Frankreich vor der Abstimmung über den EU-Verfassungsvertrag (Teil 1)
Oder: Wie die Anhänger seiner Ratifizierung am liebsten verschwiegen hätten,was in ihm drinsteht...


Von Bernhard Schmid (Paris).
05/05

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Eine Berufsgruppe zumindest ist glücklich über den EU-Verfassungsvertrag, über dessen Annahme oder Ablehnung das französische Wahlvolk am 29. Mai entscheiden wird: die Buchhändler. Gleich neun Buchtitel über den Verfassungsvertrag führten Ende April die französischen Bestsellerlisten an. In den Pariser Kulturkaufhäusern der FNAC-Kette wurde vorübergehend sogar das Themenregal «Gesundheit, Wohlbefinden, Wellness» in der Bücherabteilung abgebaut und durch eine neue Rubrik «EU-Verfassung» ersetzt.  

Nur ein kleiner Teil der Stimmbürger - er wird auf höchstens 10 Prozent geschätzt - hat den Text wirklich vollständig oder in längeren Passagen durchgelesen. Und das wird sich mutmaßlich auch nicht grundlegend ändern, wenn die Regierung in diesen Tagen jedem von 43 Millionen Stimmberechtigten ein eigenes Exemplar des Verfassungsvertrags, versehen mit einer höchst tendenziösen Begründung, in den Briefkasten stecken lässt. Denn der Vertragstext umfasst 448, teilweise äußerst langatmig verfasste Artikel und ist in einer Sprache redigiert, die selbst hauptberufliche Juristen sagen lässt, er sei absolut unverdaulich und wahrscheinlich auch nicht ohne diese Absicht konzipiert.  

«Sowjetisches» Verfassungsprozedere ?  

Lesen, so hätten es die federführenden Mitglieder des Verfassungskonvents unter dem französisch Ex-Staatspräsidenten Valéry Giscard d¹Estaing demnach gewollt, sollten die Bürger hauptsächlich die beiden ersten Kapitel. Diese behandeln die Funktionen der EU-Institutionen sowie die europäische Grundrechts-Charta. Weit weniger zugänglich als diese, relativ knapp und eingänglich formulierten Kapitel ist der dritte Teil des Vertragstexts, der hauptsächlich wirtschaftspolitische Bestimmungen enthält. Doch er umfasst über 70 Prozent des Texts, und in ihm liegt Kritikern zufolge die wahre Brisanz des Vertragswerks: «Er meißelt mindestens für die nächsten 50 Jahre eine wirtschaftsliberale Politik in den Marmor einer so genannten Verfassung ein, die wesentlich schwerer abzuändern sein wird als ein gewöhnlicher zwischenstaatlicher Vertrag» meint etwa Yves Salesses, ein ehemaliger hoher Beamter, der einige Jahre bei der EU und zuletzt im Pariser Verkehrsministerium tätig war.  

Jetzt ist er einer der führenden Köpfe der «Kopernikus-Stiftung» (Fondation Copernic), einer Art überparteilichen, linken und kapitalismuskritischen Think Tanks, dessen Analysen zu den wichtigsten sozial- und wirtschaftspolitischen «Reformen» sich in den letzten Jahren wachsender Beliebtheit erfreuten. Die Fondation Copernic lancierte auch vor im vorigen Jahr den «Aufruf der 200», der zur Abgabe eines dezidiert nicht nationalistischen «Nein zu dieser EU-Verfassung» mobilisieren soll und mittlerweile breite Kreise gezogen hat. Die Stiftung versucht, alle Kräfte auf der Linken zu bündeln, die sich als <anti-libéral> verstehen: Dabei bezeichnet das Wörtchen <libéral> im französischen Sprachgebrauch die Wirtschaftsliberalen und Marktgläubigen, nicht aber die Vertreter jenes Bürgerrechtsliberalismus, der dagegen mit dem Adjektiv <citoyen> belegt wird. <Anti-libéral> bedeutet also keine Ablehnung des politischen, wohl aber des wirtschaftlichen Liberalismus. Dieses Spektrum, das von (im Sinne der deutschen Bezeichnung) linksliberalen Kräften mit Sozialstaatsbezug bis zu den französischen Trotzkisten reicht, ist im Abstimmungskampf um den EU-Verfassungsvertrag nâher zusammengerückt.  

Ähnlich wie Salesse betrachtet der Senator (so nennt man ein Mitglied des parlamentarischen Oberhauses) Jean-Luc Mélenchon, vom linken Parteiflügel der französischen Sozialdemokratie, die Dinge. Seiner Auffassung nach ist es "fast einmalig, wie hier (im dritten Kapitel des Verfassungsvertrags) ein politisch-ideologisches Gesellschaftsmodell einschließlich der Wirtschaftsbeziehungen verbindlich festgeschrieben werden soll. Das gab es bisher nur in der Verfassung der UdSSR, die deswegen im Westen des Totalitarismus gescholten wurde. In der französischen Verfassung jedenfalls wird die Frage der zukünftigen wirtschaftlichen Orientierung offen gelassen und bleibt künftigen politischen Mehrheiten überlassen."  

Schwammige Versprechungen und konkreter Wirtschaftsliberalismus  

Tatsächlich wimmelt es in besagtem dritten Kapitel von Bestimmungen, die eine "freie und unverfälschte Konkurrenz" gewährleisten sollen, eine "hohe Wettbewerbsfähigkeit" der EU-Ökonomien als Ziel festschreiben wollen, in möglichst hohem Maße Dienstleistungen ­ auch solche, die bisher Gegenstand öffentlicher Dienste wie im Gesundheits- und Bildungsbereich waren ­ dem freien Wettbewerb öffnen sollen. Diesen Bestimmungen wird sogar der Charakter von "verfassungsmäßigen Grundrechten", auf die Unternehmen sich berufen können (als ob es sich um Grundrechte von BürgerInnen handele), verliehen. Dem gegenüber formuliert der zweite Abschnitt des Verfassungstexts eine Reihe sozialer Rechte ­ die sich jedoch bei näherem Hinsehen als nicht verbindliche und meist nur auf dem Rang frommer Wünsche stehende, abstrakte Programmsätze entpuppen.  

So ist vom "Recht zu arbeiten und eine Arbeit zu suchen" die Rede, nicht jedoch, anders als in der Präambel der französischen Verfassung, von einem "Recht auf Arbeit". Dieses gilt zwar in Frankreich nicht als verbindliches und vor einem Richter einklagbares Recht. Aber es bildet dennoch ein die staatliche Gewalt in der Ausrichtung ihrer Wirtschaftspolitik grundsätzlich an das Ziel der Vollbeschäftigung bindendes Ziel, das vor dem Verfassungsgericht gegen ein allzu grob dagegen verstoßendes Gesetzesvorhaben geltend gemacht werden kann. Nichts davon findet sich im EU-Verfassungsvertrag. Ähnlich steht es beispielsweise um das "Recht auf Zugang zu gesundheitlichen Versorgungseinrichtungen" (EU-Verfassung), das eben nicht gleichbedeutend mit einem "Recht auf Gesundheit" ist ­ Pech also für all diejenigen in der EU, die zwar prinzipiell einen "Zugang zu gesundheitlichen Versorgungseinrichtungen" hätten, ihn aber leider nicht bezahlen können.  

Nicht sehr viel besser steht es um die demokratischen Grundrechte, die der Vertragstext angeblich mit sich bringt. Bis vor kurzem argumentierten die Befürworter seiner Annahme gern mit dem Petitionsrecht: Angeblich, so behauptete etwa die ehemalige französische EU-Kommissarin Nicole Fontaine noch vor wenigen Wochen, könnten die EU-Bürger ein ihnen nicht genehmes politisches Vorhaben verhindern, wenn nur "eine Million Europäer eine Petition dagegen unterschrieben". Aus dem Argument ist freilich mittlerweile die Luft herausgelassen: Bei einer Fernsehdebatte zwischen dem früheren sozialdemokratischen Europaminister Pierre Moscovici und Olivier Besancenot, dem jungen Ex-Präsidentschaftskandidaten der undogmatischen Trotzkisten, forderte letzterer den Ex-Minister dazu auf, doch bitte einmal den fraglichen Artikel des Vertragstexts vorzulesen.  

Peinlich war es, wie dieser vor laufenden Kameras damit konfrontiert wurde, was der famose Petitions-Artikel tatsächlich enthält: Nämlich nur das Recht, sich zusammen mit 999.999 anderen EU-Bürgern an die Kommission in Brüssel zu wenden mit der Bitte, sich über dieses oder jenes Problem zu beugen. Ob die EU-Kommission sich des Problems dann aber tatsächlich annimmt, geschweige denn was sie in der Sache dazu entscheidet, bleibt ganz allein ihr überlassen. "Früher hatten alle Bürger das Recht, ihren Politikern einen Brief zu schreiben, jetzt müssen sie schon eine Million dafür sein" kommentierte der hauptberufliche Briefträger Besancenot dazu spöttisch. Seitdem schweigen die Befürworter des Verfassungsvertrags sich über ihr früheres Argument lieber aus.  

Der Text selbst ist unbeliebt ­ bei seinen Befürwortern  

Besonders auffällig ist, wie ungern in vielen Texten der Befürworter überhaupt konkrete Textstellen aus dem Vertragswerk zitiert werden ­ und wenn überhaupt, dann tauchen in ihren Flugblättern nur einige wohlklingende, aber unverbindliche Formulierungen aus der Grundrechtscharta auf. In den vierseitigen Faltblättern, die in den letzten Wochen durch die Mehrheitsfraktion der französischen Sozialdemokratie verbreitet werden, wird kein einziger Artikel aus dem Vertragstext unter zitiert oder mit seiner Nummer konkret benannt ­ während die Flugblätter der linken Vertragsgegner über und über mit Artikelnennungen gespickt sind. Die Sozialistische Partei selbst bleibt in der Frage des Verfassungsvertrags gespalten: Eine Urabstimmung der Parteimitglieder im Dezember 2004 ging mit 58 zu 42 Prozent zugunsten der Befürworter aus, was aber den Streit nicht beruhigte. Während es in einer ersten Zeit so aussah, als würden die Gewinner der internen Abstimmung nunmehr allein den Ton während der Kampagne angeben, haben die Vertragskritiker längst ihren eigenen Referendums-Wahlkampf auf die Beine gestellt.  

Für viel böses Blut an der sozialistischen Basis hat im übrigen der gemeinsame Fotoauftritt von Parteichef François Hollande mit dem Parteichef der konservativen UMP Nicolas Sarkozy, dem neuen Shooting Star der politischen Rechten, gesorgt. Beide Politiker ließen sich im März zusammen auf dem Titelblatt der Regenbogenzeitschrift Paris Match abbilden, um für die Annahme des Verfassungsvertrags zu werben: Gleicher Anzug, fast gleiche Krawatte, gleicher Gesichtsausdruck. "Und wir haben geglaubt, eine der Lehren des 21. April 2002 bestehe darin, nie wieder darauf zu setzen, dass die großen Parteien voneinander nicht unterscheidbar und ihre Politik aufgrund der Sachzwänge notwendig identisch sein sollen." An jenem 21. April hatte der Rechtsextremist Jean-Marie Le Pen in der ersten Runde der französischen Präsidentschaftswahl den damaligen sozialdemokratischen Regierungschef Lionel Jospin überraschend überholt, und war in die Stichwahl gegen den Amtsinhaber Jacques Chirac gezogen. Die Ursachenforschung ergab, dass eine eng an den "wirtschaftlichen Sachzwängen" orientierte und in Kernbereichen marktliberale Politik der damaligen Regierungskoalition der Linksparteien diesen viel Boden gekostet hatte. Zahllose Linkswähler und frühere Anhänger der regierenden Sozialisten und Kommunisten waren nicht zur Wahl gegangen oder hatten für die radikale Linke gestimmt, die damals über 10 Prozent der Stimmen erhielt.  

Rechtsradikale als Schreckgespenst der Regierung  

A propos 21. April und Le Pen: Dieses Datum und der am stärksten mit ihm identifizierte Name haben sich ebenfalls in die Verfassungsdebatte eingeladen. Denn ein Teil des politischen Establishments hämmert derzeit in die Köpfe, ein "Nein am 29. Mai" wäre "eine Wiederholung" ­ oder, wie die liberale Abendzeitung Le Monde formulierte, "ein Nachbeben" - jenes 21. April. Die eventuelle Ablehnung des Verfassungsvertrags seit demnach ein Sieg der Nationalisten und Rechtsextremen, zu dem die übrigen Verfassungsgegner allenfalls Zuträgerschaft geleistet hätten. Die Kernaussage dieser Propaganda ist jedoch schlichtweg unwahr: Die Mehrheit der derzeit in den Umfragen zu verzeichnenden "Nein"-Stimmen kommt von Anhängern der Linken und Gewerkschaftern. In diesem Spektrum wird keineswegs "Europa" als solches abgelehnt, wie viele Wortführer des "Nein von links" immer wieder betonen ­ einige, so der sozialdemokratische Parteilinke Mélenchon, waren früher sogar Befürworter der Ratizifizierung des Maastricht-Vertrages -, sondern wollen der supranationalen Politik lediglich einen anderen Inhalt verleihen.  

Daneben existiert auch ein Potenzial rechtsextremer Europa-Gegner, doch ist dieses bei allen Wahlen der letzten zwei Jahrzehnte ungefähr stabil geblieben ­ bei rund 15 Prozent, die zwischen dem Altfaschisten Le Pen und dem Nationalkonservativen Graf Philippe de Villiers aufgeteilt wurden. Beide Rechtsaußenpolitiker machen auch jetzt Wahlkampf gegen den Verfassungsvertrag, auch wenn sie im Grunde am Thema vorbei argumentieren, denn zumindest Graf de Villiers spricht fast ausschließlich von der Ablehnung einer Aufnahme der Türkei in die EU und nicht vom Inhalt des Verfassungsvertrags. Auch Le Pen warnt vornehmlich vor einem türkischen EU-Beitritt als "trojanische(m) Pferd des Islam in Europa" (SIEHE AUCH NACHFOLGENDEN INFO-KASTEN DAZU). Eine eventuelle Mehrheit für die Ablehnung des Vertrags könnte sich aus dem vereinigten Stimmpotenzial der beiden Rechtsausleger aber nicht erklären lassen. Vielmehr wirken die Rechtsradikalen im Moment eher als Wahlagenten der Regierung für das "Ja", da sie dazu benutzt werden, um im linken und linksliberalen Bereich von einer Stimmabgabe gegen den Verfassungsvertrag abzuschrecken.  

Auf der Zielgeraden, also während der 14 Tage vor dem Referendum, in denen sich der offizielle Fernsehwahlkampf abspielt, wird die Regierung die politische Erpressung "Entweder seid Ihr für den Vertrag oder für Le Pen" massiv einzusetzen versuchen. Denn die konservative Regierung von Jean-Pierre Raffarin hat die Parteien, die zum offiziellen Abstimmungskampfs - mit Fernsehspots und öffentlicher Subventionierung ­ zugelassen werden, geschickt unter taktischen Gesichtspunkten ausgesucht. Vier Parteien werden offiziell für das "Ja" werben und vier andere für das "Nein". Unter letzteren befinden sich drei rechtskonservative bis rechtsextreme Parteien, neben der französischen KP. Die Rechtsradikalen sollen also als Schreckgespenst herhalten, um das Vertragsprojekt besser durchsetzen zu können. Ob diese Rechnung allerdings aufgeht, ist zweifelhaft.  

Während im vorigen Winter noch von einer problemlosen Annahme des Vertragswerks durch die französischen Wähler ausgegangen wurden, zeigen die Umfragewerte seit März eine ­ teilweise überdeutliche ­ Mehrheit für das "Nein". Seit dem Wochenende des 1. Mai herrscht dagegen fast Gleichstand in den Umfragen vor der Abstimmung, da die Befürworter des Vertragstexts in der konservativen Wählerschaft, unter Selbstständigen und leitenden Angestellten zugenommen haben. Dagegen bleibt die Ablehung auf der Linken, unter Arbeitern, Landwirten und "einfachen" Landwirten massiv. Nichts zeigt deutlicher die soziale (Klassen-)Polarisierung, die eingetreten ist und offenkundig die Stimmabsichten prägt. So wollen 85 Prozent der Manager und leitenden Angestellten mit "Ja" stimmen, aber nur 25 Prozent der Arbeiter.  

INFO-KASTEN:  

1. Mai und Le Pen-Aufmarsch: Hauptstoß gegen « die Türkei in Europa »  

Wie alljährlich seit 1988, marschierte auch in diesem Jahr der rechtsextreme Front National am Vormittag des 1. Mai in Paris auf, wie immer zu Ehren der « Nationalheiligen » Jeanne d¹Arc (der so genannten Jungfrau von Orléans, die im 15. Jahrhundert die Engländer aus dem Land trieb und dem hundertjährigen Krieg dadurch eine Wendung gab). In diesem Jahr stand die inhaltliche Ausrichtung der Parade, die jeweils einen thematischen Schwerpunkt hat und mit einer gut einstündigen Rede von Jean-Marie Le Pen vor der Pariser Oper abgeschlossen wird, natürlich im Zeichen des Referendums über den EU-Verfassungsvertrag. Entsprechend trug die riesige Graphik, die wie jedes Mal das Operngebäude bedeckte und hinter der Rednertribüne aufgehängt war, in diesem Jahr die Aufschrift: « Jeanne, diejenige, die NEIN sagte ». Das sollte eine Paralle zwischen dem Nein zur damaligen Besetzung Frankreichs im hundertjährigen Krieg und dem heutigen Nein zum EU-Verfassungsvertrag nahe legen.  

Im Vorfeld hatte Le Pen in der Öffentlichkeit und im Fernsehen die Behauptung verbreitet, dabei werde es sich um « die größte Veranstaltung der Gegner des Verfassungsvertrags » handeln. Das war genauso Mumpitz, wie es in mehreren Vorjahren seine Behauptung war, die Teilnehmerzahl an dem rechtsextremen Aufmarsch werde jene an der nachmittäglichen Demo von Gewerkschaften und Linken überflügeln. Das hat noch nie funktioniert, letztere blieben stets zahlenmäßig bei weitem in der Überzahl. So auch in diesem Jahr.  

An der Jeanne d¹Arc-Parade nahmen rund 3.000 Personen teil, das waren noch weniger als in den Vorjahren: Nach der Parteispaltung von 1999 brachte der FN jeweils rund 3.500 bis 4.000 Anhänger auf die Straße, und damit halb so viel wie in davor in den neunziger Jahren. (Eine Ausnahme bildete 2002, wo aufgrund der Präsidentschaftswahl kostenlose Busse für Anhänger zur Verfügung gestellt worden waren und die Teilnehmerzahl an die 10.000 heran reichte.) Die Rechtsextremen marschierten nach regionalen Parteisektionen sortiert auf. Dabei fiel auf, dass viele regionale Sektionen des FN mit weniger Teilnehmern präsent waren, als sie in ihren Reihen an Mandatsträgern (vor allem Kommunalparlamentarier) zählen. Zum Vergleich : Am Nachmittag demonstrierten 15.000 Leute auf der gewerkschaftlichen Demo, wo allerdings die Mobilisierung in diesem Jahr ebenfalls unterdurchschnittlich bzw. relativ schwach ausfiel. Dort war das (nicht nationalistische!) « Nein » zur EU-Verfassung äußerst präsent, auch wenn es nicht im offiziellen 1. Mai-Aufruf stand.  

Die Mobilisierungsdynamik der rechtsextremen Partei bleibt nach wie vor schwach, aufgrund der Übergangskrise, die mit dem Herannahen des altersbedingten Ausscheidens von Le Pen (Parteivorsitzender seit der Gründung von 1972) verbunden ist. Die Frage der Nachfolge ist nach wie vor nicht explizit gelöst, auch wenn der langjährige Parteifunktionär Bruno Gollnisch nunmehr ziemlich gute Aussichten haben dürfte. Erstmals trat anlässlich der 1. Mai-Parade die Tochter des Chefs, Marine Le Pen, die ebenfalls Ambitionen auf die Nachfolge an der Parteispitze hat, wieder in der Öffentlichkeit auf. Sie saß neben Bruno Gollnisch auf dem Podium.  

Inhaltlich stand bei der rechtsextremen Ablehnung des EU-Verfassungsvertrags sehr stark die (angebliche) Frage eines EU-Beitritts der Türkei im Vordergrund. Auf zahlreich mitgeführten Plakaten sah man eine russische Puppe mit der Aufschrift « Verfassung » und den EU-Sternen, die sich öffnete und aus derem Inneren ein bärtiger Türke mit der Aufschrift « Islam » zum Vorschein kam. Während des Aufmarschs riefen die Anhänger « Islam raus aus Europa » und « Chirac, Türkei, Hochverrat », der Jugendblock auch « Terroristen hinrichten, Immigranten raus ».  

Jean-Marie Le Pen malte in seiner Rede die Vision eines « überdehnten, der Sowjetunion ähnlichen, kosmopolitischen, von seinen christlichen Wurzeln abgeschnittenen und vom Islam überschwemmten Europa ». Dieses stelle eine « große weiche Qualle, die zu ihrer Verteidigung unfähig ist », dar. Stattdessen solle ein europäischer Staatenbund souveräner Nationalstaaten angestrebt werden. Ferner tönte er : « Niemand hat das Recht, Frankreich zu veräußern, da es nicht im Besitz der heute auf seinem Boden lebenden Generation steht », sondern auch den Generationen der Vorfahren und Nachkommen gehöre ­ ganz im Sinne einer Vision von der Nation als Blutsgemeinschaft.  

Neben Le Pen und den höchsten FN-Parteifunktionären saßen auch Vertreter anderer rechtsextremer Parteien aus Europa mit auf dem Podium: Nick Griffin, Chef der britischen BNP (British National Party), Vertreter der beiden italienischen Rechtsoppositionsparteien MSI-Fiamma tricolore und Fuerza Nazionale-Alternativa Sociale, ein Repräsentant der polnischen nationalkatholischen Partei KPN und spanische Franco-Anhänger.

Editorische Anmerkungen

Der Text wurde uns vom Autor am 17.5.2005 zur Verfügung gestellt. Eine Kurzfassung erschien in der Wochenzeitung "Freitag" vom 13. Mai 2005