen Einflussmöglichkeiten. Unter allen Umständen muss man sich darauf verlassen können, dass die Linke keine Maßnahmen mitträgt, die die soziale Ausgrenzung im Bildungsbereich weiter verstärken. Dazu zählen jede Art von Gebühren - egal ob für Kindergärten oder Hochschulen - ebenso wie weitere Verschlechterungen in der Ausstattung. Lernmittelfreiheit ist zu gewährleisten beziehungsweise wiederherzustellen. Kita-Gebühren sind in keinem Fall zu erhöhen, sondern nach Möglichkeit abzusenken bzw. ganz abzuschaffen. Das gegliederte Schulsystem muss Schritt für Schritt überwunden werden.

  4. Keine Kürzungen bei den Schwächsten: Die Linke kämpft darum, die soziale Situation gerade der Ärmeren zu verbessern. Mittel dafür gibt es in einem reichen Land genug. In jedem Fall aber muss gelten: Es gibt keine Haushaltszwangslage, die weitere Kürzungen bei denen rechtfertigt, die ohnehin schon das kleinste Stück vom Kuchen abbekommen haben. Eine Regierungsbeteiligung der Linken auf Landesebene muss das sicher stellen oder sie muss beendet werden.

  5. Entmilitarisierungs- und Konversionsprogramme auf Landesebene: Für die Zurschaustellung von Militär, wie bei öffentlichen Gelöbnissen und Zapfenstreichen, gibt es von uns keine Unterstützung. Wir streben stattdessen eine stärkere Würdigung zivilen und friedenspolitischen Engagements an. Auch landespolitisch setzen wir uns für einen Abzug der Atomwaffen und eine Schließung der militärinterventionistischen Infrastruktur ein.

Eine starke authentische Linke hat heute eine realistische Chance, dieses Land und seine Gesellschaft zu verändern. Sie hat die Chance, Rückhalt zu gewinnen und Einfluss zu nehmen. Sie hat die Chance, sich der Abwärtsspirale eines immer ungenierteren Lohn- und Sozialdumpings entgegenzustellen. Sie hat die Chance, sozialistische, antikapitalistische und grundsätzlich oppositionelle Ideen und Ziele wieder in die gesellschaftliche Debatte zu bringen.

Denn immer mehr Menschen wollen nicht in einem Land leben, das den Konzernen Höchstprofite beschert, während Arbeitslosigkeit und Armut weiter wachsen. Sie wollen kein Europa, in dem die Versorgung der Menschen mit elementaren Gütern wie Wasser und Energie oder der Zugang zu Bildung fast allein dem freien Spiel kapitalistischer Marktkräfte überlassen bleibt. Sie wollen keinen ungehemmten Kapitalismus, sondern eine Gesellschaft der Solidarität und der sozialen Gerechtigkeit. Ringen wir um die Akzeptanz dieser Menschen, und ringen wir mit ihnen gemeinsam um antineoliberale Forderungen und eine antikapitalistische Perspektive.

Editorische Anmerkungen

Quelle: http://www.antikapitalistische-linke.de/