Die neue Angst vor den "gefährlichen Klassen"

von Lutz Getzschmann
05/06

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Die seit November letzten Jahres immer wieder aufflackernden Unruhen in Frankreich haben ihre Spuren hinterlassen und geben, gemeinsam mit anderen Ereignissen, wie etwa den Zuständen in New Orleans während des Hurrican Katrina, dem herrschenden Bewusstsein einen Schauer apokalyptischer Vorahnung, nämlich jener, die auf das Marxsche Diktum vom „gemeinsamen Untergang der kämpfenden Klassen“ in Chaos und Barbarei im „Kommunistischen Manifest“ hindeutet.

Die folgenden Überlegungen sollen ein Versuch sein, einige Aspekte der Realitäten die sich darin verzerrt widerspiegeln zu skizzieren und sie einzuordnen in einen historischen Kontext, in dem sie verstehbar werden als Bestandteil des Niedergangs und der krisenhaften Neuzusammensetzung der ArbeiterInnenklasse im internationalen Maßstab, auch wenn hier um den Rahmen nicht zu sprengen, lediglich westeuropäische Klassenerfahrungen reflektiert werden können.  

1. Wiederkehr der „gefährlichen Klassen“?

Die Tatsache, dass das scheinbare Absterben antagonistischen Klassenbewusstseins in Kernbereichen der europäischen ArbeiterInnenklasse und das vor mehr als 15 Jahren proklamierte „Ende der Geschichte“ die innere Verfasstheit der bürgerlichen Gesellschaft nicht etwa stabilisiert, sondern vielmehr eine Form sozialer Unruhe wieder mit Leben erfüllt hat, die von der sozialdemokratisch domestizierten und disziplinierten ArbeiterInnenbewegung der letzten hundert Jahre immer abgelehnt und aktiv bekämpft worden war, nämlich die Revolten der Perspektivlosen und Enteigneten in den proletarischen Vorstädten, scheint auch bis in die Redaktionsstäbe der bürgerlichen Medien Verbreitung gefunden zu haben. Nur werden diese Riots, deren Überspringen auf deutsche Sozialghettos seit Monaten ängstlich herbeigeschrieben wird, als solche natürlich nie kenntlich gemacht. Vielmehr müssen sie als Folie herhalten auf deren Basis eine Kampagne losgetreten wird, in der kulturalistischer Rassismus und die soziale Verachtung gegenüber den zunehmend pauperisierten unteren Segmente der ArbeiterInnenklasse auf wirkungsvolle Weise ineinander verschränkt sind. Wenn etwa im ZDF-heute-journal anlässlich des französischen Generalstreiks gegen die Lockerung des Kündigungsschutzes, der von Auschreitungen in den Banlieus begeleitet war, moralisierend von einem Nachrichtensprecher in die angeblich objektive Berichterstattung das Lamento eingeflochten wird, die Franzosen würden gegen die Realität streiken und sich den unabweisbaren Notwendigkeiten des Arbeitsmarktes widersetzen, während zugleich befriedigt vermerkt wird, die Sondereinheiten der CRS würden  gezielt und effektiv gegen jugendliche Randalierer vorgehen und Ausschreitungen im Keim ersticken, dann ist natürlich völlig klar, wer damit gemeint ist. Die Verbindung der Jugendlichen aus den Vorstädten, die bisher nur die Autos ihrer Eltern anzünden und gelegentlich eine Polizeistreife attackieren, viel öfter selber die Gejagten eines rassistischen Polizeiapparates sind, mit den streikenden gewerkschaftlich organisierten ArbeiterInnen und ihren, aus den  ritualisierten und institutionalisierten Kampfformen ausbrechenden Organisationen, das ist es, wovor die Bourgeoisie sich wirklich fürchtet, in Frankreich, wie auch in Deutschland, und deshalb wird um die Pariser Banlieus wie auch um Viertel wie Berlin-Neukölln oder die sozialen Brennpunkte in Offenbach ein Ring der Isolation gelegt, der genau dieses verhindern soll. Das Mittel dazu ist ein immer wieder recycelter rassistischer Diskurs um die angeblich sich bildenden „Parallelgesellschaften“ nicht integrationswilliger MigrantInnen. Jener Terminus von der „Parallelgesellschaft“ verweist auch auf die eigentliche Angst der Herrschenden, nämlich das Wiederentstehen sozialer Räume inmitten der bürgerlichen Gesellschaft, die nicht vollständig kontrollierbar und strukturierbar sind durch die Souveränitätsansprüche des Staates und die Verwertungsbedürfnisse des Kapitals, Dschungellandschaften der städtischen Armut und der Entstehung von Subkulturen, akzeptierten und legitimierten Überlebensstrategien und Formen einer renitenten Subjektivität, die die Disziplinierungsstrategien auch der ideologischen Apparate des Staates unterlaufen, nicht fassbar sind und sich dem ordnenden Zugriff staatlicher Macht entziehen . Dies reflektiert u.a. Rada Ivekovic in ihren Reflexionen der Revolte in den Banlieus in „Lettres Internationales“:

„Das „unvorhergesehene“ und plötzliche Hereinbrechen der aufrührerischen Figuren und ihr direktes, gewalttätiges Handeln jenseits aller sprachlichen Vermittlung kann in der französischen Öffentlichkeit nicht als politische Forderung verstanden werden. Es ist das wilde Verlangen, die bestehende Hegemonie zu stürzen und sie durch eine neue, gerechte Ordnung zu ersetzen. Die Krawalle gingen von keinen ethnischen oder sonstigen Gemeinschaften aus und hatten keine Anführer. Keinerlei politisches Projekt ist aus ihnen hervorgegangen, und es gibt auch niemanden im politischen Spektrum, der die Randalierer vertritt. Die Herrschenden, die, durchaus absehbar, inzwischen versucht haben, mit dem einen oder anderen Imam ins Gespräch zu kommen, haben bisher Glück gehabt. Aber zwischen Glückhaben und klug Handeln gibt es einen großen Unterschied. Vor allem sollten wir uns von niemandem weismachen lassen, das Problem der Vorstadtghettos habe nichts mit Politik oder mit der Klassengesellschaft zu tun. In der Debatte darüber, was eigentlich geschehen ist und was man dagegen unternehmen sollte, konnten weder die Rechte noch die Linke politische Lösungen anbieten. Und bevor sie zu irgendeinem Ergebnis kamen, waren die Krawalle vorbei.“1 

Die Revolte der Jugendlichen aus den Banlieus ist aber auch ein Phänomen des Niedergangs der traditionellen Arbeiterbewegung und eine Absage an die “Politik“, wie sie von den Parteien der reformistischen wie auch der selbsterklärten „radikalen“ Linken betrieben wird und bedeutet, indem sie sich gegen die Institutionen der vermeintlichen Integration und die Symbole der Dressur wendet, anstatt sich institutionell „politisch“ zu artikulieren,  eine praktische, allerdings destruktive und instinktive Kritik am Paternalismus nicht nur des Staates an sich, sondern auch der wohlmeinenden Sozialarbeiter, „linken“ Kommunalpolitiker und demokratisch-antirassistischen Gutmenschen aus. Hier artikuliert sich ein Teil der ArbeiterInnenklasse, der im Begriff ist, seine Illusionen über das System abzuwerfen. Oder, wie Charles Reeves es ausdrückt:

„Viele der festgenommenen Jugendlichen haben prekäre, marginalisierte oder unqualifizierte Minijobs. Das Bild einer Bevölkerungsgruppe, die sich völlig ausserhalb der Arbeitswelt befindet, trügt. Wie ein bedeutender Teil der Bewohner dieser Viertel gehören sie der Arbeitswelt an: mal als Lohnarbeiter, mal als Arbeitsloser. Die Protagonisten dieser Revolten liefern in der Tat ein Negativbild der Verfassung der alten Arbeiterklasse. Einerseits möchten sie dazugehören. Andererseits ist das Bild, das sie von den eigenen Eltern bekommen, das des Opfers zugunsten des Profits, so dass sie eine massive Ablehnung der Arbeitswelt und der Lohnarbeit entwickeln. Nur in diesem Sinne kann man von einem Widerstand gegen die Integration sprechen, eine Integration, die als Anpassung an die heutige Welt empfunden wird. Baudrillard zufolge existiert die westliche Kultur nur, weil der Rest der Welt danach strebt, zu ihr Zutritt zu bekommen. Beim leisesten Zeichen von Ablehnung oder von Verringerung dieses Strebens verliert sie nicht nur ihre Übermacht, sondern auch ihren Reiz für sich selbst. Und gerade das beste das sie anbieten kann, die Autos, die Schulen, die Supermärkte, all das wird in Brand gesetzt oder verwüstet. Die Kindergärten! Genau das, womit wir sie integrieren, sie bemuttern möchten! Man kann den Ausbruch dieser Revolte als eine gewalttätige und wortlose Antwort auf das Fiasko der alten Arbeiterbewegung und ihrer Institutionen, auf die Niederlage der Arbeiterklasse interpretieren. Diese jungen Proletarier sind lebenslänglich verdammt, sie sind aus der klassischen Lohnarbeit mit stabilen Verhältnissen ausgeschlossen. Gewerkschaften und linke Parteien sind in diesen Vierteln nicht mehr vorhanden, sie haben dort nichts mehr zu vertreten.“2   

Worum es hier geht, ist nichts weniger als eine epochale Neuzusammensetzung der ArbeiterInnneklasse und – aus der Vogelperspektive der bürgerlichen Ideologiefabriken das Auftauchen jener „gefährlichen Klassen“, die eigentlich ein Element frühkapitalistischer Vergesellschaftung waren, nämlich das buntscheckige, pauperisierte, undisziplinierte und zu Alkohol- und Randaleexzessen neigende Proletariat der unübersichtlichen Vorstädte im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert, bevor sich aus diesen Elementen der durch ursprüngliche Akkumulation, Landflucht und Zwangsgesetzen dort zusammengepferchten und nur mühsam unter Kontrolle gehaltenen lebendigen Arbeit eine organisierte und disziplinierte sozialistische Arbeiterbewegung formierte, deren Bewusstseinsformen und Wertvorstellungen bereits von der Anerkennung des Zwangs zur Lohnarbeit ausgingen und auf der proletarischen Sozialisation in der kapitalistischen Fabrikgesellschaft basierten..  

2. Repression, Kriminalität und Delinquenz

Wir sehen: die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft ist nicht nur eine Geschichte von Klassenkämpfen, die als solche organisiert, sichtbar und kenntlich gewesen wären, sondern auch eine Gewaltgeschichte der Disziplinierung und Zurichtung der menschlichen Arbeitskraft auf die Verwertungsbedürfnisse des Kapitals – und der politisch nicht fassbaren, ja sich häufig den Kategorien des Politischen verweigernden Renitenz der Ausgebeuteten dagegen. Das Hauptinstrument, um aus enteigneten, in die Städte getriebenen, undiszipliinierten und scheinbar arbeitsscheuen Paupern industrielle Proletarier zu machen, die verlässlich ihre Arbeitskraft zur Verfügung stellen sollten, war – entgegen anderslautenden Gerüchten – die Entwicklung und immer weitergehende Perfektionierung eines staatlichen Zwangsapparates, der dazu diente, die Städte kontrollierbar und überschaubar zu machen, die Menschen in Kategorien einzuordnen und ihre Alltagszusammenhänge dem Staat transparent zu machen. Dem diente u.a. die Entwicklung des Pass- und Meldewesens. Worum es aber in diesem Zuge ebenfalls gehen musste, war die Austrocknung jenes Sumpfes von Überlebenstechniken, widerständigen Lebensäußerungen und kleinkriminellen Aneignungsformen, die eine natürliche Reaktion auf die materiellen Verhältnisse waren. Die feudalen Gerichtsbarkeiten hatten immer einen sehr selektiven Zugriff auf diese Rechtswidrigkeiten und einen weiten Spielraum für Gnade und politisch motivierte Straflosigkeit. Die Bourgeoisie musste im Zuge ihrer ökonomischen wie politischen Machtergreifung diese weißen Flecken ausradieren, einen Justizapparat schaffen, der zwar einerseits auf die vielen unnötig und irrational grausamen Folterrituale verzichtete, dessen Rationalität aber zugleich eine flächendeckende Bekämpfung der ständig zunehmenden Eigentumsdelikte aus den Reihen der unteren Klassen ermöglichte. Mit der Ausweitung der Delikte und Strafen vervielfachte sich die Kriminalität und dies in einem Kontext, der geprägt ist von Unterklassenmilieus und klassenspezifischen Eigentumsdelikten, die zumindest innerhalb proletarischer Milieus toleriert und legitimiert waren. Foucault, der die Entwicklung des Strafvollzugs untersuchte, konstatiert für Frankreich:

„Zunächst die Entwicklung der politischen Dimension der volkstümlichen Gesetzwidrigkeiten, wobei sich zwei Richtungen abzeichnen: einmal geht es um Praktiken, die bis dahin auf bestimmte Orte und sozusagen auf sich selber beschränkt waren (wie etwa die Verweigerung der Steuer, der Wehrpflicht, der Grundlasten, die gewaltsame Beschlagnahme von wucherisch aufgekauften Lebensmitteln; die Plünderung von Geschäfts- oder Lagerhäusern und der eigenmächtige Verkauf von Waren zum „gerechten Preis“, die Auseinandersetzungen mit den Vertretern der Macht) und sich während der Revolution zu eigentlich politischen Kämpfen ausgeweitet haben, die nicht bloß auf ein Einlenken der Macht, auf Rückgängigmachung einer unerträglichen Maßnahme abzielten, sondern auf den Wechsel der Regierung und der Machtstruktur selber. Und umgekehrt haben bestimmte politische Bewegungen an bestehende Formen der Gesetzwidrigkeit angeknüpft (…)

Zum andern zeichnen sich in der Ablehnung der Gesetze und der Reglements die Kämpfe gegen diejenigen ab, die sie ihren Interessen gemäß einrichten. Man schlägt sich nicht mehr gegen die Steuereintreiber, die Bankiers, die Agenten des Königs, gegen pflichtvergessene Offiziere oder schlechte Minister, also gegen alle Vertreter der Ungerechtigkeit, sondern gegen das Gesetz selbst und die Justiz, die es vollziehen soll.: gegen die Grundbesitzer, die neue Rechte durchsetzen wollen; gegen Unternehmer, die sich untereinander verständigen, aber Zusammenschlüsse der Arbeiter verbieten; gegen Fabrikanten, die immer mehr Maschinen einstellen, die Löhne senken, die Arbeitszeit verlängern und ihre Reglements immer strenger machen. Gegen das neue Gesetz des Privateigentums an Grund und Boden, das von der Bourgeoisie im Zuge der Revolution eingeführt worden ist, haben die Bauern eine Gesetzwidrigkeit entwickelt, die zwischen dem Thermidor und dem Konsulat am gewaltsamsten war, aber dann noch weiter wirkte; gegen das neue System der erlaubten Ausbeutung von Arbeit sind zu Beginn des 19. Jahrhunderts von den Arbeitern Gesetzwidrigkeiten entwickelt worden, die von gewaltsamen Ausschreitungen wie Maschinenstürmerei über dauerhaftere Maßnahmen wie die Bildung von Arbeitervereinen bis zu den alltäglichen Verstößen wie Wegbleiben oder Weggehen von der Arbeit, Landstreicherei, Betrug am Arbeitsmaterial, an der Quantität oder Qualität der Arbeit reichen. Eine ganze Reihe von Gesetzwidrigkeiten spielt sich in Kämpfen ab, mit denen man zugleich das Gesetz und die gesetzgebende Klasse angreift.“3

Auch wenn das Ausmaß der volkstümlichen Gesetzwidrigkeiten und ihre Zunahme in der frühen industriellen Revolution schwer abzuschätzen sind,  ist doch festzustellen, dass sie ausreichten, um den Ängsten des Bürgertums und der Phantasie seiner Rechtstheoretiker Nahrung im Überfluß zu geben. Das 19. Jahrhundert ist, in Frankreich wie auch anderswo, die Zeit der wildesten Theorien über die Vererbbarkeit krimineller Neigungen, wie auch der Vorstellung, das Verbrechen fast ausschließlich Angelegenheit einer bestimmten sozialen Klasse sind, dass

"neun Zehntel der Mörder, Totschläger, Diebe und Verräter aus dem niederen Volk stammen, dass nicht das Verbrechen der Gesellschaft entfremdet, sondern dass das Verbrechen dadurch zustande kommt, dass man in der Gesellschaft ein Fremder ist, dass man jener „entarteten Rasse“ angehört, von der Target sprach, jener, durch das Elend heruntergekommenen Klasse, deren Laster den großherzigen Regungen ein unüberwindliches Hindernis entgegensetzen; dass es unter diesen Bedingungen Heuchelei oder Naivität wäre, anzunehmen, dass das Gesetz für alle und im Namen aller geschaffen sei, dass es klüger ist, anzunehmen, dass es von einigen gemacht ist und auf andere anzuwenden ist; dass es zwar im Prinzip alle Bürger verpflichtet, sich aber in erster Linie an die zahlenmäßig stärksten und am wenigsten aufgeklärten Klassen richtet; dass die politischen und bürgerlichen Gesetze zwar für alle gleich sind, nicht aber ihre Anwendung; dass in den Gerichten nicht die Gesamtgesellschaft über eines ihrer Mitglieder urteilt, sondern dass eine mit der Ordnung beauftragte Schicht über eine andere, die der Unordnung geweiht ist, zu Gericht sitzt…“4

Was sich letztlich als viel wirkungsvoller bei dem Versuch der Isolierung und Delegitimierung der Gesetzwidrigkeiten im Volk erweist als alle Körperstrafen und Militäraktionen gegen Massenansammlungen, ist die Institution des Gefängnisses, die ein Produkt der bürgerlichen Revolution war. Gab es vorher Kerker und Schuldturm, so ist das Gefängnis, mit der Psychatrie aus dem Arbeitshaus entstanden, eine gleichsam pädagogische Einrichtung, die ihren vorgeblichen Zweck, die Aberziehung des Verbrechens, verfehlt, indem sie Delinquenz produziert, also den Verbrecher als Sozialcharakter, der aus dem Gefängnis gefestigt aber stigmatisiert hervorgeht. Foucault führt aus:

„Anstatt von einem Versagen des Gefängnisses bei der Eindämmung der Kriminalität sollte man vielleicht davon sprechen, dass es dem Gefängnis sehr gut gelungen ist, die Delinquenz als ein anscheinend an den Rand gedrängtes, tatsächlich aber zentral kontrolliertes Milieu zu produzieren, es ist ihm gelungen, den Delinquenten als pathologisiertes Subjekt zu produzieren. (…) Tatsächlich bietet eine als Delinquenz festgestellte Gesetzwidrigkeit einige Vorteile. Sie lässt sich kontrollieren, indem die Individuen markiert, die Gruppen unterwandert und das Denunziantentum organisiert werden. Das unübersichtliche Gewimmel von gelegentlichen und unvorhersehbaren rechtswidrigen Praktiken, die in einer Bevölkerung allgemein üblich sind, oder die unbeständigen Scharen von Landstreichern, die je nach den Umständen Arbeitslose, Bettler, Arbeitsverweigerer anwerben und die sich – etwa gegen Ende des 18. Jahrhunderts – zu gefährlichen Truppen der Plünderung und der Unruhestiftung verstärken können, ersetzt man durch eine relativ beschränkte und geschlossene Gruppe von Individuen, die sich einer stetigen Überwachung unterwerfen lassen.“5

Zudem sei es möglich, diese nun isolierte Delinquenz auf Formen der Gesetzwidrigkeit umzuleiten, die ungefährlich seien, durch den Druck der Kontrolle nan den rand der Gesellschaft geschoben und ohne Verbindung mit der Bevölkerung, die sie, wie die früheren Formen des Sozialbanditentums, unterstützt hätte, würden sie unweigerlich auf eine lokalisierte, unattraktive, politisch ungefährliche und wirtschaftlich folgenlose Kriminalität zurückgeworfen. Eingeschlossen in ihre inneren Organisationen, einer gewaltsamen Kriminalität verhaft, der die armen Klassen zuerst zum Opfer fallen, von der Polizei umstellt, bilde die Delinquenz eine andere, gefährliche und häufig feindselige Welt, welche die übrigen gesetzwidrigen Praktiken einschränke oder in Grenzen halte und am Einmünden in weitreichendere und offenkundigere Formen der Gesetzwidrigkeit  hindere. 

In einer modernen Klassengesellschaft, deren soziale Widersprüche und sich radikalisierende Ausbeutungsverhältnisse durch rassistische Spaltungslinien überlagert sind, in der also ArbeiterInnen mit Migrationshintergrund oder dunkler Hautfarbe zu beträchtlichen Teilen die unteren, desintegrierten Segmente der ArbeiterInnenklasse bilden, die von zunehmender Verarmung und Ghettoisierung geprägt sind, wirkt die Subkultur der eigenen Sprache und Kultur wie ein Schutzwall gegen den anonymisierenden Zugriff des Staates und fördert die Bildung von Vergemeinschaftungsstrukturen, die einen scheinbaren Schutz vor der totalitären kapitalistischen Vergesellschaftung bietet. Und genau dies bildet den Ausgangspunkt für die Ängste der Repräsentanten bürgerlicher Staatsideologie: die Vermutung, dass sich in einer staatsfernen proletarischen Subkultur, die auch noch durch sprachliche und kulturelle Barrieren von der Gesamtgesellschaft getrennt ist, die mühsam und in einem langwierigen Prozess hergestellte Pathologisierung und Isolierung von Gesetzwidrigkeit als Delinquenz wieder aufgeweicht werden könnte und ganze gesellschaftliche Sektoren infolge dieser Auflösung staatsbürgerlicher Ideologie zu undurchdringlichen Sumpflandschaften aus Armut, Nischenexistenzen, akzeptierter volkstümlicher politisch-sozialer Kleinkriminalität und subversiver Zersetzung bürgerlicher Staatlichkeit werden. Und dies wiederum könnte dazu führen, dass die Zitadellen staatlicher Macht, seien es die Polizeipräsidien, die Schulen, die Behörden oder auch die Viertel der „besseren Leute“ zu kleiner werdenden Inseln der Staatlichkeit im Strom chaotischer Proletarisierung und Pauperisierung sowie der Zersetzung der bürgerlich-kapitalistischen Vergesellschaftungsform werden könnten, zumindest in den Fieberträumen der Sicherheitsexperten und Polizeistrategen. Eine prinzipiell konstatierbare Tendenz in diese Richtung weist jede moderne bürgerliche Gesellschaft auf, die sich mehr oder weniger auf dem Weg der neoliberalen Transformation des Staates befindet und über ein gewisses Potential an sozialer Mobilität und Migration verfügt. Prekär wird dies, wenn, wie in Frankreich, eine ganze Generation von MigrantInnenkindern aufwacht und feststellen muss, dass sie keinerlei Chancen haben, ihrer Sozialisation als rassistisch ausgegrenzte, unterqualifizierte, auf Gelegenheitsjobs verwiesene Angehörige des Bodensatzes der Gesellschaft, dem untersten Teil der ArbeiterInnenklasse, zu entrinnen. Waren ihre Eltern noch mit Aufstiegshoffungen ins Land gekommen und bereit, Demütigungen zu ertragen, zu buckeln und zu miesen Bedingungen zu arbeiten, so muss die darauffolgende Generation erkennen, dass all diese Anpassungsleistungen schlicht nichts gebracht haben. Aus Desillusionierung wird Wut, aus Perspektivlosigkeit die Verallgemeinerung von Kleinkriminalität und die Auflösung der isolierten und herausgehobenen Delinquenz. In den letzten 10 Jahren sind zunehmend verarmte Trabantenvorstädte französischer Metropolen zu No-GoAreas für die Staatsmacht geworden. Es deutet sich, nicht nur in Frankreich, an, dass tatsächlich soziale Räume entstanden sind, in denen proletarische Milieus entstanden sind, die ein Maß an Renitenz und Staatsferne entwickelt haben, das für den bürgerlichen Staat zur Bedrohung wird. Nicht jedoch im Hinblick auf eine proletarische soziale Revolution, sondern bezogen auf eine Perspektive der inneren Zersetzung der bürgerlichen Gesellschaft, ihres Absturzes in die Barbarei. Dass die soziale Neuzusammensetzung der ArbeiterInnenklasse zunächst diese Option bereithält und die Alternative der sozialen Revolution, der naturgemäss einen Prozess einer politischen Neuzusammensetzung der Klasse und der Konstituierung einer neuen revolutionären ArbeiterInnenbewegung voraussetzen würde, vorerst kaum zur Debatte steht, hat Gründe, die u.a. in der Geschichte der Arbeiterbewegung liegen und eng mit den Mechanismen der Ausgrenzung und der Isolierung scheinbar „lumpenproletarischer“ Lebensweisen und Kampfformen verknüpft sind. 

3. Der Diskurs der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung: „Lumpenproletariat“

Bei einer Untersuchung der desintegrierten Teile der ArbeiterInnenklasse, ihre Disziplinierung durch Kapital und Staat und die Brüche, die die Revolte gegen die Verwertungsbedingungen, sei sie auch noch so blind und ihrer selbst kaum bewußt, ermöglichen, müssen auch kritische Einwände gegen jene Arbeiterbewegung zur Sprachekommen, die selber mit ihren Organisationen, ihrer Forderung nach Disziplin in Partei, gewerkschaftlicher Organisation, Arbeitsprozess und Reproduktionsalltag, ihren politischen und sozialen Integrationsforderungen, ihrem produktivistischen und im Kern etatistischen Denkweisen nicht nur die Klassenkämpfe strukturierte und effektiv durchorganisierte, sondern auch ein Moment der Disziplinierung der ArbeiterInnen war. Gemeint ist hier speziell die Sozialdemokratie, deren etatistisches und den ungezügelten Ausdrucksformen proletarischer Subjektivität zutiefst misstrauisch begegnendes Politikverständnis letztlich in radikalisierter Form widergespiegelt und reproduziert wurde von den „leninistischen“ Parteitypen, die ihren Kulminationspunkt in der Arbeits- und Staatsvergottung des Stalinismus erreichten. „Arbeiterbewegung“ und ArbeiterInnenklasse sind dabei, dies sei vorausgesetzt, nicht eins, sondern die Arbeiterbewegung war vielmehr (und ist, so sie in Rudimenten noch besteht) ein komplexes Gebilde von Wertvorstellungen, Organisationstraditionen und Menschen mit real recht unterschiedlicher Klassenherkunft, aber einer vereinheitlichten rationalisierten Alltagspraxis. Die Rationalisierung der Alltagsstrukturen, die zahllosen Abstinenzkampagnen, die Orientierung auf die stabile, in vielfältiger Weise sozial und politisch eingebundene proletarische Kleinfamilie, die Suspendierung traditionell als legitim angesehener Formen von Sabotage und Diebstahl am Arbeitsplatz, das war der Preis der bezahlt wurde für die politische Anerkennung der Arbeiterbewegung und die Erkenntnis der Bourgeoisie, dass unter den roten Fahnen des Sozialismus nicht Chaos und die Zerstörung der bürgerlichen Gesellschaft zu erwarten war, sondern respektable Verhandlungspartner und solide systemimmanente Interessenvertretung, die für einen höheren Anteil am surplus soziale Befriedung in den Fabriken und proletarischen Statteilen versprach.

Für die Bourgeoisie ging es im Kern um die Zurichtung und Verfügbarkeit der Ware Arbeitskraft und immer darum, mit den Mitteln der Repression oder der durch die Kirche vermittelten bürgerlichen Moral, den „Classes dangereuses" Herr zu werden. Aus der Sicht kapitalistischer Verwertungsinteressen war dies unabdingbar, denn die Verluste durch Alkoholismus am Arbeitsplatz, Fernbleiben von der Arbeit und andere bewussten oder unbewussten Strategien der Arbeitsvermeideng waren hoch, so hoch, dass etwa noch in den Bergbaugebieten von Südwales um 1850 jede vierte Arbeitsstunde entfiel. Wer nicht in das Fabriksystem integrierbar war und sich, sei es durch Arbeitsunfähigkeit oder Arbeitsverweigerung der kapitalistischen Arbeitsdisziplin entzog, hatte in der Regel mit Strafmassnahmen zu rechnen. „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen", dieses Prinzip ist wesentlich älter als die heute aktuelle Hetze gegen Erwerbslose.

Aber auch innerhalb der LohnarbeiterInnenklasse vollzog sich ab der Mitte des 19. Jahrhunderts ein Bewusstseinswandel. War das Proletariat des vor- und frühindustriellen Kapitalismus noch ein Amalgam aus unterschiedlichsten Lebenslagen und Beschäftigungsstrukturen gewesen, das aus Handwerkern und kleinen Meistern, Fabrikarbeitern, Wäscherinnen und Verlagswebern, Gelegenheitsarbeitern und ehemaligen Bauern bestanden hatte, so schälte sich in der industriellen Neuformierung der kapitalistischen Produktionsweise ein „Kern" von Facharbeitern heraus, um den sich die, lange zeit kaum gewerkschaftlich organisierten Angelernten gruppierten und von dem die Gelegenheits- und Nichtarbeiter mehr und mehr abgetrennt wurden. Auf der Grundlage der Disziplinierung durch die Fabrikarbeit entstand als Gemeinschaftswerk von Kirche Staat und moderner Gewerkschaftsbewegung ein Arbeiterbewusstsein, dass von Identifikation mit dem Arbeitsplatz und Stolz auf die Arbeitsleistung geprägt war, dass in seinen stärksten Ausprägungen auf die Übernahmne der Betriebe durch die Produzenten drängte und den Müßiggang, sowohl den der Kapitalisten als auch den anderer proletarischer und „lumpenproletarischer" Klassensegmente denunzierte.

Karl-Heinz Roth charakterisierte diese Entwicklung, bezogen auf das wilhelminische Deutschland, in seinem Buch „Die andere Arbeiterbewegung“ folgendermaßen:

„In den neuen Investitionsgüterindustrien hat sich eine qualifizierte Schicht der Arbeiterklasse etabliert, die fähig ist, aufgrund des erreichten status quo den Arbeiterantagonismus auf einen reformistischen Vermittlungskomplex mit dem wilhelminischen Kapitalismus zu reduzieren. Die Facharbeiterkader der Maschinenindustrie bringen als einzige Schicht der Klasse einen vereinheitlichten Zusammenhang zwischen Klassenzusammensetzung und Organisationsfrage hervor und beginnen, die gesamte Klasse zu majorisieren. Aber die statische Organisation der Arbeiter-Techniker entspricht keinesfalls der Mobilität und Dynamik der Klasse in ihrer Gesamtheit und geht immer intensiver dazu über, die spezifischen Kampfformen und den alltäglichen Arbeiterantagonismus der Klassenmehrheit, der völlig außerhalb der kapitalistischen Entwicklungsperspektive steht, zu unterdrücken.“6

Roth charakterisiert diese Klassenmehrheit folgendermaßen:

„Im Gegensatz zum Metallarbeiter und zum Beamten des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes identifiziert sie sich nicht mit den Arbeitsabläufen und –inhalten des Produktionsprozesses. Sie ist barbarisch-unzivilisiert, besucht keine Arbeiterbildungsvereine, sie ist unfähig, einen fragwürdigen status quo mit dem Kapital zum Ausgangspunkt von „sozialistischen“ Strategien für eine beschleunigte wirtschaftliche Entwicklung zu machen. Sie ist „Mob“, unberechenbar, agressiv, zu Gewalttaten neigend und „unpolitisch“. Ihre Fluktuationsraten sind hoch, ihrer Zusammensetzung nach ist sie ein Vielvölkergemisch. Mit Zuchthausvorlagen und Sozialistengesetzen ist ihr nicht beizukommen.“ 7

Auch wenn in Roths Buch von 1973 die Tendenz unübersehbar ist, die Protagonisten dieser „anderen Arbeiterbewegung“ zu verabsolutieren und ein neues revolutionäres Subjekt zu kreieren, dass gewissermaßen historisch dem fordistischen Massenarbeiter vorausgeht und den Kämpfen der operaistischen Gruppen eine historisch verbürgte Legitimität verleiht, wobei dann bestimmte Widersprüche ausgeblendet werden, ist es dennoch ein Verdienst, die Lebensäußerungen und Kampfformen jener diffusen Klassenmehrheit jenseits des Organisationshorizonts von Sozialdemokratie und ADGB-Gewerkschaften dem Vergessen entrissen zu haben und eine Analyse der in diesem Kontext geführten Klassenkämpfe im Prozess der kapitalistischen Entwicklung in Deutschland vorgelegt zu haben.

Die ökonomisch durch den Facharbeiter und politisch durch die Sozialdemokratie und ihre Gewerkschaften repräsentierte Form des Klassenbewusstseins ist mit dem Ende des Fordismus im Zerfall begriffen, war aber niemals charakteristisch für das Verhältnis der gesamten Klasse zur Lohnarbeit. Die davon ausgeschlossenen Teile des Proletariats haben zu bestimmten Zeiten andere Kampf- und Bewusstseinsformen entwickelt, für die die operaistische Losung vom „Kampf gegen die Arbeit" wohl eines der extremsten, aber durchaus kein völlig uncharakteristisches Beispiel ist. Die von den dominierenden Teilen der Arbeiterbewegung verinnerlichte Arbeitsideologie jedoch mündete nicht selten in offenen Terror gegen „Asoziale". So konnten etwa die von sozialdemokratischen Innenministern in Hessen-Darmstadt entwickelten Gesetze gegen „Landstreicher" und „Vagabunden" problemlos 1933 von den Nazis übernommen und ausgebaut werden.

Diese Denunziation der Nicht-Integrierbaren wurde aber auch im sich als revolutionär verstehenden Teil der marxistischen Linken betrieben, wobei der Gebrauch des Begriffs „Lumpenproletariat" offensichtlich keiner systematischen Definition folgt und mitunter widersrüchlich ist. Bezeichnend dafür ist die folgende Aussage von Friedrich Engels:

„Das Lumpenproletariat, dieser Abhub der verkommenen Subjekte aller Klassen, der sein Hauptquartier in den großen Städten aufschlägt, ist von allen möglichen Bundesgenossen der schlimmste. Dies Gesindel ist absolut käuflich und absolut zudringlich. Wenn die französischen Alheiter bei jeder Revolution an die Häuser schrieben: Mori auxvaleurs! Tod den Dieben und auch manche erschossen, so geschah das nicht aus Begeisterung für das Eigentum, sondern in der richtigen Erkenntnis, dass man vor allem sich diese Bande vom Hals halten müsse. Jeder Arbeiterführer der diese Lumpen als Garde verwendet oder sich auf sie stützt, beweist sich schon dadurch als Verräter an der Bewegung." 8

Soweit die Ausrottungsfantasien des Fabrikantensohns aus Wuppertal. Viel systematischere Definitionen haben die „Klassiker" des wissenschaftlichen Kommunismus kaum zu bieten. Bei Marx heißt es z.B. über die Soldaten der provisorischen Regierung von 1848 eher literarisch:

„Sie gehörten größtenteils dem Lumpenproletariat an, dass in allen großen Städten eine vom industriellen Proletariat genau unterschiedene Masse darstellt, ein Rekrutierplatz für Diebe und Verbrecher aller Art, von den Abfällen der Gesellschaft lebend, Leute ohne bestimmten Arbeitszweig, Herumtreiber, gens sans feu et sans aveu, verschieden nach dem Bildungsgrade der Nation der sie angehören, nie den Lazzaronicharakter verleugnend, in dem jugendlichen Alter, worin die provisorische Regierung sie rekrutierte durchaus bestimmbar, der größten Heldentaten und der exaltiertesten Aufopferung fähig, wie der gemeinsten Banditenstreiche und der schmutzigsten Bestechlichkeit." 9

Man spürt förmlich den wohligen Schauer der Marx beim Schreiben dieser Zeilen überfallen haben muß, diese Mischung aus Ekel vor dem Abschaum und kaum eingestandener Bewunderung für den bindungslosen, außerhalb der Gesellschaft stehenden Abenteurer. Und solche, im Nebenbei dahingeworfene Bemerkungen begründeten eine Tradition im Marxismus, die ihre groteskesten Ausdrucksformen u.a. darin fand, dass in den siebziger Jahren verschiedene maoistische aber auch trotzkistische Organisationen GenossInnen die erwerbslos wurden als „lumpenproletarisiert" ausschlossen. Eine klassische Begründung für diese sozialrassistische Ausgrenzung ist die Behauptung, das „Lumpenproletariat“ sei politisch unzuverlässig und im Zweifelsfall Rekrutierungsmasse der Reaktion gegen die Arbeiterbewgung. Daran stimmt zumindest, dass bestimmte Frontorganisationen des deutschen Faschismus, wie die SA, sich neben deklassierten Kleinbürgern auch auf „unpolitische“ und von Verelendung bedrohte Arbeiter stützte, die im Faschismus in erster Linie eine individuelle Aufstiegsperspektive sahen. Dies ist jedoch ganz offensichtlich kein Problem, das in der Existenz eines abstrakt definierten „Lumpenproletariats“ wurzelt, vielmehr manifestiert sich darin die historische Krise der ArbeiterInnenklasse als Ganzer und die Einzäunung der „offiziellen“ Arbeiterbewegung und zwar sowohl ihres sozialdemokratischen wie ihres parteikommunistischen Flügels, in der Schrebergartenmentalität der Partei- und Gewerkschaftsorganisationen. Offensichtlich handelt es sich bei der landläufigen Beschreibung des „Lumpenproletariers" mehr um einen vages Ressentiment als um ein Element von Klassenanalyse. Dafür spricht auch Wal Buchenbergs geradezu irrer Vorschlag, zur Bestimmung dessen was heute das „Lumpenproletariat" sei, die Kriminalitätsstatistiken zu Hilfe zu nehmen und sich dann aus den Tatverdächtigenzahlen von Eigentumsdelikten einen Prozentsatz von 1% an der Erwerbsbevölkerung zusammenzurechnen.10 Dass Eigentumsdelikte kein Markenzeichen des Lumpenproletariats sind, dass es vielmehr auch in Kernbereichen der Lohnbarbeiterklasse immer schon bestimmte Formen von als legitim angesehenen Diebstählen gab, die staatlicherseits lange zeit kaum wirksam vom Ansehen her zu delegitimieren waren, müsste sich eigentlich spätestens seit den bereits vor Jahrzehnten veröffentlichten Untersuchungen über Frachtberaubungen unter Unterschlagungen am Arbeitsplatz im Hamburger Hafen (zwischen 1850 und 1950) herumgesprochen haben. 

4. ArbeiterInnenklasse, „gefährliche Klassen“ und Bewegungen der ArbeiterInnen jenseits des traditionellen Horizonts der „Arbeiterbewegung“

Die Arbeiterbewegung, deren Integrationskraft nie vollständig, in manchen Phasen, etwa im Italien der sechziger und siebziger Jahre sogar stark beeinträchtigt, aber zumindest in Westeuropa noch bis in die neunziger Jahre des 20.Jahrhunderts anhaltend war, liegt nun in den letzten Zügen. An ihr historisches Ende gekommen ist sie, weil ihr die Modernisierungsstrategien des Kapitals und die und die Transformation des bürgerlichen Staates und seines Akkumulationsregimes den Boden entzogen haben. Einher ging damit die seit zwei Generationen spürbare zunehmende Erosion nicht nur der alten industriellen Hochburgen der Sozialdemokratie in Stahlindustrie und Bergbau, sondern auch des produktivistischen Fortschrittsglaubens, der Produktions- und Verhandlungsmacht der organisierten Facharbeiterkerne. Dieser Prozess der Zersetzung der alten, sozialdemokratischdominierten,  Arbeiterbewegung  hat politisch zu einem erkennbaren Rechtsruck geführt und u.a. dazu, dass die Stimmanteile faschistischer Parteien und zugleich die Stimmverluste der Sozialdemokratie bei Wahlen gerade in traditionellen Arbeitervierteln besonders hoch sind. Zu unterscheiden sind drei Verhaltensmuster proletarischer Klassensegmente: 1. die offenkundigen Modernisierungsverlierer, die alten Facharbeiter und ihre sozialen Milieus, haben ihre Abwehrkämpfe zum Erhalt von Arbeitsplätzen, tariflichen Leistungen und sozialer Homogenität in Deutschland in den letzten 15 Jahren weitgehend verloren. Ihre politischen Orientierungen sind mit dem nun vollständigen Wandel der SPD zur Partei der technokratischen Gestaltung der neoliberalen Transformation des Staates ins Wanken gekommen, ihre sozialen Gewissheiten und Bindungen ebenfalls. Sie befinden sich auf einem Weg der Deklassierung, des sozialen Abstiegs. Eine Minderheit dieser alten Facharbeiterkerne reagiert darauf mit der Unterstützung  des neusozialdemokratischen Reformismus der „Linkspartei“/WASG, eine weitere Minderheit verknüpft ihr Schicksal weiterhin mit der SPD als Partei der Macht, die Mehrheit hingegen schweigt und verweigert sich jedem politischen Projekt, aber auch nahezu jeder Solidarisierung innerhalb der Klasse. In politischen Krisenphasen reagieren sie ambivalent und schwankend zwischen dem linkssozialdemokratischen Populismus der Lafontaines und Gysis und faschistischen und chauvinistischen Bewegungen. 2. Die ehemals aufstiegsorientierten jungen urbanen Angestelltensegmente, denen mit dem Zusammenbrechen der „New Economy“  und der massenhaft gemachten aber individualistisch verarbeiteten Erfahrung, dass zwischen einem gutbezahlten Job im Bankensektor und dem ALG-II-Satz mitunter nur ein oder zwei Jahre liegen, reagieren auf das Wegbrechen ihrer Karriereerwartungen mit Pragmatismus und bilden ein Dienstleistungsproletariat, das mittlerweile für sieben Euro Stundenlohn (brutto) die Callcenter füllt und den Zeitarbeitsfirmen ein Reservoir an hochqualifizierten, billigen und willigen Arbeitskräften in den neuen Dienstleistungsindustrien, weitgehend ohne gewerkschaftliches Bewusstsein, beschert. Immer noch „white collar“, aber ohne spürbare Privilegien, die ihre Vorgänger gegenüber der alten industriellen Arbeiterklasse  noch hatten, stehen sie unter verstärktem Druck, reagieren aber überwiegend individualistisch darauf und werden vermutlich eine wie auch immer geartete Form von solidarischem Klassenbewußtsein frühestens dann entwickeln, wenn sich die Erkenntnis durchsetzt, dass ihre momentane Lage kein vorübergehendes Tief ist. 3. Die Kinder der ArbeitsmigrantInnen der letzten 50 Jahre, deren Aufstiegserwartungen sich ebenfalls nicht erfüllt haben, haben im Schulsystem bereits die schlechtesten Karten, stellen mittlerweile den überwiegenden Teil der Absolventen von Haupt- und Realschulen, haben größte Schwierigkeiten, einen Ausbildungsplatz zu bekommen, weil die Verwissenschaftlichung der Produktion in ihren Ausläufern dazu führt, dass auch für einen immer größer werdenden Teil der Ausbildungsberufe das Abitur oder zumindest Fachabitur vorausgesetzt werden. Der Aufstieg in den dahinschmelzenden Facharbeiterkern der Klasse ist ihnen größtenteils ebenso verbaut, wie der in das „white-collar“-Milieu. Übrig bleiben Gelegenheitsarbeiten, Jobs für Un- und Angelernte und etwa die boomende Gesundheits- und Pflegeindustrie, in der angelernte Kräfte für niedrige Stundenlöhne und bei äußerst belastenden Arbeitsbedingungen  massenhaft in Pflegeheimen oder in der ambulanten Pflege gesucht werden. Die Perspektivlosigkeit lebenslanger Schufterei in schmutzigen und mies bezahlten Jobs vor Augen und angesichts der Erfahrung, dass alle Anstrengung, innerhalb des Systems einen bescheidenen Aufstieg zu schaffen, zum Scheitern verurteilt ist, angereichert mit dem Moment der rassistischen Ausgrenzung, sind es diese Jugendlichen (im weitesten Sinne), deren Wut sich noch am ehesten in Gewalt nach außen entlädt.

Natürlich kommen in Frankreich noch einige Faktoren hinzu, die für Deutschland so nicht gelten, etwa die postkoloniale Struktur der Migration und des Umgangs damit, die Ghettoisierung der aus dem Maghreb eingewanderten Bevölkerung in den Vorstädten etc. Tatsache ist aber hier wie dort, dass es innerhalb der momentan geschlagenen und atomisierten ArbeiterInnenklasse auseinanderdriftende Verhaltensweisen gibt, die aus der unterschiedlichen Stellung in der Produktion, dem daraus herrührenden unterschiedlichen Sozialprestige, der rassistischen Segregation nicht nur in den Wohnvierteln, sondern mehr noch auf dem Arbeitsmarkt und dem unterschiedlichen Grad der Desillusionierung herrühren. Kaum eine dieser Lebensäußerungen der Proletarisierten, individuell oder kollektiv, angepasst oder renitent, steht in irgend einem kohärenten Zusammenhang zu den Bewußtseins- und Kampfformen der alten Arbeiterbewegung oder erst recht der moralisierenden, scheinbar jeglichem Klassenbezug entfremdeten Linken. Ob die gesellschaftliche Entwicklung nun in Richtung der Zerklüftung und partiellen Zersetzung der Staatlichkeit gehen wird, also der Transformation zu einem militarisierten Staatsapparat, der in die Viertel der MigrantInnen und des Subproletariats nur noch als Polizeistaat mit bewaffneter Macht interveniert, attackiert von Rackets deren primäres Interesse es wiederum ist, ihr Gangland zu verteidigen, während andere Teile der Lohnabhängigen ihr Heil in autoritären und faschistischen Ordnungsdiskursen suchen, die Linke hat mit diesen Prozessen kaum etwas zu tun.

Aufgabe von Revolutionären ist es jedoch, das Gesamtinteresse der ArbeiterInnenklasse im Blick zu haben, die Entwicklung von Klassenbewusstsein zu fördern und das heißt in der gegenwärtigen Situationen, die Linien  an denen die Unterwerfung der Proletarisierten unter das Verwertungsdiktat des Kapitals brüchig wird, herauszuarbeiten. Hierbei nützt es wenig, die un- und halbbewussten Riots der französischen Vorstadtjungendlichen zu bewussten proletarischen Aufständen umzudichten die eine Perspektive jenseits der Unterwerfung unter das Kapitalverhältnis erkennen lassen, so sehr sie damit auch die Destruktivität des Kapitalismus und den Hass des Proletariats auf seine Lebensbedingungen artikulieren.. Verbreiteter und schädlicher ist jedoch die Angst der Linken vor der Gewalt und dem Chaos der realen „gefährlichen Klassen“. Diese Angst muss überwunden werden und die destruktive Gewalt der Proletarisierten gegen die Symbole der Macht und alles was im Wege herumsteht, muss und kann in konstruktive bewusste Militanz gegen den Staatsapparat und für die soziale Befreiung aller umgemünzt werden, die sich verbindet mit breiten sozialen Bewegungen von unten gegen Kapital und Staat. Dieser Prozess ist langwierig und er ist bisher noch kaum in Gang gekommen, aber er ist notwendig um eine Alternative zur Tretmühle des kapitalistischen Verwertungsprozesses mitsamt seinen Integrations- wie Ausgrenzungsmechanismen wieder in den Blick zu bekommen. 

Anmerkungen
1 Rada Ivekovic: Gefährliche Klassen, Lettres internationales Nr.71
2 Charles Reeves: Wortlose Brandstiftungen, in: FreundInnen der klassenlosen Gesellschaft (Hrsg.): Rauchzeichen aus den Banlieus, Berlin 2006, s. 18f
3 Michel Foucault: Überwachen und Strafen, S.352f
4 Ebd. S. 355
5 Ebd. S. 357
6 Karl-Heinz Roth: Die andere Arbeiterbewegung, München 1975, S.37
7 Ebd.
8  Friedrich Engels: Der deutsche Bauernkrieg, Vorbemerkung, MEW 7, S. 536f
9   Karl Marx: Die Klassenkämpfe in Frankreich, MEW 7, S. 26f
10  siehe Wal Buchenbarg: Die Klassentheorie von Karl Marx, in: Zirkularbrief der Sozialistischen Studienvereinigung Juli/August 2000 S. 4

Editorische Anmerkungen

Den Artikel erhielten wir am 30.4.2006 vom Autor. Der Artikel erscheint auch in Sozialismus oder Barbarei Nr. 15