Der freie Westen hat ein Problem mit Russlands Anti-Terror-Krieg:  Putin behauptet Russlands Gewaltmonopol – darf der das?

05/05

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Wenn in der westlichen Hemisphäre ein militanter Angriff das staatliche Gewaltmonopol herausfordert, dann überrascht das Auftauchen ausgefeilter Regierungspläne für diverse repressive Maßnahmen keinen. Ganz im Gegenteil, die Forderungen nach mehr Härte im Kampf gegen Staatsfeinde gehören zum guten Ton. Wenn dagegen in Russland den neueren Aktionen der Dschihadisten mit einer Reihe von Beschlüssen begegnet wird, die zwar in keinem direkten Zusammenhang mit der Geiselnahme in Beslan stehen, deren Inhalt sich aber mit „härter & effektiver kontrollieren“ zusammenfassen lässt, dann ist es für die Demokraten im Westen ein Grund zu tiefer Besorgnis. Was hierzulande als notwendige oder zumindest verständliche Reaktion auf die terroristische Herausforderung durchgeht, soll in Russland eine Ansammlung von sicheren Symptomen für das Abrutschen in die Diktatur sein. Um herauszufinden woran das liegt, lohnt es sich, die Geschehnisse und Verhältnisse „da drüben“ sowie die westlichen Reaktionen drauf genauer unter die Lupe zu nehmen.

Beslan – was war das noch mal?

Pünktlich zum Schuljahresbeginn stürmen mit MGs, Granatwerfern und Sprengstoff bewaffnete Personen eine Schule im nordossetischen Beslan, nehmen Kinder, Lehrer und Eltern als Geiseln und fordern einen Abzug der russischen Truppen aus dem benachbarten Tschetschenien. Feierlich kündigen die Vorkämpfer der tschetschenischen Eigenstaatlichkeit an für jeden getöteten Kameraden 50 Kinder zu ermorden und für jeden verletzten 20. Der russische Präsident wird vor die Alternative gestellt: staatliche Souveränität oder das Leben vieler zum Teil recht junger Staatsbürger opfern. Die Weltöffentlichkeit ist gespannt: „Glücklicherweise haben die Geiselnehmer diesmal Kinder als Geiseln genommen. Das wird es Putin schwer machen stürmen zu lassen.“ (ZDF-Reportage). Doch die Qual der Wahl bleibt dem Staatschef erspart, da es scheinbar zufällig zu einem Schusswechsel zwischen den Geiselnehmern, Spezialeinheiten und den recht gut bewaffneten Beslaner Zivilisten kommt, in dessen Verlauf die Schule gestürmt wird. Es bleiben über 350 Leichen zurück, davon 326 Zivilisten. Die Medien des freien Westen stellen sich allesamt die Frage: Was ist eigentlich los da unten? Die Antwort geben sie sich selbst. 

Imperialistische Länderkunde: z.B. Tschetschenien

Wenn Claudia Roth über ein Land sagt, dort „wurde demokratische Normalität vorgespielt, wo Krieg, Verfolgung, Elend und Repressionen herrschen“, dann ist nicht etwa der Kosovo oder Afghanistan gemeint, sondern Russland, genauer gesagt Tschetschenien. Das liegt im Kaukasus und über diese Weltgegend weiß die demokratische Presse gräuliche Dinge zu berichten. „Dort hat Stalin jeweils zwei extrem unterschiedliche Völker zu Zwangsgemeinschaften zusammengesperrt, die bis heute so existieren“ (Spiegel, 38/2004). „Inguschen und Tschetschenen, die wajnachischen Brüdervölker“ ließ der böse Georgier gar „eine kaukasische Shoa“ (SZ, 11.10.) erleben. Dort tobt der längste Krieg Europas seit 1945, was niemanden zu wundern braucht, den „Es gibt in Moskau keine Tradition Konflikte im Dialog auszutragen“ (taz, 4/5. 09.) Ganz im Gegenteil: „Die Geringschätzung des Lebens zieht sich durch die russische Geschichte bis heute“ (Zeit 38/2004) und sowieso „Russland kennt auch im Umgang mit dem eigenen Volk nur die Sprache der Gewalt“ (noch mal taz). Diesmal haben die brutalen Iwans es auf die Tschetschenen abgesehen. Über die weiß die vierte Gewalt des Westens auch einiges Wissenswertes zu erzählen: „Die Tschetschenen sind ethnisch nicht mit den Russen verwandt, sprechen ihre eigene Sprache, haben eine eigene Kultur und eine andere Religion als die Mehrheit der Russen“ (SZ, 4/5.09.), „die zweithundertjährige gemeinsame Geschichte [mit den Russen] belegt die Unbeugsamkeit dieses Volkes“ (taz), und obwohl die tapferen Bergbewohner „von russischer Soldateska oft bestialisch ermordet worden“ sind (FAZ, 4.09.), leisten sie erbitterten Widerstand gegen die „brutale russische Unterdrückungsmaschinerie“ (FAZ), die sich in letzte Zeit vor allem in Aktionen der „Schwarzen Witwen“ äußert. Diese „Mädchen, die ohne Vater aufwachsen“ (Bild, 2.09.) verüben Selbstmordattentate in der Absicht möglichst viele Feinde (dazu zählen alle Russland gegenüber loyale Tschetschenen sowie die gesamte russische Zivilbevölkerung) in den Tod mitzureißen. All das lässt die westlichen Konfliktbeobachter das Resümee ziehen: „Der tschetschenische Widerstand ist nicht gebrochen“ (Russlandanalysen 39/2004) und Putins Politik im Kaukasus ist gescheitert (alle zusammen). Das letzte sieht der „Kremlchef“ auch so.

Putin vor und nach Beslan – seine Ziele, seine Feinde, seine Mittel

Gleich nach dem Ende der Geiselnahme wendet sich Wladimir Putin an die Untertanen Russlands mit einer Ansprache, in der er die bisherige russische Politik in der kaukasischen Krisenregion für ineffektiv erklärt. Dazu hat er guten Grund. Ihre Rolle als Ordnungsmacht im Gebiet der ehemaligen Sowjetunion büßt die Russische Föderation zunehmend ein. In Transkaukasien sind Georgien und Aserbaidschan zu Brückenköpfen der NATO in der Region geworden und arrangieren sich mehr oder minder verdeckt mit den tschetschenische Rebellen. Die Regierung des einzigen moskaufreundlichen Landes, Armenien, ist von Umsturzbestrebungen der prowestlichen Opposition gefährdet (so wie alle anderen Russenfreunde unter den GUS-Staatschefs). Die EU bleibt gegenüber Versuchen Putins die „Befriedung“ Tschetscheniens als einen Teil des internationalen Feldzuges gegen den Terror zu verkaufen, reserviert. Die Funktionäre der tschetschenischen Rebellenregierung, in der RF als Terroristen gesucht, werden in Europa nicht, wie seinerzeit Herr Öcalan, verhaftet und ausgeliefert, sondern geben eine Pressekonferenz nach der anderen und machen ungehindert Propaganda für die Sezession der „Bergrepublik“. Kurzum, fasst Putin zusammen: „Wir haben Schwäche gezeigt. Und die Schwachen schlägt man.“

Folgerichtig heißt seine Agenda „Stärke zeigen“, was schon sein Motto bei dem Amtsantritt 2000 war aber dann doch nicht so richtig funktionierte. Putin hat damals die Umkehr des Glauben der Jelzin-Zeit – erst den Markt in Ordnung bringen, dann funktioniert auch die Staatsgewalt besser - verkündet. Er stellte fest: Ohne ein ordentliches Gewaltmonopol ist in Russland kein Aufschwung zu machen. Der neue „Russenchef“ kehrte aber nicht vom Programm des Kapitalismusaufbaus ab. Er erkannte, dass die, von konkurrierenden Staaten, aufgestellten Bedingungen, für die Konkurrenzfähigkeit des UdSSR-Überbleibsels oft schädlich sind. Deshalb war zwar kein offener Bruch mit dem Westen, aber mehr politische Selbstständigkeit fällig. Die Wiederherstellung der funktionierenden Staatsgewalt genießt oberste Priorität. Deshalb wurden alle, die diesem Anliegen im Wege standen – hart rangenommen.

Da wären z. B. die Oligarchen, in deren Händen sich die wichtigsten Rohstoffe befinden, und die soviel Einfluss auf die Politik nahmen, dass der Staat seine Rolle als neutraler Aufseher der kapitalistischen Konkurrenz kaum wahrnehmen konnte. Die Geschäfte der Oligarchen mit dem Ausland bringen den russischen Staaten keine Steuergelder. Ihre Dollar-Profite investieren sie nicht in „Wachstum“ der nationalen Wirtschaft, sondern bringen diese stattdessen behutsam ins Ausland. Selbstverständlich ohne sie in Rubel umzutauschen, so dass sich an Russlands Devisen-Defizit nichts ändert. Plötzlich werden die zahlreichen Gesetzesbrüche von Gussinskij, Chodorkowskij usw. die nie ein Geheimnis waren, auch als Gesetzbrüche behandelt. Das entzieht auch gleichzeitig der „rot-braunen“ Opposition ihren wichtigsten Kritikpunkt. Diese meinten immer: Russland sei verkauft worden an eine Handvoll Herren, mit sehr unrussischen Familiennamen und Nasenformen. Wenn der Präsident diese angeblichen Verursacher allen Übels ins Gefängnis werfen lässt, kann die Opposition einpacken. Nationalistische, personalisierende Kapitalismuskritik war deren wichtigstes Movens.

Und da gibt es noch, die Gouverneure, Regionaleliten die in ihren Verwaltungseinheiten sich wie kleine Zaren aufspielten und immer weniger Rücksicht auf die Bedürfnisse des russischen Gesamtstaates nahmen. Die Führungen der nationalen Republiken forderten immer mehr Rechte für ihre „Subjekte der Föderation“ und kokettierten mit Eigenständigkeitsgedanken. Daher die Entscheidung Putins, an den weit und breit radikalsten Separatisten im Lande – den tschetschenischen - einen Exempel zu statuieren. Das begann bereits unter Jelzin, als Putin noch Regierungschef war. Nach dem Einmarsch der Islamisten unter Schamil Basajew in die an Tschetschenien angrenzende Republik Dagestan, sah der russische Staat das Abkommen von 1996 von der Rebellenseite gebrochen. (Siehe Text Tschetschenien) Die damaligen Verhandlungspartner wurden wieder zu Staatsverbrechern erklärt. Das de facto unabhängige Tschetschenien wurde nicht länger toleriert. Stattdessen wurde ein Truppeneinsatz angeordnet, der deutlich machte – Russland lässt sich im Gebrauch der Gewalt nicht von der Tatsache, dass auf eigenem Staatsgebiet und gegen eigene Staatsbürger gekämpft wird, einschränken. Die einen tschetschenischen Warlords wechselten die Seite, die anderen mussten die Städte räumen, und sich in die Berge zurückziehen. Die „Personen kaukasischer Nationalitäten“ (zeitweilig halb-offizieller Teminus) wurden unter verschärftem Generalverdacht Separatisten, Mafiosi, oder beides zu sein, gestellt, und mussten ihre Loyalität zum gesamtrussischen Staat erst beweisen. Der Umgang der einzelnen Repräsentanten der Staatsorgane mit den „Schwarzen“ (so die völkisch-volkstümliche Bezeichnung für „Kaukasier“) fiel entsprechend aus.

An dem Ausmaß der staatlichen Repressionen nimmt wiederum eine kleine, aber im weiteren Teilen des freien Westens sehr geschätzte Gruppe Anstoß – die Menschenrechtler. Die wollen „von unten“ die Kontrolle über die Korrektheit der staatlichen Gewaltvollstreckung ausüben. Der Staat sieht sich dadurch in dem Anliegen, die von ihnen so geliebten Menschenrechte zu gewähren, behindert. So werden solche Vereine zunehmend selbst Opfer der Staatsgewalt. Der russische Staat erklärt offiziell, er sei Ziel eines terroristischen Krieges geworden. Um sich, den Garant der Menschenrechte effektiv verteidigen zu können, müssen die Menschenrechte eingeschränkt werden. Diese brutale Logik der Menschenrechte trägt aber nicht dazu bei, dass die Fans von allerlei Menschenrechten Abstand von ihrem Idealismus nehmen.

So sind die wichtigsten nach Beslan angekündigten Neuerungen nur Verschärfung des bisherigen Kurses, Maßnahmen wie z.B. die Benennung der Gouverneure durch den Präsidenten, das Umstellen der Direktwahlkreise, die zuvor die Hälfte der Duma-Abgeordnete stellten auf ein Verhältniswahlsystem, mehr Kampf gegen Korruption und mehr Spielraum für den Staat beim Verbot von extremistischen Organisationen. Es steht damit die endgültige Entmachtung der Regionalchefs und die staatliche Kontrolle über der Parteilandschaft im Lande bevor. Nicht jeder darf sich mit seinem Wahlverein einfach darum bewerben Land und Leute zu regieren – erst müssen die Behörden die Erfüllung der inzwischen verschärften Auflagen absegnen. Der Präsident bleibt auch und gerade nach Beslan bei seinem Standpunkt – Russlands Rettung ist mit dem Ausbau seiner Kompetenzen verknüpft.   

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Putins Arbeitsprogramm erschöpft sich aber nicht in der Bekämpfung der oben aufgezählten Gruppen. Es geht darum, den größten Staat der Welt zu einer richtigen Wirtschaftsmacht zu machen. Und der Augenblick dafür erscheint recht günstig – die Ölpreise steigen und Russland erlebt damit einen Wirtschaftsaufschwung, bleibt jedoch ein Land welches primär von den Rohstoffexporten abhängig ist. Von den Fertigwaren haben sich vor allem die russischen Waffen auf dem Weltmarkt richtig durchgesetzt. Der Export von solchen Waren ist politisch riskant – wer weiß welcher Abnehmer demnächst den Titel „Schurkenstaat“ verliehen bekommt.

Also muss Russland richtig konkurrenzfähig werden. Der neue Staatschef will nicht bloß Aufgrund der Restbestände des sowjetischen Atomarsenals zu den G8-Treffen eingeladen werden. Putin, den die Liberalen in Inn- und Ausland als heimlichen Kommunisten verdammen, räumt radikal auf mit den Überbleibseln des sowjetischen Sozialsystems. Im Jahr 2004 verloren die Rentner ihre „Vergünstigungen“ (kostenlos mit ÖVM fahren usw.) und sollen stattdessen „individuell“ berechnete Geldsummen bekommen. Dass es sich beim angekündigten Umrechnen der Vergünstigungen in Geldsummen in Wirklichkeit um Kürzungen handelt, ist kein Geheimnis. Wer nicht so oft Bus fährt, braucht keine kostenlose Fahrtickets. Auch das Telefonieren zur festen Grundgebühr war gestern. Von nun an sollen „die Russen“ für jede Sekunde extra bezahlen – ganz wie im Westen halt. Das selbe Spiel im Gesundheitswesen – da soll jeder „Iwan“ sich jetzt individuell versichern. Und was Bildung angeht – ist Russland seit letztem Jahr ein gleichberechtigter Teilnehmer des Bologna-Prozesses. In den russischen Medien war anlässlich solchen Sozialreformen feierlich vom „endgültigen Ende des Sozialismus“ die Rede.

Die westlichen Partner Russlands sind allerdings alles andere als zufrieden. Denn ihre Forderungen nach dem Stopp der staatlichen Subventionierung der Strom- und Gaspreise und nach mehr Anteilen an Aktiengesellschaften für die westliche Konzerne werden von Putin nicht erfüllt. Auch die Forderungen des IWF die Bankrottverfahren gegen zahlungsunwillige Betriebe durchzusetzen, blieb lange unbefriedigt. Russland verweist auf die Gefahren des Zusammenbruchs der minimalen Versorgung im Lande. Ebenso die Bedingungen für den WTO-Beitritt:  Anhebung der Rohstoffpreise auf das Weltmarktniveau. Das Vertrauen in die Kräfte des Marktes geht bei solchen Fragen der russischen Führung ab. Russland befolgt längst nicht alle wohl gemeinten Ratschläge westlicher und uneingeschränkt prowestlicher Wirtschaftsexperten.

Nicht weil der „Russenpräsident“ keine richtige Marktwirtschaft haben will, sondern weil er nur insoweit für mehr Markt ist, wenn es dem Funktionieren des von ihm regierten Standorts dienlich ist. Da unterscheidet er sich in keinerlei Sicht von seinen westlichen Kollegen. Der Unterschied liegt in den Mitteln, die den Staaten zur Verfügung stehen. Putin sitzt am Verhandlungstisch mit Vertretern der Länder, die über richtige kapitalistische Weltwährungen verfügen (Dollar und alternativ zu ihm Euro), in denen national nützliche, dass heißt im Augen des Staates erst richtige kapitalistische, Akkumulation stattfindet, deren Kapitalisten die ganze Welt für ihre Geschäfte in Anspruch nehmen können, ohne sich zu Sorgen, woher sie die konvertible Währung nehmen. Er sieht keine Alternative mit den Ländern Geschäfte zu machen, die eben kein Interesse am Aufstieg Russlands zur einer ihnen ebenbürtigen Wirtschaftsmacht haben. Schließlich braucht sein Land jede Menge Devisen um sich kapitalistisch zu entwickeln. Aber warum lassen sich die Gewinner des kalten Krieges auf immer neue Deals mit Russland ein?

USA und EU – Ansprüche an Russland und Konkurrenz untereinander. 

Der freie Westen setzt sich zusammen aus der erfolgreichsten kapitalistischen Nation – der USA - und dem Konkurrenzprojekt dazu – der EU. Beide haben im Umgang mit dem größten Nachfolgestaaten der UdSSR schwere Probleme. Sowohl US-Amerikaner, als auch EU-Europäer sind sich einig, dass Russlands Macht auf ein Minimum schrumpfen soll, beide sehen ein, dass ein vollkommener Zerfall Russlands eine unberechenbare Gefahr mit sich bringen würde. Wer weiß, wer sich dann den Atomkoffer unter die Nägel reißt? Auch am Existenz von rechtsfreien Räumen, wie Tschetschenien zwischendurch einer war, sind weder Washington noch Berlin oder Paris interessiert.

So sind die Erwartungen an den Inhaber des obersten Staatsamtes klar: er soll das Land zusammenhalten, dabei aber tunlichst vermeiden in die totalitären Attitüden zurückzufallen und der fortschreitenden politischen, ökonomischen und militärischen Expansion der USA, der NATO und der EU zu trotzen. Zur früheren Herrschaftszeit von „Freund Boris“ war es in der Tat der Fall, dass Russlands Führung keine Alternative zum Gehorsamkeit sah, und eine übersichtliche, aber in den Medien präsente liberale Minderheit es ernsthaft als ein Chance für Russland präsentierte, keine Großmacht mehr zu sein. Nun gehören solche Zeiten der Vergangenheit an. Inzwischen ist im Kreml angekommen, dass das Halten an die vom Westen festgelegten Spielregeln nicht mit dem Stopp der Expansion belohnt wird. Der Anspruch, einen Sonderstaus im Verhältnis zu unabhängig gewordenen Sowjetrepubliken zu erhalten wird nicht anerkannt. Ob Proteste gegen die Diskriminierung der Russen im Baltikum, Wiedervereingungs-Pläne mit Weißrussland, Militärpräsenz in Moldawien, Transkaukasien, Mittelasien – in allem entdeckt der Westen einen Rückfall in „Großmachtdenken“. Auch in Sachen Kapitalismusausbau gab es zunehmend schlechte Noten.

Dementsprechend wurde 1999 der „Freund Boris“ samt Familie und Freunden als korrupter Machthaber gebrandmarkt. Das war er zwar nicht erst im Jahr des Kosovokrieges geworden, aber davor erfüllte noch das Horror-Szenario, die rot-braunen Totalitaristen ergreifen die Macht, seinen Zweck. So hat der Westen für die Russen das kleinere Übel Jelzin ausgesucht. Auch der war 1999 von Vertrauensentzug des Westens bedroht.

Mit dem Mann, den Jelzin wie ein Kaninchen aus dem Zylinder hervorzauberte und zu seinem Nachfolger ernannte, waren die Politiker und die Öffentlichkeit im Westen auch nicht wirklich zufrieden: Der „überzeugte Geheimdienstler“ (so ein überzeugter Journalist der SZ am 27.09.2004) „ist mit Demokratie eine Zweckehe eingegangen“ (Tagesschau, 29.09.2004) Der „Großrusse Putin“ (SZ, 4/5.09) ist „von militärischem Denken durchdrungen“ (Hildesheimer Allgemeine, 4.10.2003). Also hat der Wladimir jede Menge Eigenschaften, die bei keinem Politiker hierzulande zu entdecken sind! „Die Wurzeln des Terrorismus (...) sieht Putin indes im Stile eines sozialistischen Funktionärs der mittleren Leitungsebene in der hohen Arbeitslosigkeit, in einer ineffektiven sozial-ökonomischen Politik, in unzureichender Bildung in der Nordkaukasischen Region. Ethnische, religiöse und Probleme der Selbstbestimmung existieren für ihn nicht.“ (Welt, 18.10.2004). Alles in einem – der Neue im Kreml ist kein guter Ersatz für Boris!

Nun treten innerhalb des freien Westen in letzter Zeit Differenzen auf. Damit wird Russland plötzlich zum interessanten Partner, ohne jedoch seinen Feindstatus völlig zu verlieren. So gelang es Putin nach dem 9.11. mit der USA ins Geschäft zu kommen, was die letzteren nicht davon abhielt, den Partner im Antiterrorfeldzug um einige strategische Stellungen an seiner südlichen Grenze zu bringen. Die EU dagegen sah in Irak-Kriegsgegnerin und Atom-Macht Russland eine willkommene Bereicherung für ihre Koalition der Unwilligen, was jedoch kein Ende des Menschenrechtsimperialismus gegenüber Russland bedeutete. Putin zieht daraus seine Konsequenzen, und startet eine Außenpolitik, die eine gezielte Spekulation auf Differenzen innerhalb der NATO darstellt. Plötzlich erklärt Wladimir der Unberechenbare bei einem Besuch in Duschambe, dass der Sieg von Kandidat Kerry bei der US-Präsidentenwahl einen Sieg des Weltterrorismus bedeuten würde! Nachdem die irakischen Schulden an Russland nun weg sind, und die Amis keinen Hehl aus ihrer Rolle beim Coup gegen den georgischen „Russenfreund“ Schewardnadse machen, erkennt Russland zumindest eine positive Seite der „unilateralen“ Weltmacht – wegen Tschetschenien machte Washington nie so viel Stress wie „Old Europe“.

Dieses Kalkül der russischen Politik ist von Führungsmächten der EU wohl durchschaut worden. Nach Beslan nehmen der deutsche Bundeskanzler und sein Außenminister Putin in Schutz – sie segnen nachträglich sein Vorgehen ab und geben die Schuld für den Tod der Zivilisten, ganz anderes als sonst, wenn es um die Kaukasusregion geht, „einseitig“ den Terroristen, die plötzlich auch so heißen (und nicht etwa „Aufständische“, „Rebellen“ oder „Widerstandskämpfer“). Das empört die Öffentlichkeit, die Opposition und selbst eigene rot-grüne Parteigenossen. Was fällt Schröder und Fischer ein, so eine Chance zu verpassen, den Iwan auf seine Defizite (Demokratie, Zivilgesellschaft, aufrechter Gang) hinzuweisen? Was soll jetzt diese „Nibelungentreue“ zu einem Staatschef, der sich nicht zu benehmen weiß und dreist behauptet, ein Bürgerkrieg bei ihm in Lande wäre bloß eine innere Angelegenheit?

Aber das Duo, welches Deutschland siegreich durch den Kosovo-Krieg gebracht hat, weiß, was es tut. Russland hat einiges anzubieten was der EU im Wettbewerb mit der USA nutzen könnte. Da wären zuerst einmal Rohstoffe: der US-Feldzug gegen den Terror erschwert Deutschland und Frankreich den Zugang zu Öl aus dem Nahen Osten erheblich. Russland stellt sich dabei als alternativer Anbieter vor. Mit ein bisschen Geschick wäre sogar ein Ausschluss Amerikas von den Geschäften mit dem Öl aus dem Kaukasus drin! Die Geschäfte, welche die deutsche Wirtschaft mit den verstaatlichten Oligarchen-Unternehmen machen kann, stärkt die Befürworter des „Wandels durch die Annäherung“ und des „kritischen Dialoges“ gegenüber den Anhängern der Isolierung von (tendenziellen) „Schurkenstaaten“ und deren Schutzmächten. Dieser „Kampf zweier Linien“ in Fragen der Außenpolitik betrifft nicht nur Russland, sondern auch, mit unterschiedlichen Intensität, China und den Iran, Venezuela und Weißrussland. Sowohl der Kanzler als auch die Opposition sowie die russlandkritische Öffentlichkeit sehen ein, dass Deutschland nicht darum herum kommt, mit der Atommacht Russland Beziehungen zu unterhalten. Auch sind sie sich einig, dass die politischen Aktionen der Moskowiter von Deutschland scharf beobachtet gehören. Aber es gibt Differenzen betreffend der angemessenen Anwendung von Zuckerbrot und Peitsche. Die einen wollen, dass Deutschland nicht den "Anschluss and die Weltspitze" verpasst und die lukrativen Geschäftsmöglichkeiten nutzt, die anderen vermissen die Solidarität mit den - aus Putins politischem Kalkül - enteigneten Oligarchen und wollen die Rechte der Privateigentümer als das Kriterium schlechthin im Umgang mit der Russerei sehen.

Vorläufig bleibt es dabei: Russland profitiert politisch von der transatlantischen Konkurrenz, ist aber immer dort unterlegen, wo der Westen als einheitlicher Block handelt. Wo die Interessen der EU und der USA erst mal nicht im Widerspruch stehen, wie z.B. bei der NATO-Erweiterung, bleibt dem russischen Staat nur, verbittert festzustellen, dass es dringend mehr Machtmittel aller Art braucht. So ist Putins Kurs auf mehr Selbstständigkeit, gemäß den vorhandenen Mitteln, nur ein Kurs zu Vermeidung einer all zu sehr „einseitigen“ Abhängigkeit von einer der Konfliktseiten im Streit der Sieger des Kalten Krieges.

Editorische Anmerkungen

Den Text erhielten wir am 6.5.2005 von der Gruppe "Kritik im Handgemenge" (Bremen)