Am 29. Mai stimmt Frankreich über den
EU-Verfassungsvertrag ab, auf den
sich die 28 Staatschefs der EU sowie der Beitrittskandidaten
Rumänien,
Bulgarien und Türkei am 18. Juni vergangenen Jahres in Rom geeinigt
hatten.
Seit einigen Wochen zeichnet sich ab, dass am Ende eine Mehrheit für
die
Ablehnung des Vertragswerk stimmen könnte. Die zu erwartenden
Gegenstimmen
kommen freilich aus unterschiedlichen politischen Richtungen und
haben
verschiedene Motive.
Am Anfang war...
Am Anfang stand die Arroganz der Macht. Würden
sie in einer Abstimmung über
den Verfassungsvertrag der Europäischen Union befragt, dann könnten
sie
überhaupt nur zustimmen davon war Präsident Jacques Chirac
überzeugt. Denn
"Europa", so dachte und denkt man an der Staatsspitze und in der
Regierung,
ist gleichbedeutend mit unausweichlichen wirtschaftlichen
Sachzwängen, mit
einer notwendigen "Rolle in der Welt", aber auch mit "Frieden seit
1945".
Dagegen zu sein bedeutet demnach die Absage an eine politische
Existenz
"zwischen den Großmächten", an die Vernunft schlechthin wie auch an
den
Frieden und andere hehre Ideale.
Kurzum: Die Frage der Annahme oder Ablehnung des
Verfassungsvertrags zum
Gegenstand einer Volksabstimmung zu machen, erschien Chirac als
geeignetes
Mittel, um sich ein Plebiszit zu gönnen. Das Ergebnis des
Referendums, das
unausweichlich positiv ausfallen müsse, würde auch als persönliche
Bestätigung des Präsidenten erscheinen, der den Gegenstand zur
Abstimmung
vorlegte. Und so entschied Chirac sich im Sommer vorigen Jahres
gegen eine
parlamentarische Ratifizierung des Verfassungsvertrags und zugunsten
eines
Referendums. Eine solche Abstimmung war freilich auch von einem Teil
der
Linken verlangt worden, wo man die Bestimmungen des
Verfassungsvertrags bis
in die Reihen der Sozialistischen Partei hinein kritisch bewertete.
Umso
besser, dachte sich Jacques Chirac: Die Sozialisten gespalten zu
sehen das
bleiben sie bis heute - und gleichzeitig den
bürgerlich-konservativen Block
hinter dem Vertragswerk vereint zu wissen, erschien ihm als eine
umso
angenehmere Aussicht.
Nicht einmal Argumente glaubten Chirac und seine
Gefolgsleute zunächst nötig
zu haben. Anlässlich eines Besuchs bei der jährlichen
Landwirtschaftsmesse
in Paris einer der Lieblingsorte Chiracs, der seine Karriere
dereinst in
den 60er Jahren als Landwirtschaftsminister begann fragte ein Mann
im
Februar den Präsidenten, was dieser denn dazu meine, falls er bei
der
Abstimmung mit Nein stimmen wolle. "Sie würden eine ordentliche
Dummheit
machen" lautete die einzige Antwort Chiracs. Opponenten sind
Idioten: Die
Replik des Staatschef machte alsbald Furore.
Und dann kam der saubere Herr Bolkestein
dazwischen
Doch dann kam alles anders. Ab März kippte die
Mehrheit in den Umfragen, die
bis dahin bei stabilen Zustimmungswerten um die 60 Prozent zum
Verfassungsvertrag gelegen hatten. Dazu trug die von Linken und
Gewerkschaftern aufgebrachte Debatte um die
Dienstleistungs-Richtlinie des
ehemaligen EU-Kommissars Frits Bolkestein erheblich bei. Deshalb
wurde die
umstrittene Richtlinie von der ein erhebliches Sozialdumping
befürchtet
wurde, da sie vorsieht, dass Dienstleister europaweit zu arbeits-
und
sozialrechtlichen Standards ihres jeweiligen Herkunftslands tätig
werden
können in Brüssel zunächst bis nach dem französischen
Abstimmungstermin
auf Eis gelegt; sie soll jetzt im Sommer debattiert und im September
verabschiedet werden. Präsident Jacques Chirac durfte das zu Hause
als
persönlichen Erfolg verkaufen, obwohl die gesamte EU-Spitze in
Brüssel Mitte
März beschlossen hatte, so zu verfahren, um die Annahme des
Verfassungsvertrags in Frankreich nicht zu gefährden.
Zwar ist der Richtlinien-Entwurf nicht vom Tisch,
wie Chirac zunächst
behauptete, sondern nur seine Annahme ist verzögert worden, und am
Text
werden einige Überarbeitungen vorgenommen werden. Aber Chirac
behauptet
einstweilen einfach mal drauf los: "Eine gründliche Überarbeitung
ist
identisch mit dem Rückzug der Richtlinie". Auch ansonsten versucht
er die
neoliberale Realität der EU vorerst zu kaschieren. Ein Auftritt des
rechtsliberalen Kommissionspräsidenten José Manuel Barroso im
französischen
öffentlichen Fernsehen, der am 21. April geplant war, musste auf
persönliche
Intervention des Präsidenten hin abgesagt werden: Chirac wollte
nicht, dass
der ungeschminkte marktfundamentalistische Diskurs des amtierenden
Kommissionspräsidenten ihm alle Bemühungen, den Ausgang des
Referendums zu
beeinflussen, zunichte mache.
Den Herrn Bolkestein konnte der Präsident dagegen
nicht am Reden hindern,
auch wenn er es besser getan hätte: Der niederländische ehemalige
EU-Kommissar hat ein Haus in Nordfrankreich, nahe der belgischen
Grenze. Er
beschwerte sich jüngst lautstark darüber, es sei so schwierig, für
die
Instandhaltung seines Hauses in notwendiger Kürze Personal (er
nannte
Elektriker und Klemptner) zu bekommen, als ob er keine "Gelben
Seiten"
aufschlagen könnte. Allgemein wurde sein Herumpöbeln so verstanden,
dass ihm
das Personal nicht billig und willig genug sei. Die
Elekrizitätsarbeiter der
CGT Energie drehten dem feinen Herrn deswegen Anfang April
kurzfristig den
Saft ab.
Die Gewerkschaften und das Referendum
Zunächst hatte man seitens der Regierung geglaubt, zumindest auf das
Stillhalten der Gewerkschaften hoffen zu dürfen. Der Europäische
Gewerkschaftsbund (EGB), eine an die EU-Kommission angekoppelte
Lobbyorganisation, hatte vorab den Entwurf des Verfassungsvertrags
unterstützt. Nun stellt der EGB zwar nicht wirklich eine soziale
Bewegung
dar, sondern eher einen bürokratischen Wasserkopf mit etwa 40
Hauptamtlichen, der auf die Brüsseler Institutionen Einfluss zu
nehmen
versucht. Aber fast alle Gewerkschaften in Europa, die nicht von der
Entwicklung abgehängt werden wollen, sind in ihm Mitglied oder
streben eine
Mitgliedschaft an. Die französische "postkommunistische" CGT ist,
nach
längeren Verhandlungen, 1999 aufgenommen worden. Deswegen wurde von
ihr auch
ein "konstruktives" Verhalten erwartet.
Doch dann rebellierten bedeutende Teile die Basis
sowie der mittleren
Funktionärsebene, die beim neuen sozialpartnerschaftlichen
"Modernisierungs"-Kurs der Verbandsspitze unter Bernard Thibault
nicht
mitziehen will. Am 2. Februar beschloss eine Verbandstagung der CGT
mit
einer Mehrheit von über 82 Prozent der Delegierten, zum "Nein" beim
Referendum aufzurufen. Die "eigene" Führung unter Generalsekretär
Thibault
geißelte daraufhin wochenlang den Beschluss in allen bürgerlichen
Medien als
Vergewaltigung des Gewissens der "einfachen" Mitglieder, die nicht
gefragt
worden seien als ob das bei anderen Entscheidungen eher der Fall
wäre
und die von ihren Funktionären manipuliert würden. Dabei hatten
viele der
Delegierten bei der Abstimmung ein imperatives Mandat ihrer
Branchen- oder
Ortsverbände, und die Befürworter des Verfassungsvertrags kann man
an der
Basis der CGT mit der Lupe suchen.
Doch das tat der Entschlossenheit keinen Abbruch.
Bei der europaweiten
Gewerkschafterdemo gegen die Bolkestein-Richtlinie, Mitte März in
Brüssel,
reisten 15.000 bis 20.000 Demonstranten der CGT an, die zahllose
Transparente gegen den Verfassungsvertrag trugen. Aber seitens der
rechtssozialdemokratischen CFDT, die auf dem Papier fast ebenso
viele
Mitglieder zählt, waren nur 700 bis 1000 Demonstranten oft
hauptamtliche
Funktionäre - angereist, die unter Pfiffen und Buhrufen mit
Aufklebern
zugunsten des Verfassungsvertrags marschierten. Den diesjährigen
Demonstrationen zum 1. Mai blieb die CFDT, als zweitgrößter
Gewerkschaftsbund in Frankreich, gleich ganz fern: Sie wolle keine
"Veranstaltung für das Nein zur EU-Verfassung" unterstützen, lautete
die
offizielle Begründung. Damit hatte ihr pro-neoliberaler
Funktionärskader die
Stimmung in den Straßenumzügen wohl richtig eingeschätzt.
Das Jojo-Spiel der Umfragen
Seit März lag das "Nein" in insgesamt dreißig
aufeinander folgenden Umfragen
zu den Abstimmungsabsichten in Führung, die Ablehnungswerte lagen
wochenlang
zwischen 52 und 58 Prozent der Befragten. Doch Anfang Mai trat
erneut ein
gewisser Umschwung ein, und in den letzten Wochen ließ sich kaum
noch mit
Sicherheit voraussagen, wie die Abstimmung ausgehen werde. In den
Befragungen lag mal die eine und mal die andere Position vorne.
Der leichte Aufschwung zugunsten der Befürworter
hing damit zusammen, dass
die großen staatstragenden Parteien und vor allem die beiden
konservativ-liberalen Formationen die Regierungspartei UMP und die
christdemokratische UDF ihre Anhängerschaft zu mobilisieren
beginnen.
Dabei zeigte sich eine starke soziale Polarisierung in den
Umfrageergebnissen: Während 85 Prozent der leitenden und höheren
Angestellten mit "Ja" zu stimmen beabsichtigen, tendieren drei
Viertel der
Arbeiter und eine deutliche Mehrheit "einfachen" Angestellten zur
Ablehnung
des Verfassungsvertrags. Die Wählerschaft der KP zeigt sich, neben
jener der
extremen Rechten, mit über 90 Prozent als stärkste Bastion des
"Nein"-Lagers. Dagegen ist die sozialistische Wählerschaft in zwei
genau
gleich große Hälften gespalten.
Auch die intensive Medienpropaganda spielte eine
Rolle dabei, dass die
Befürworter wieder an Terrain gewannen. Selbst nach offiziellen
Angaben der
Fernseh-Aufsichtsbehörde CSA haben in den letzten Wochen die
Unterstützer
des Verfassungsvertrags drei Viertel der Sendezeit eingenommen. Und
dabei
zählt der "Hohe Fernsehrat" CSA die Auftritte von Präsident Chirac
nicht
einmal mit, da dieser nach den Spielregeln der Aufsichtsbehörden als
"über
den politischen Lagern stehend" gilt.
Dagegen hat der Streit um den Pfingstmontag, der
in diesem Jahr erstmals in
Frankreich als gesetzlicher Feiertag abgeschafft und zum
Pflichtarbeitstag
gemacht wurde, in den letzten Tagen den Pegel des sozialen Unmuts
stark
ansteigen lassen. Auch damit wird erklärt, dass der Anteil der
Stimmabsichten für das "Nein" am vorigen Wochenende wieder auf 54
Prozent
gestiegen war. Die Regierungspolitik, die sich bei antisozialen
Maßnahmen
gar zu gern auf "Druck aus Brüssel" beruft, und der Inhalt der
EU-Politik
werden von vielen Vertragsgegnern weitgehend miteinander
identifiziert.
Fortschritt für Grundrechte oder nicht?
Die Anhänger des Vertragswerks stellen in ihrer
Abstimmungskampagne vor
allem darauf ab, dass der Vertragswerk eine Grundrechts-Charta
enthalte und
die Rechte des Europäischen Parlaments ausdehne. Dabei wird aber
auch
künftig das so genannte Europaparlament nicht das gesetzgeberische
Initiativrecht besitzen: Entwürfe für Richtlinien und Verordnungen
können
weiterhin nur vom Ministerrat und der EU-Kommission, als Vertreter
der
nationalen Regierungen und der Brüsseler Exekutive, vorgelegt
werden. Von
einer Demokratie auf Unionsebene kann damit weiterhin keine Rede
sein. Die
Grundrechts-Charta fällt in weiten Teilen hinter den
UN-Menschenrechtspakt
und andere internationale Bestimmungen zurück und beschränkt sich an
vielen
Stellen auf wohlklingende Allgemeinplätze. So hat die Unionsbürgerin
künftig
zwar ein "Recht auf Zugang zu Gesundheitseinrichtungen", was die
Frage offen
lässt, ob sie die Versorgung dann bezahlen kann oder nicht aber
eben kein
materielles "Recht auf Gesundheit", das die Politik zu garantieren
hätte.
Ähnlich sieht es in anderen Bereichen aus.
Wovon die Befürworter hingegen in der
Öffentlichkeit kaum reden, ist das
dritte Kapitel der EU-Verfassung, das aber das bei weitem
umfangsreichste
ist und rund 70 Prozent des Vertragswerks ausmacht. Dieses enthält
eine
große Anzahl konkreter Bestimmungen, die dazu dienen, eine konkrete
Politik
festzuschreiben, die man als marktradikalen Wirtschaftsliberalismus
beschreiben kann. Das Wort "Wettbewerb", das 174 mal vorkommt, ist
eines der
mit Abstand am häufigsten im Text vorkommenden. Kritiker wie der
frühere
hohe EU-Beamte Yves Salesse, der heute dem linken 'Think Thank'
namens
Fondation Copernic (Kopernikus-Stiftung) angehört, monieren, eine
Verfassung
habe normalerweise nur den institutionellen Rahmen einer Politik
abzustecken. Aber sie habe eben nicht dazu zu dienen, die Inhalte
der
Politik selbst vorzugeben, also etwa, ob es sich um eine
sozialistische oder
marktliberale Politik zu handeln habe. Dies erscheine um so
gravierender,
als die so genannte Verfassung zwar in Wirklichkeit nur ein
zwischenstaatlicher Vertrag sei, der aber nur bei Einstimmigkeit der
Mitgliedsländer wieder abgeändert werden kann - bei 25 oder mehr
Staaten
quasi ein Ding der Unmöglichkeit.
Damit fällt auch das Argument vieler Befürworter
vor allem bei Sozialisten
und Grünen in sich zusammen. Diese betonen in ihrem Abstimmungskampf
häufig,
der Verfassungsvertrag sei zwar in ihren Augen "nicht optimal", aber
besser
als keiner, und man könne ihn "als ersten Schritt betrachten, dessen
Inhalt
man später noch verbessern kann".
Zwei grundverschiedene "Neins"
Die Kritik an dem Vertragswerk kommt aber in
Wirklichkeit aus zwei
unterschiedlichen Richtungen, denn es gibt ein "Nein von links"
ebenso wie
ein "Nein von rechts", dessen Vertreter sich auch in der
Öffentlichkeit
nicht vermischen und getrennte Kampagnen betreiben. Letzteres wird
vor allem
von dem Rechtsextremen Jean-Marie Le Pen und dem katholischen
Nationalkonservativen Graf Philippe de Villiers vertreten. Beiden
"Neins"
liegt eine jeweils spezifische Fragestellung zugrunde.
Die Frage, die hinter dem linken Nein steht,
ließe sich so formulieren:
"Nach welcher gesellschaftlichen Logik soll das Zusammenleben von
400
Millionen oder mehr Menschen funktionieren?" Dabei wird eine Logik
des
Wettbewerbs und der Anpassung sozialer Standards "nach unten" strikt
abgelehnt, dagegen wird "eine Angleichung sozialer und
demokratischer
Standards nach oben" gefordert. Eine solche Anpassung nach oben habe
noch
bei der Aufnahme Spaniens und Portugals in die damalige EG 1986
stattgefunden, heute dagegen werde von offizieller Seite eher eine
Logik des
neoliberalen Sozialdumpings favorisiert.
Dagegen lautet die Fragestellung der rechten
Verfassungsgegner: "Wer darf in
Europa sein, und wer muss draußen bleiben?" Eine absolut zentrale
Stellung
nimmt dabei die Frage eines künftigen EU-Beitritts der Türkei ein.
Dessen
Ablehnung macht einen großen Teil der rechten Nein-Kampagne aus,
während auf
der Linken etwa die KP, die trotzkistisch-undogmatische LCR und der
linke
Flügel der Grünen explizit eine Aufnahme der Türkei befürworten,
falls diese
demokratische Mindeststandards erfülle und den Genozid der Armenier
endlich
anerkenne. Beim Aufmarsch von 3 000 Le Pen-Anhängern am 1. Mai
dieses Jahres
war eines der beliebtesten Motive etwa das der russischen Puppe
mit
Aufschrift "Verfassung" und den EU-Sternen -, aus der ein bärtiger
Türke zum
Vorschein kommt, begleitet von der Aufschrift "Islam raus aus
Europa". Und
in einem Flugblatt der Rechtsextremen, das am Pfingstmontag verteilt
wurde,
wird die Beitritt zum Front National mit folgenden Worten empfohlen:
"Für
ein Europa ohne Türkei: Werden Sie Mitglied." In eine ähnliche Kerbe
schlägt
auch der bürgerliche Rechtskatholik Graf de Villiers.
Die rechten Gegner der EU-Verfassung können das
Rennen auf jeden Fall nicht
entscheiden. Denn in den letzten zwei Jahrzehnten gab es in
Frankreich ein
stabiles Wählerpotenzial von gut 15 Prozent rechter "Europa"-Gegner,
das
sich Le Pen und de Villiers teilten wenn der eine erstarkte, ging
der
Anteil des anderen zurück und umgekehrt. Dieses Potenzial existiert,
kann
die Abstimmung aber nicht entscheiden. Entschieden wird die
Niederlage oder
Annahme des Vertrages mit den linken und gewerkschaftlichen Stimmen,
vor
allem aber durch die Verteilung des sozialistischen
Wählerpotenzials, das
zur Zeit in zwei gleich große Hälften gespalten zu sein scheint.
Doch die
konservative Regierung und mehr noch sozialdemokratische
Parteiführung
versuchen derzeit, Le Pen als Schreckgespenst zu
instrumentalisieren, um vor
allem das linksliberale und gebildete Publikum zur Zustimmung zu
bewegen:
Ein Sieg des Nein am 29. Mai stelle einen Erfolg des "Populismus"
und damit
Jean-Marie Le Pens dar, behaupten sie landauf landab. Dabei macht Le
Pen
noch nicht einmal sehr viel Wahlkampf, da er zu altern beginnt und
seine
Partei die er streng monarchisch führt in einer schweren
Übergangskrise
steckt, weil die Frage seiner offensichtlich anstehenden Nachfolge
nicht
geregelt ist.
Für den offiziellen Fernsehwahlkampf in den
letzten zwei Wochen vor der
Abstimmung, der am Pfingstmontag begonnen hat, wählte die Regierung
vier
Parteien als offzielle Vertreter des "Nein" aus. Drei von ihnen sind
national-autoritäre bis rechtsextreme Parteien, allein die KP soll
von links
her für die Ablehnung werben. Letztere will allerdings die Hälfte
ihrer
Sendezeit mit anderen progressiven Vertragsgegnern teilen, um
wenigstens ein
bisschen Pluralismus einkehren zu lassen.
___________
ZUSATZ:
AKTUELL IN BRÜSSEL:
"Europo" und die Arbeitszeit
Vor dem französischen Referendum ziert man
sich ein bisschen im Streit um
die Richtlinie
Es ist kein Geheimnis (für diejenigen, die es
wissen wollen) dass mehrere
Entwürfe für wirtschaftsliberale und antisoziale EU-Richtlinien
derzeit in
den Schubladen schlummern und darauf warten, nach dem
französischen und
dem niederländischen Referendum ab Juni hervorgeholt zu werden. Die
französische KP-nahe Tageszeitung "L¹Humanité" vom 12. Mai zitiert
ihrer
sechs. Es geht um die Privatisierung bzw. Wettbewerbs-Öffnung des
Personentransports (nach der bereits begonnenen beim
Gütertransport); um
jene der Häfen; um das Patentrecht bei Computerprogrammen, wo den
kostenlosen Programmen à la Linux der Garaus bereitet werden
könnte... Und
natürlich wartet die nur vorläufig zurückgenommene
Dienstleistungs-Richtlinie des Herrn Frits Bolkestein darauf, nach
den
bevorstehenden Abstimmungen wieder auf den Tisch gelegt zu werden.
Dagegen debattierte das Europäische "Parlament"
in Brüssel (in
Anführungszeichen deswegen, weil es keinerlei eigenes
Gesetzgebungs-Initiativrecht besitzt, was ein Parlament
normalerweise
ausmacht) am Mittwoch, 11. Mai über die Arbeitszeit-Richtlinie.
Es handelt sich um eine Überarbeitung der seit
1993 auf EU-Ebene geltenden
Bestimmungen. Diese sehen bisher vor, dass die Arbeitszeit (sofern
keine
günstigeren nationalen Bestimmungen bestehen) nicht die
durchschnittliche
Dauer von 48 Stunden überschreiten darf. Dabei soll die
Durchschnittsdauer
über einen Zeitraum von 4 Monaten als Bewertungsgrundlage genommen
werden.
Gleichzeitig sieht das bisher geltende EU-Recht einen "opt-out"
genannten
Mechanismus vor: Demnach können abhängig Beschäftigte in ihrem
Einzelarbeitsvertrag individuell auf die Einhaltung der
Arbeitszeit-Obergrenze "verzichten". Das ist in mehreren EU-Ländern
(darunter Deutschland, Frankreich und Spanien) derzeit im
öffentlichen
Krankenhauswesen vielfach der Fall.
Insbesondere Großbritannien wendet diesen "Opt
out"-Mechanismus exzessiv an.
In vielen Sektoren haben die Lohnabhängigen natürlich nicht die
Wahl, sofern
sie einen Arbeitsplatz "erhalten" bzw. nicht verlieren wollen, und
so
arbeiten manche britischen Lohnabhängigen bis zu 70 Stunden pro
Woche. Dies
ist auf der Insel heute vor allem an den beiden entgegen gesetzten
Enden des
Lohnabhängigen-Spektrums der Fall: Einerseits bei den Brokern der
Londoner
City und den hoch bezahlten Angestellten von Marketing- und
Werbeagenturen,
andererseits bei Arbeitern auf dem Bau, Hotelangestellten und
Saisonarbeitern in der Landwirtschaft. Insgesamt sind in
Großbritannien 4
Millionen Menschen vom "Opt-out" betroffen.
Das Votum vom Mittwoch
Die Neuregelung, über die das Europa"parlament"
am vorigen Mittwoch (11.
Mai) abzustimmen hatte, wirkt in zweierlei Richtungen. Einerseits
wird die
Referenzperiode, für welche die durchschnittliche Wochenarbeitszeit
berechnet werden soll, von derzeit 4 Monaten auf künftig 12 Monate
ausgedehnt. Damit muss die Obergrenze von 48 Stunden nur noch "auf¹s
Jahr"
erreicht werden, was den Arbeitgebern bereits eine weitgehende
Flexibilität
im Umgang mit "ihren" Arbeitskräften ermöglicht.
Andererseits soll, so lautete der von dem
spanischen Sozialisten Alejandro
Cercas vorgeschlagene "Kompromiss", der Opt out-Mechanismus bis zum
1.
Januar 2010 verschwinden. Bis dahin wird eine neue Obergrenze
festgelegt,
die bei 65 Stunden Wochenarbeitszeit fixiert ist (für jene
Beschäftigten,
die von den "individuellen Ausnahmen" nach dem Opt out-Prinzip
betroffen
sind). Und schließlich enthält das "Kompromisspaket" auch die
Einigung über
die Bezahlung bon so genanntem Bereitschaftsdienst; das betrifft
beispielsweise Ärzte, Krankenschwestern und manche Nachtwächter, die
während dieser Periode zwar im Prinzip nicht aktiv arbeiten, aber
jederzeit
herbeigerufen oder wachgeklingelt werden können. Dieser
Bereitschaftsdienst
soll zwar künftig im Prinzip als Arbeitszeit gelten und auch bezahlt
werden,
aber nach einem Umrechnungsmodus, bei dem jedem EU-Land freigestellt
ist, ob
es einen zwölfstündigen Bereitschaftsdienst "als 10 Stunden, 5
Stunden oder
auch 2 Stunden Arbeitszeit", so die französische sozialistische
EU-Parlamentarierin Françoise Castex.
Dieses "Kompromisspaket" erhielt am Mittwoch eine
Mehrheit von 378 Stimmen
gegen 262. Es ist offenkundig, dass das Zustandekommen eines solchen
Mehrheitsblocks zumindest zum Teil dem Herannahen des französischen
Referendums zu verdanken ist: Aus Frankreich stimmten ihm nicht nur
Sozialisten und Grüne zu, sondern auch die christdemokratische UDF,
die
konservative Regierungspartei UMP und der rechtsextreme Front
National. Die
beiden bürgerlichen Parteien UMP und UDF treten normalerweise
stärker
zugunsten der "Flexibilität" der Arbeitskräfte ein, wollen aber ohne
Zweifel
den Ausgang des Referendums in Frankreich nicht gefährden. Der
rechtsextreme
FN seinerseits ist zwar (anders als UMP und UDF) gegen den
Verfassungsvertrag. Aber gewöhnlich auch gegen Beschränkungen der
Arbeitszeit, denn sein Chef Le Pen ist der festen Auffassung, dass
"die
Arbeit die Würde des Menschen darstellt" (so Jean-Marie Le Pen in
seiner
diesjährigen 1. Mai-Rede, wo er gleichermaßen gegen "Müßiggänger"
und gegen
"vom System, dem herrschenden Euro-Sozialdemokratismus, gewollte und
erzeugte Arbeitslosigkeit" vom Leder zog). Sicherlich wollte auch
der FN
durch ein sozialdemagogisches Stimmverhalten die WählerInnen
zugunsten
seiner Position vor dem Referendum beeinflussen.
So schien vorübergehend fast eitel Einigkeit zu
herrschen mal sehen, wie
es nach dem Referendum darum stehen wird... Dagegen stimmte die
Mehrheit der
Europäischen Vereinigten Linken, in deren Fraktion auch die
französische KP
sitzt, gegen den "Kompromiss", weil dieser noch zu viel anti-soziale
Bestimmungen enthalte. (Der Fraktionsvorsitzende, der französische
Parteikommunist Francis Wurtz, enthielt sich dagegen der Stimme.)
Auch die 19 britischen Labour-Abgeordneten im
Europa"parlament" stimmten für
den "Kompromiss". Dagegen hat die Regierung unter Premierminister
Tony Blair
angekündigt, europaweit eine Kampagne gegen ihn führen zu wollen, um
ihn zu
torpedieren und um die "Opt out"-Regelung beibehalten zu können.
Unter den
Ländern, die auf EU-Ebene mit der britischen Position
übereinstimmen, nennt
die Pariser Abendzeitung "Le Monde" in dieser Reihenfolge:
"Deutschland
(!!), Polen, aber auch die Slowakei, Lettland und Malta".
Welche Konsequenzen?
Welche Folgen wird das Votum vom Mittwoch haben?
Der Beschluss ist auf jeden
Fall nicht bindend. Die Änderungen, die das Europa"parlament" an der
Vorlage
der Kommission (also der Brüsseler Exekutive, des
Technokratenorgans, das
die EU anführt) vorgenommen hat, können vom Ministerrat wieder
gekippt
werden. Nun steht die Ausweitung der Referenzperiode von 4 auf 12
Monate im
Entwurf der Kommission, dagegen ist die Streichung des "Opt
out"-Mechanismus
vom EP vorgenommen worden. Der amtierende EU-Kommissar für Arbeit
und
Beschäftigung, der Tscheche Wladimir Spidla, hat bereits
angekündigt, dass
die Brüsseler Kommission ihrerseits diese Initiative des Parlaments
die
Streichung des "Opt out" nicht akzpetieren wird.
Nur, wenn der Ministerrat (als Vertretung der
nationalen Regierungen) die
Änderung durch das Europa"parlament" einstimmig unterstützt, gilt
diese als
angenommen. Widrigenfalls wird die Änderung gestrichen, kann aber in
einer
zweiten Lesung nochmals vom Europäischen "Parlament" angenommen
werden,
woraufhin sie vor einen Ermittlungsausschuss kommt. Im zweiten
Anlauf trifft
der Änderungsantrag des EP allerdings auf eine höhere Hürde: Die
absolute
Mehrheit der abstimmenden Mitglieder muss mit "Ja" votieren (während
in der
ersten Lesung die "Ja"-Stimmen nur die Zahl der "Nein"-Stimmen
überwiegen
muss, ungeachtet der Enthaltungen und eventuellen ungültigen
Stimmen).
Befürworter der EU-Verfassung unter den
französischen Sozialdemokraten
behaupten derzeit, sie vertrauten darauf, dass eine solche Mehrheit
auch im
zweiten Anlauf erreicht werde. Tatsächlich stimmten 378 Mitglieder
des EP in
erster Lesung dem "Kompromiss" zu, und 367 müssten es im zweiten
Anlauf
sein. Nur: Das zweite Mal wird nach dem Referendum abgestimmt
werden. Ob die
Mehrheitsverhältnisse dann noch so aussehen wie vorgestern...
Abwarten und
Wetten abschließen?
Editorische
Anmerkungen
Der Text wurde uns
vom Autor am 17.5.2005 zur Verfügung gestellt. Eine Kurzfassung
erschien in "Jungle World" vom 11. Mai 2005 und "Die
Wochenzeitung" (WoZ) vom 19. Mai 2005.
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