Seid realistisch, verlangt das Unmögliche
oder die Realpolitiker sind die größten Utopisten!

von Robert Schlosser
05/04

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1.  Alle Versprechungen aus Politik und Wirtschaft, die hohe Lohnarbeitslosigkeit zu beseitigen, stetiges Wachstum und Vollbeschäftigung zu schaffen, haben sich bisher als leere Versprechungen erwiesen.

2. Unabhängig vom Wollen der großen Macher, die sich gern als Pragmatiker und Realisten bezeichnen, entwickelt der Kapitalismus eine Dynamik, die die soziale Polarisierung, den Gegensatz zwischen Arm und Reich kontinuierlich anwachsen lässt.

3. Das Credo der einen lautet: Die Kräfte des freien Marktes sollen sich ungehemmt entwickeln, dann wird sich alles zum besseren wenden. Das Credo der anderen lautet: Der Kapitalismus muss sozial reguliert und gesteuert werden, dann geht es wieder aufwärts. Alle Ökonomen sind sich einig, dass die Probleme angeblich nur durch mehr Investitionen zu beheben sind. Die einen wollen die Investitionen durch eine Senkung der Kapitalbesteuerung beflügeln, die anderen durch eine stärkere Besteuerung des Kapitals.

4. Rainer Roth zeigt in seinen Büchern auf, dass die kapitalistischen Investitionen die ökonomischen und sozialen Probleme nicht lösen, sondern deren Ursache sind. Von Investitionszyklus zu Investitionszyklus verschiebt sich das Verhältnis zwischen dem in „Sachkapital“ angelegten Geld und den in menschliche Arbeitskräfte angelegtem Geld. Der Anteil des Kapitals; der in Sachkapital angelegt ist, wird immer größer gegenüber dem Teil der für den Ankauf von Lohnarbeit angelegt wird.

Sachkapital und Ware Arbeitskraft

„Von 1970 bis 1995 wuchs das Nettosachanlagevermögen aller Untenehmen in Westdeutschland um 531%, die Bruttolohn- und Gehaltssumme aber nur um 400%.“ (Statistisches Bundesamt) Nebensache Mensch, S. 223

„Um 1 Million Erwerbstätige zu beschäftigen, brauchte die Industrie in Deutschland 1991 preisbereinigt ein Sachkapital von 84 Mrd. Euro. 2000 waren es schon 116 Mrd. Euro.“

„Brauchte man in der Industrie für ein Gesamtkapital von 100 Mrd. Euro 1991 noch 1,2 Millionen Erwerbstätige, waren es 8 Jahr später nur noch 862.000. (Alle Daten vom Statistischen Bundesamt) Nebensache Mensch, S. 228-229


5. Ursache dafür ist das ständige Streben der einzelnen Unternehmen durch technische Innovation einen Produktivitätsfortschritt vor den Konkurrenten zu erlangen, um so größere Marktanteile und größeren Gewinn zu erzielen. Indem alle Unternehmungen gezwungen sind, die produktivsten Produktionsverfahren einzuführen, verallgemeinert sich der Produktivitätsfortschritt und die ihn bestimmende Technik.

6. Als Folge davon stellt sich langfristig – gemessen am Profitbedarf des Kapitals - Profitmangel ein, weil das stark anwachsende Sachkapital nur seinen Wert auf das neue Produkt übertragen kann. Quelle des Mehrwerts ist allein die als Ware verfügbare, vom Kapital angewandte menschliche Arbeitskraft. Sie kann mehr Wert erzeugen, als für ihre eigene Reproduktion im Kapitalismus nötig ist.

7. In dem das Kapital seinen Profit durch Steigerung der Arbeitsproduktivität erhöhen will vermindert es langfristig die Rate seiner Verwertung. Der Masse nach wachsen Kapital und Profit an, doch die Profitrate sinkt.

Kapitalrentabilität 

„Wir sehen nun eine eigenartige Entwicklung. Einerseits erhöhen sich die Profite mit dem Wachstum des Kapital. ... Andererseits sind aber die Profitraten des Kapitals, das Verhältnis, in dem die Profite zum eingesetzten Kapital stehen, ... gesunken.“
„Die Unternehmes- und Vermögenseinkommen, in denen die Unternehmensgewinne enthalten sind, sind von 170 Mrd. DM im Jahre 1970 auf 825 Mrd. DM im Jahre 2000 gestiegen.“ ...Sie waren 2000 also fast 5 mal so groß wie 1970! 

Nebensache Mensch, S. 218

Nettoumsatzrenditen
„Nach Angaben des Bundesverbandes der Deutschen Industrie lagen die Nettoumsatzrenditen der westdeutschen Unternehmen in Produzierendem Gewerbe, Handel und Verkehr bis 1972 noch in der Regel über 3%. Das ist später nie mehr erreicht worden. ... Die Nettoumsatzrenditen sind in den letzten drei Jahrzehnten etwa um 30-40% gefallen. Und das, obwohl die Gewinnsteuern seit den 80iger Jahren stark gesenkt worden sind. Ohne diese Senkungen wären die Nettoumsatzrenditen noch erheblich niedriger. Ihren Tiefpunkt in der Nachkriegsgeschichte Deutschlands erreichten die Nettoumsatzrenditen mit 1,2 % im Krisenjahr 1993.“

Sachkapitalrendite
„Auch die Sachkapitalrenditen sind gefallen. Das bedeutet, dass immer mehr Sachkapital augewandt werden musste, um denselben Gewinn zu erzielen. Das deutsche Institut für Wirtschaftsforschung stellte 1998 eine >>in den letzten 25 Jahren festzustellende Tendenz einer insgesamt sinkenden ... Sachkapitalrendite<< fest. Die Sachkapitalrendite erreichte ihren bisher unübertroffenen Tiefpunkt im Krisenjahr 1993.
Auch die Sachkapitalrenditen weisen aus, dass die Profitraten in den letzten 30 Jahren um etwa 40% gesunken sind.“

Kapitalproduktivität
„Nach Angaben der Deutschen Bundesbank fiel die Kapitalproduktivität in Deutschland von 1992 bis 2001 um jährlich 1,1%.
Das Statistische Bundesamt stellte fest, dass die Kapitalproduktivität im Produzierenden Gewerbe ohne Baugewerbe im Jahr 2000 um etwa 9% unter dem Niveau von 1991 lag. Auf 1000 Euro Sachkapital entfielen nicht mehr 368 Euro BIP (Bruttoinlandprodukt), sondern nur noch 333 Euro.“

Nebensache Mensch, S. 219


8. Die Profitrate aber ist der entscheidende Anreiz für Investition. Indem Maße, wie sich die Profitrate des industriellen Kapitals als ungenügend erweist, werden neue Möglichkeiten der Geldanlage eröffnet und blüht die Spekulation mit Aktien und Wertpapieren.
 

Kapitalanlage – produktiv und spekulativ

„Das Kapital, das sich in Finanzanlagen verkörpert, wuchs im Konjunkturzyklus 1991-2000 von 7.821 Mrd. DM auf 20.880 Mrd. DM. Eine Steigerung um 13.600 Mrd. DM, also um 170%.
Das in Finanzanlagen angelegte Kapital wuchs fast dreimal so schnell, wie das in Anlagen und Bauten angelegte Kapital der Untenehmen.“

Nebensache Mensch, S. 242


9. Sinkende Profitrate führt zu überschüssigem Geldkapital (Rainer Roth nennt das „arbeitsloses Kapital“) bei überzähliger Lohnarbeitsbevölkerung. Massenarbeitslosigkeit und spekulierendes Geldkapital entwickeln sich gesetzmäßig und sind zwei Seiten ein und der selben Medaille.

10. Die Sachwalter des Kapitals in Wirtschaft und Politik setzen alles daran, dem Fall der Profitrate entgegenzuwirken und die Verwertungsbedingungen des Kapitals zu verbessern. Ihr Programm ist die soziale Reaktion. Jede soziale Reform oder auch nur Versuche, den Abbau sozialer Reformen zu verhindern, würde den Fall der Profitrate weiter beschleunigen und wird daher auf ihren entschiedenen Widerstand stoßen.

11. Was die unmittelbaren Verwirklichungsmöglichkeiten, den Realismus anbetrifft, so ist unter den heutigen Bedingungen ein entschiedener sozialer Reformismus genau so „utopisch“ wie ein Programm sozialer Revolution, denn einerseits ist das Kapital nicht kompromissbereit und andererseits ist die Akzeptanz der kapitalistischen Marktökonomie in der Bevölkerung stark, wie kaum jemals zuvor in der Geschichte des Kapitalismus.

12. Der soziale Reformismus ist heute aber nicht nur genau so „utopisch“ wie die soziale Revolution, er kann  auch genauso illusorisch sein, wie der sozialreaktionäre Neoliberalismus; nämlich dann, wenn er Reformen mit ökonomischer Vernunft und nicht mit den sozialen Interessen der Lohnabhängigen begründet. Wenn soziale Reformen mit einer notwendigen Stärkung der Nachfrage begründet werden, um so kapitalistisches Wachstum zu ermöglichen, dann ist das auch eine Art, die Interessen der Lohnabhängigen denen des Kapitals unterzuordnen. Die umfassende gesellschaftliche Regulation des Kapitals zum Zweck der Verstätigung eines zweifelhaften ökonomischen Wachstums, das dann Wohlstand für alle im Kapitalismus ermöglichen soll, bleibt eine Illusion.

13. Daraus ist nicht zu folgern, dass der Kampf um soziale Reformen falsch, unnütz oder gar opportunistisch ist. Wenn die Forderungen nicht in das Zwangskorsett der ökonomischen Vernunft gepresst werden, wenn sie vorbehaltlos mit Bezug auf die Möglichkeiten formuliert werden, die sich durch den Produktivitätsfortschritt eröffnen, dann bieten sie nicht nur die Perspektive der Verständigung unter den Lohnabhängigen über ihre gemeinsamen Interessen und nächsten Ziele, sondern halten auch die Perspektive des Kampfes für eine Überwindung des Kapitalverhältnisses offen. Der „Frankfurter Apell gegen Sozial- und Lohnabbau“ ist ein gutes Beispiel dafür.

Arbeitsproduktivität

„ In Westdeutschland sank das Arbeitsvolumen (Gesamtarbeitszeit der Lohnabhängigen) von 1970 bis 2000 von 52 Millionen Arbeitsstunden auf rund 39,7 Millionen Arbeitsstunden oder um 23,6%.“

Nebensache Mensch, S. 213

„Die Produktivität von ArbeiterInnen der verarbeitenden Industrie, gemessen am Umsatz pro ArbeiterIn, stieg von 1970 bis 2000 um das 7,1-fache. (1970 = 90.969 DM; 2000 = 642.092 DM)
Allein von 1991 bis 2000 stieg die Produktivität der ArbeiterInnen der verarbeitenden Industrie in Deutschland um etwa das doppelte, von 333.731 DM pro ArbeiterIn auf 642.092 DM.“

Nebensache Mensch, S. 212


14. Die Überwindung des Kapitalismus erscheint zwar heute „utopischer“ denn je, es ist aber die einzige realistische Variante, wenn man es Ernst meint mit der Abschaffung des sozialen Elends auf dieser Welt.

15. Meiner Meinung nach kann sich der Widerstand gegen Sozialraub und Verarmung nur dann in der nötigen Breite und Entschiedenheit erfolgreich entwickeln, wenn wieder eine Diskussion um eine sozialistische Alternative aufgenommen wird und wenn es genug Menschen gibt, die den Widerstand mit einer verbindenden und weitreichenden sozialistischen Alternative organisieren.
Andersfalls werden sich die gegenwärtigen Tendenzen des Kapitalismus weitgehend ungebremst und mit voller Wucht durchsetzen.

Das, was wir jetzt als verschwindenden Sozialstaat erleben und erlebt haben, war nicht zuletzt ein Zugeständnis an eine ArbeiterInnenbewegung, die dem Kapital mit Abschaffung drohte. Ohne diese verschwundene ArbeiterInnenbewegung der 1., 2., und 3. Internationale, mit all ihren verheerenden Fehlern und staatssozialistischen Illusionen hätte es nach Weltwirtschaftskrise und Krieg wahrscheinlich auch keynesianische Versuche der Lenkung des Kapitalismus gegeben, aber sicher keinen Sozialstaat!

Editorische Anmerkungen:

Diese Thesen bildeten die Grundlage eines Referates, welches Robert Schlosser im April 2004 auf dem Bochumer Sozialforum gehalten hat. Der Autor schickte uns seine Thesen in der vorliegenden Fassung mit der Bitte um Veröffentlichung.

Die in den Kästen zitierte Quelle lautet:

Rainer Roth „Nebensache Mensch“, Arbeitslosigkeit in Deutschland, DVS Verlag, Frankfurt 2003