Zwei Pfennig vom Gulden  
Über den Daumen gepeilt: Arbeitslosengeld II ist mittelalterlicher Tagelohn  

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on Rosa Gölitzer
05/06

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onlinezeitung
Von Erwerbsloseniniatitiven wird gelegentlich der Verdacht geäußert, die »Arbeitsmarktreformer« wollten uns ins Mittelalter zurückkatapultieren. Tatsächlich entspricht die Höhe des geplanten Arbeitslosengeldes II der eines Tagelohns von vor 600 Jahren, nur konnten damals auch arme Menschen aufgrund des Gemeineigentums an Wald und Weideland bescheiden überleben. Heute sind wir der Willkür von Staat und Bürokratie absolut ausgeliefert.

Nach mir vorliegender, bestimmt nicht repräsentativer Information, verdiente ein Tagelöhner um das Jahr 1400 im städtischen Milieu Süddeutschlands drei bis fünf »silbern Pfennig«, ein qualifizierter Handwerker das zwei- bis vierfache. Zwölf dieser Pfennige wurden »durch alle Königreich (...) für ein(en) gülden Werth« gerechnet. Über diesen »gülden Werth« bestimmt der Sachsenspiegel um 1230: »Das ist zwei Ochsen zum Pflügen oder eine (Milch-)Kuh mit Kalb«. Nach amtlichem Münzedikt von 1409 wurden vom »rheinischen Goldgulden« 66 Stück aus der »rauhen cöllnischen Mark« (= 233,696 metrische Gramm)1 zu 22 Karat »geschlagen«, was einem Feingoldgehalt von 3,4258 Gramm entspricht.

Seit der Renaissance – dem Beginn der massiven Edelmetallimporte aus dem späteren »America« – hat sich der Geldwert einer durchschnittlich qualifizierten Arbeitskraft bei zweieinhalb bis fünfeinhalb Kilogramm Feingold pro Jahr eingependelt: 1512 betrug das Jahresgehalt des Professors Pietro Pomponazzi an der Universität Bologna 1 600 Dukaten (à 3,488 g zu 23 3/4 Karat, also insgesamt 5 522 2/3 Gramm Feingold). Aus der gleichen Epoche (frühe Neuzeit) berichten die Gebrüder Grimm, daß der – eher dümmliche – Held des Märchens »Hans im Glück« als Lohn für siebenjährige »treue Dienste« ein Goldstück erhält, »so groß wie Hansens Kopf«. Dieses trägt Hans zwar zunächst fröhlich von dannen, aber mit der Zeit wird es unerträglich schwer. Realistisch geschätzt, ergibt sich eine Last von nicht weniger als 15 und nicht mehr als 25 Kilogramm. Dies wiederum entspricht einem Geldlohn von zwei- bis dreieinhalb Kilogramm Gold pro Jahr – zusätzlich zu Kost und Logis nebst allem andren, was der »treue Hans« während siebenjähriger Arbeitszeit so verbraucht hat.

Zu ähnlichem Wertresultat kommt die Untersuchung des Statistischen Bundesamts von 1996 (veröffentlicht in »Wirtschaft und Statistik«, 2/1999) über »durchschnittliche Arbeitskosten« in ausgewählten Branchen: Zwischen 56 000 (Textil und Leder) und 108 000 (Chemie) Deutsche Mark müssen bundesdeutsche Unternehmen für die gewöhnliche Arbeitskraft aufbringen – dividiert durch 20 400 ergibt sich die Feingoldmasse in Kilogramm.

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts beträgt der Wert des gesellschaftlichen Gesamtprodukts pro Kopf der Bevölkerung Deutschlands – vom Säugling bis zur hundertjährigen Oma – rund 24 000 Euro jährlich, was gewöhnlich als »Volkseinkommen« bezeichnet wird. In mittelalterliche »Wehrung« (rheinischer Goldgulden nach dem Münzfuß von 1409) umgerechnet, sind das exakt zwei »Gülden« pro Person und Kalendertag.

Offensichtlich glauben die »Modernisierer des Sozialstaats« Hartz & Co. im Jahr 2004, die kalendertägliche Zuteilung eines mittelalterlichen Tagelohns an einen Haushaltsvorstand (die vier Pfennig von 1409 entsprechen – fast – genau den 11,50 Euro in 2005) sei eine hinreichende Lebensgrundlage. Sie »vergessen« dabei geflissentlich die Folgen: Ab 1419 überrannten aufständische Volksmassen – »Hussitenkrieg« – von Böhmen aus (damals das industriell höchstentwickelte Land Europas) die Nachbarländer. Zur Zeit der »sächsischen Münzreformation« von 1444 war es hier keine Seltenheit, daß eine ärmere Familien als gesamten Geldvorrat gerade »einen einzigen Heller im Haus« hatte. Die früher mal aus bestem Silber gefertigte Münze war um 1420 schon »soweit herumgekommen, daß deren zweie (noch) einen Pfennig ausmachten«.

Frau stelle sich bitte heute eine zehnköpfige Familie vor, die über ein Gesamtvermögen von 1,43 Euro verfügt.
 

1) Die cöllnische Mark wird offziell mit 233,8555 Gramm angegeben, seit zirka 1736 ein deutsches Münzkonvent beschloß, daß alte cöllnische Originalgewicht durch die »beste« (= schwerste) Kopie aller deutschen Münzstätten zu ersetzen

Editorische Anmerkungen

Der Artikel erschien am 30.8.2004 in der Jungen Welt. Dort befindet er sich mittlerweile im passwortgeschützten Archiv. Wir wurden daher von der Autorin um die Zweitveröffentlichung gebeten.