1.
Alle Versprechungen aus Politik und Wirtschaft, die
hohe Lohnarbeitslosigkeit zu beseitigen, stetiges Wachstum und
Vollbeschäftigung zu schaffen, haben sich bisher als leere Versprechungen
erwiesen.
2. Unabhängig vom Wollen
der großen Macher, die sich gern als Pragmatiker und Realisten bezeichnen,
entwickelt der Kapitalismus eine Dynamik, die die soziale Polarisierung, den
Gegensatz zwischen Arm und Reich kontinuierlich anwachsen lässt.
3. Das Credo der einen
lautet: Die Kräfte des freien Marktes sollen sich ungehemmt entwickeln, dann
wird sich alles zum besseren wenden. Das Credo der anderen lautet: Der
Kapitalismus muss sozial reguliert und gesteuert werden, dann geht es wieder
aufwärts. Alle Ökonomen sind sich einig, dass die Probleme angeblich nur durch
mehr Investitionen zu beheben sind. Die einen wollen die Investitionen durch
eine Senkung der Kapitalbesteuerung beflügeln, die anderen durch eine stärkere
Besteuerung des Kapitals.
4. Rainer Roth zeigt in
seinen Büchern auf, dass die kapitalistischen Investitionen die ökonomischen
und sozialen Probleme nicht lösen, sondern deren Ursache sind. Von
Investitionszyklus zu Investitionszyklus verschiebt sich das Verhältnis
zwischen dem in „Sachkapital“ angelegten Geld und den in menschliche
Arbeitskräfte angelegtem Geld. Der Anteil des Kapitals; der in Sachkapital
angelegt ist, wird immer größer gegenüber dem Teil der für den Ankauf von
Lohnarbeit angelegt wird.
Sachkapital und Ware Arbeitskraft
„Von 1970 bis 1995 wuchs das
Nettosachanlagevermögen aller Untenehmen in Westdeutschland um 531%, die
Bruttolohn- und Gehaltssumme aber nur um 400%.“ (Statistisches
Bundesamt) Nebensache Mensch, S. 223
„Um 1 Million Erwerbstätige zu beschäftigen,
brauchte die Industrie in Deutschland 1991 preisbereinigt ein
Sachkapital von 84 Mrd. Euro. 2000 waren es schon 116 Mrd. Euro.“
„Brauchte man in der Industrie für ein
Gesamtkapital von 100 Mrd. Euro 1991 noch 1,2 Millionen Erwerbstätige,
waren es 8 Jahr später nur noch 862.000. (Alle Daten vom Statistischen
Bundesamt) Nebensache Mensch, S.
228-229
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5. Ursache dafür ist das
ständige Streben der einzelnen Unternehmen durch technische Innovation einen
Produktivitätsfortschritt vor den Konkurrenten zu erlangen, um so größere
Marktanteile und größeren Gewinn zu erzielen. Indem alle Unternehmungen
gezwungen sind, die produktivsten Produktionsverfahren einzuführen,
verallgemeinert sich der Produktivitätsfortschritt und die ihn bestimmende
Technik.6. Als Folge davon stellt
sich langfristig – gemessen am Profitbedarf des Kapitals - Profitmangel ein,
weil das stark anwachsende Sachkapital nur seinen Wert auf das neue Produkt
übertragen kann. Quelle des Mehrwerts ist allein die als Ware verfügbare,
vom Kapital angewandte menschliche Arbeitskraft. Sie kann mehr Wert
erzeugen, als für ihre eigene Reproduktion im Kapitalismus nötig ist.
7. In dem das Kapital seinen
Profit durch Steigerung der Arbeitsproduktivität erhöhen will vermindert es
langfristig die Rate seiner Verwertung. Der Masse nach wachsen Kapital und
Profit an, doch die Profitrate sinkt.
Kapitalrentabilität
„Wir sehen nun eine eigenartige Entwicklung.
Einerseits erhöhen sich die Profite mit dem Wachstum
des Kapital. ... Andererseits sind aber die Profitraten des Kapitals, das
Verhältnis, in dem die Profite zum eingesetzten Kapital stehen, ...
gesunken.“
„Die Unternehmes- und Vermögenseinkommen, in denen
die Unternehmensgewinne enthalten sind, sind von 170 Mrd. DM im Jahre 1970
auf 825 Mrd. DM im Jahre 2000 gestiegen.“ ...Sie waren 2000 also fast 5
mal so groß wie 1970!
Nebensache Mensch, S. 218
Nettoumsatzrenditen
„Nach Angaben des Bundesverbandes der Deutschen
Industrie lagen die Nettoumsatzrenditen der westdeutschen Unternehmen in
Produzierendem Gewerbe, Handel und Verkehr bis 1972 noch in der Regel über
3%. Das ist später nie mehr erreicht worden. ... Die Nettoumsatzrenditen
sind in den letzten drei Jahrzehnten etwa um 30-40% gefallen. Und das,
obwohl die Gewinnsteuern seit den 80iger Jahren stark gesenkt worden sind.
Ohne diese Senkungen wären die Nettoumsatzrenditen noch erheblich
niedriger. Ihren Tiefpunkt in der Nachkriegsgeschichte Deutschlands
erreichten die Nettoumsatzrenditen mit 1,2 % im Krisenjahr 1993.“
Sachkapitalrendite
„Auch die Sachkapitalrenditen sind gefallen. Das
bedeutet, dass immer mehr Sachkapital augewandt werden musste, um
denselben Gewinn zu erzielen. Das deutsche Institut für
Wirtschaftsforschung stellte 1998 eine >>in den letzten 25 Jahren
festzustellende Tendenz einer insgesamt sinkenden ... Sachkapitalrendite<<
fest. Die Sachkapitalrendite erreichte ihren bisher unübertroffenen
Tiefpunkt im Krisenjahr 1993.
Auch die Sachkapitalrenditen weisen aus, dass die
Profitraten in den letzten 30 Jahren um etwa 40% gesunken sind.“
Kapitalproduktivität
„Nach Angaben der Deutschen Bundesbank fiel die
Kapitalproduktivität in Deutschland von 1992 bis 2001 um jährlich 1,1%.
Das Statistische Bundesamt stellte fest, dass die
Kapitalproduktivität im Produzierenden Gewerbe ohne Baugewerbe im Jahr
2000 um etwa 9% unter dem Niveau von 1991 lag. Auf 1000 Euro Sachkapital
entfielen nicht mehr 368 Euro BIP (Bruttoinlandprodukt), sondern nur noch
333 Euro.“
Nebensache Mensch, S.
219
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8. Die Profitrate aber ist
der entscheidende Anreiz für Investition. Indem Maße, wie sich die
Profitrate des industriellen Kapitals als ungenügend erweist, werden neue
Möglichkeiten der Geldanlage eröffnet und blüht die Spekulation mit Aktien
und Wertpapieren.
Kapitalanlage – produktiv und spekulativ
„Das Kapital, das sich in Finanzanlagen verkörpert,
wuchs im Konjunkturzyklus 1991-2000 von 7.821 Mrd. DM auf 20.880 Mrd. DM.
Eine Steigerung um 13.600 Mrd. DM, also um 170%.
Das in Finanzanlagen angelegte Kapital wuchs fast
dreimal so schnell, wie das in Anlagen und Bauten angelegte Kapital der
Untenehmen.“
Nebensache Mensch, S.
242 |
9. Sinkende Profitrate führt
zu überschüssigem Geldkapital (Rainer Roth nennt das „arbeitsloses Kapital“)
bei überzähliger Lohnarbeitsbevölkerung. Massenarbeitslosigkeit und
spekulierendes Geldkapital entwickeln sich gesetzmäßig und sind zwei Seiten
ein und der selben Medaille.10.
Die Sachwalter des
Kapitals in Wirtschaft und Politik setzen alles daran, dem Fall der
Profitrate entgegenzuwirken und die Verwertungsbedingungen des Kapitals zu
verbessern. Ihr Programm ist die soziale Reaktion. Jede soziale Reform oder
auch nur Versuche, den Abbau sozialer Reformen zu verhindern, würde den Fall
der Profitrate weiter beschleunigen und wird daher auf ihren entschiedenen
Widerstand stoßen.
11. Was die unmittelbaren
Verwirklichungsmöglichkeiten, den Realismus anbetrifft, so ist unter den
heutigen Bedingungen ein entschiedener sozialer Reformismus genau so
„utopisch“ wie ein Programm sozialer Revolution, denn einerseits ist das
Kapital nicht kompromissbereit und andererseits ist die Akzeptanz der
kapitalistischen Marktökonomie in der Bevölkerung stark, wie kaum jemals
zuvor in der Geschichte des Kapitalismus.
12. Der soziale Reformismus
ist heute aber nicht nur genau so „utopisch“ wie die soziale Revolution, er
kann auch genauso illusorisch sein, wie der sozialreaktionäre
Neoliberalismus; nämlich dann, wenn er Reformen mit ökonomischer Vernunft
und nicht mit den sozialen Interessen der Lohnabhängigen begründet. Wenn
soziale Reformen mit einer notwendigen Stärkung der Nachfrage begründet
werden, um so kapitalistisches Wachstum zu ermöglichen, dann ist das auch
eine Art, die Interessen der Lohnabhängigen denen des Kapitals
unterzuordnen. Die umfassende gesellschaftliche Regulation des Kapitals zum
Zweck der Verstätigung eines zweifelhaften ökonomischen Wachstums, das dann
Wohlstand für alle im Kapitalismus ermöglichen soll, bleibt eine Illusion.
13. Daraus ist nicht zu
folgern, dass der Kampf um soziale Reformen falsch, unnütz oder gar
opportunistisch ist. Wenn die Forderungen nicht in das Zwangskorsett der
ökonomischen Vernunft gepresst werden, wenn sie vorbehaltlos mit Bezug auf
die Möglichkeiten formuliert werden, die sich durch den
Produktivitätsfortschritt eröffnen, dann bieten sie nicht nur die
Perspektive der Verständigung unter den Lohnabhängigen über ihre gemeinsamen
Interessen und nächsten Ziele, sondern halten auch die Perspektive des
Kampfes für eine Überwindung des Kapitalverhältnisses offen. Der
„Frankfurter Apell gegen Sozial- und Lohnabbau“ ist ein gutes Beispiel
dafür.
Arbeitsproduktivität
„ In Westdeutschland sank das Arbeitsvolumen
(Gesamtarbeitszeit der Lohnabhängigen) von 1970 bis 2000 von 52
Millionen Arbeitsstunden auf rund 39,7 Millionen Arbeitsstunden oder um
23,6%.“
Nebensache Mensch, S. 213
„Die Produktivität von ArbeiterInnen der
verarbeitenden Industrie, gemessen am Umsatz pro ArbeiterIn, stieg von
1970 bis 2000 um das 7,1-fache. (1970 = 90.969 DM; 2000 = 642.092 DM)
Allein von 1991 bis 2000 stieg die Produktivität
der ArbeiterInnen der verarbeitenden Industrie in Deutschland um etwa
das doppelte, von 333.731 DM pro ArbeiterIn auf 642.092 DM.“
Nebensache Mensch, S.
212 |
14. Die Überwindung des
Kapitalismus erscheint zwar heute „utopischer“ denn je, es ist aber die
einzige realistische Variante, wenn man es Ernst meint mit der Abschaffung
des sozialen Elends auf dieser Welt.
15. Meiner Meinung nach kann
sich der Widerstand gegen Sozialraub und Verarmung nur dann in der nötigen
Breite und Entschiedenheit erfolgreich entwickeln, wenn wieder eine
Diskussion um eine sozialistische Alternative aufgenommen wird und wenn es
genug Menschen gibt, die den Widerstand mit einer verbindenden und
weitreichenden sozialistischen Alternative organisieren.
Andersfalls werden sich die gegenwärtigen Tendenzen des Kapitalismus
weitgehend ungebremst und mit voller Wucht durchsetzen.
Das, was wir jetzt als verschwindenden Sozialstaat erleben und erlebt haben,
war nicht zuletzt ein Zugeständnis an eine ArbeiterInnenbewegung, die dem
Kapital mit Abschaffung drohte. Ohne diese verschwundene ArbeiterInnenbewegung
der 1., 2., und 3. Internationale, mit all ihren verheerenden Fehlern und
staatssozialistischen Illusionen hätte es nach Weltwirtschaftskrise und Krieg
wahrscheinlich auch keynesianische Versuche der Lenkung des Kapitalismus
gegeben, aber sicher keinen Sozialstaat!
Editorische Anmerkungen:
Diese Thesen bildeten die Grundlage
eines Referates, welches Robert Schlosser im April 2004 auf dem Bochumer
Sozialforum gehalten hat.
Der Autor schickte uns seine
Thesen in der vorliegenden Fassung mit der Bitte um Veröffentlichung.
Die in den Kästen zitierte Quelle lautet:
Rainer Roth
„Nebensache Mensch“, Arbeitslosigkeit in Deutschland,
DVS Verlag, Frankfurt 2003
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