Algerien, das Greater Middle East-Projekt und die "Demokratisierungs"pläne der USA für die Großregion

von Bernhard Schmid
05/04

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Was muss man tun, um in den Augen derjenigen, die sich die Durchsetzung der Demokratie im Großraum von Marokko bis Pakistan auf ihre Fahnen geschrieben haben, als "geprüfter Demokrat" zu gelten? Man lasse sich zunächst mit einem quasi-sowjetischen Wahlergebnis von angeblich 84,99 Prozent der Stimmen zum Staatschef wiederwählen. Dann hat man die Glückwunschtelegramme aus Paris und Washington einzusammeln. Schließlich hat man dem "Greater Middle East"-Plan genannten Vorhaben, das nach offiziellen Angaben die Demokratisierung und Liberalisierung in den betroffenen Ländern vorantreiben soll, demonstrativ zuzustimmen. Und schon ist man der Musterschüler der Region.

Das "Greater Middle East"-Projekt wurde durch die US-Administration Bush vorgelegt; auf internationaler Ebene wird es erstmals seit Anfang dieses Jahres in konkreter Fassung debattiert. Namentlich bildete es ein Thema auf der NATO-Sicherheitstagung im Februar dieses Jahres in München, wo die US-Vertreter um Zustimmung der europäischen Regierungen für ihr Konzept warben; dort sprach der republikanische US-Senator Richard Lugar zum Thema. Offiziell diskutiert werden soll der Plan jetzt auf dem nächsten G8-Gipfeltreffen.

Im Kern besteht das Vorhaben darin, durch eine von außen kommende Initiative die politische Landkarte der Großregion umzuwandeln. Dabei sind institutionelle Reformen, wirtschaftspolitische Richtlinien ­ im Sinne einer Verstärkung marktwirtschaftlicher Orientierungen - und sicherheitspolitische Vorgaben auf das Engste miteinander verknüpft. Insbesondere soll auch die NATO eine wesentliche Rolle bei der Absicherung des Vorhabens und bei der "Stabilisierung" des geographischen Großraums spielen.

Das Regime Algeriens passt sich in dieses Konzept hervorragend ein. Neben der Monarchie des Golfstaats Qatar ist es bisher die einzige Regierung, die bisher explizit den Zielen des Plans zugestimmt hat. Zugleich betreibt Algerien eine Annäherung an den nordatlantischen Militärpakt: Im Juni dieses Jahres wird Algerien zum ersten Mal an der NATO-Konferenz, die dann in der Türkei stattfindet, teilnehmen. Und das französische Wochenmagazin L¹Express formulierte (in seiner Ausgabe vom 5. April dieses Jahres), der Wunschtraum der algerischen Armee bestehe darin, zum "arabischen Pfeiler der NATO" zu werden.

Konferenz von Friedrich-Ebert-Stiftung und US-Experten

Anlässlich einer Konferenz am Sitz der deutschen Friedrich-Ebert-Stiftung in Algier, die am 13. April stattfand und von der dortigen US-Botschaft und der Zeitung El-Khabar (Die Nachricht) koorganisiert worden war, äußerte sich ein US-Experte vom Council of Foreign Relations zu den Auswirkungen der angestrebten Veränderungen auf Algerien. Sogleich wischte Walter Russel Mead die Idee vom Tisch, es gehe darum, ein "demokratisches Modell" in "jedem Land" der Region durchzusetzen. Vielmehr gehe es um eine Unterstützung für "lokale politische Reformen" jener, die "ihre eigenen Modelle und ihre eigenen Kalender" ausarbeiteten. Also nicht darum, wie demokratisch es wirklich zugeht - sondern eher um die Frage, ob Regierungen sich verbal hinter die vorgegebenen Ziele stellen oder nicht. Ferner gehe es um die Frage, "ob Machthaber legitim oder illegitim sind"; erstere würden durch die USA "nicht respektiert". (Zitate nach der algerischen Tageszeitung "Liberté" vom 14. April 04)

Nicht zuletzt geht es aber auch um das wirtschaftspolitische Modell: So betonte Russel Mead die Bedeutung regionaler Freihandelszonen. Auf die Nachfrage algerischer Journalisten, warum seine Regierung privilegierte Beziehungen zu Marokko ­ mit dem Algerien im außenpolitischen Streit liegt ­ unterhalte, antwortete der US-Experte: "Weil Marokko in seinen Beziehungen mit der Welthandelsorganisation WTO fortgeschritten ist." Zugleich betonte er seine Unterstützung für den algerischen Beitrittswunsch zur WTO; das Land steht derzeit in der siebten Runde der Beitrittsverhandlungen.

Und ferner begrüßte Russel Mead den Abschluss eines Freihandels- und Assoziierungsvertrags mit der EU. Dieser wurde im April 2002 im spanischen Valencia unterzeichnet, doch seine Ratizifierung verzögert sich noch, denn durch den Beitritt von 10 neuen Mitgliedern zur EU erhöht sich auch die Zahl der Parlamente, in denen die Ratifizierung vorgenommen werden muss. Allerdings darf dabei davon ausgegangen werden, dass aus US-amerikanischer Sicht zwar die Methode sympathisch ist, aber nicht so sehr der Abschluss solcher Vereinigungen mit der EU - sondern dass vielmehr eigene Ambitionen hinter dem Lob stehen. Im Falle Marokkos beispielsweise folgte auf den Freihandels­ und Assoziierungsvertrag mit der EU, den das Land bereits 1996 abschloss, vor wenigen Abkommen ein ähnliches Abkommen, dieses Mal mit den USA. Dabei liefern sich beide geopolitischen Blöcke, EU und USA, eine Konkurrenz in dieser geographischen Zone, welche die dortigen Regime ihrerseits (in gewissen Grenzen) zu ihren Gunsten ausnutzen können.

Bouteflikas seltsame Wahl

Störend konnte da noch wirken, dass Staatspräsident Abdelaziz Bouteflika am 8. April dieses Jahres mit einem unwahrscheinlich wirkenden Wahlergebnis im Amt bestätigt worden ist. In der Wahlnacht war zunächst von rund 70 Prozent für Bouteflika die Rede gewesen, einen Tag später dann von 83,5 Prozent. Und im amtlichen Endergebnis, das Mitte April vom Verfassungsgericht veröffentlicht worden ist, waren die Zahl gar auf 85 Prozent nach oben korrigiert worden. Oppositionelle Kandidaten und Zeitungen sprechen von Wahlbetrug. Dieser kann allerdings die Tatsache von Bouteflikas Wahlsieg nicht erklären, der durchaus reale Gründe hat (vor allem den Anstieg des Ölpreises auf dem Weltmarkt und die damit einhergehende Verbesserung in der Lage der Bevölkerung, sowie das objektive weitgehende Ende der Terrorangst in großen Teilen des Landes). Sondern nur dessen groteskes Ausmaß. Letzteres erklärt sich vor allem aus dem Willen, potenzielle Zweifler einzuschüchtern. Frankreichs Präsident Jacques Chirac hat es unfreiwillig auf den Punkt gebracht, als er beim Versuch einer Rechtfertigung des Wahlergebnisses erklärte: "Bei knapp über 50 Prozent hätte das Ergebnis als umstritten gegolten, aber so", bei 85 Prozent, "gibt es keinen Zweifel". Jetzt ist Bouteflika dabei, innenpolitisch reinen Tisch zu machen, und vor allem die ehemalige Staats- und Einheitspartei, den Front de libération nationale (Nationale Befreiungsfront), auf seine Seite zu ziehen. Der FLN war im Vorfeld der Wahlen zweigeteilt gewesen ­ was die Spaltung der algerischen Oligarchie insgesamt widerspiegelte -, und aus seinen Reihen trat der frühere Premierminister Ali Benflis trat als Gegenkandidat zu Bouteflika an.

Jetzt hat Benflis seine Parteiämter niedergelegt, und wahrscheinlich wird die Partei unter der Vorherrschaft des Bouteflika-treuen Flügels wiedervereinigt werden. Allgemein erwartet wird, dass die Regierung künftig Züge der autoritären Einparteienherrschaft von vor 1989 wieder annehmen wird ­ aber ohne deren damalige staatssozialistische Aspekte. Russel Mead sprach jedoch in diesem Zusammenhang von den "freiesten Wahlen, die je in einem arabischen Land organisiert worden sind", was anlässlich tatsächlich unmanipulierter Wahlen ­ seit Beginn des Jahrzehnts in Marokko, oder 1996 zum palästinensischen Nationalrat ­ grotesk wirkt.

Chirac in Algier, nur eine Woche nach der "Wahl"

Die US-Administration hatte sofort nach den Wahlen deren "freien und fairen" Charakter bescheinigt. Um im erbitterten Wettkampf um Einfluss in der ehemaligen französischen Kolonie, den sich Paris und Washington seit Mitte der Neunziger Jahre liefern, nicht zu unterliegen, hatte Chirac diese Haltung zu übertrumpfen versucht. Spontan setzte er eine, im Kalender der Staatsbesuche nicht vorgesehene, Reise nach Algier für den 15. April an. Noch bevor das amtliche Endergebnis verkündet war, klopfte er Bouteflika auf die Schulter und verbrachte drei Stunden an seiner Seite.

Nunmehr ist die Rede vom Abschluss eines symbolischen Freundschaftsvertrages zwischen Paris und Algier. Bisher stellt sich der Stand des Ringens um Einfluss aber so dar, dass die Franzosen vor allem auf der politischen, kulturellen und symbolischen Ebene Präsenz zeigen; im Oktober 2002 fuhr Bouteflika als erster Präsident des unabhängigen Algerien zum Sprachgipfel der frankophonen Staaten, nachdem bisherige Machthaber in Algerien sich eher bemühten, die Sprache der früheren Kolonialmacht zu verdrängen. Dagegen fallen die "harten" wirtschaftspolitischen Entscheidungen weit eher zugunsten der US-Amerikaner aus.

Ökonomischer Vorsprung der US-Amerikaner in Algerien

Deren Ölkonzerne sind bereits jetzt, noch bevor das staatliche Monopol auf die Erdölförderung aufgehoben ist, die Nummer Zwei im algerischen Öl- und Gassektor. Zwar dürfen ausländische Konzerne bisher noch nicht direkt an den Rohstoff im algerischen Boden, der 1971 verstaatlicht wurde, um den bis dahin andauernden neokolonialen Einfluss Frankreichs zu brechen. Doch dafür haben sie alle Lücken im Bereich des technologischen Know-How, das die Förderung benötigt, besetzt. Und bereits seit 2002 liegt ein Gesetzesprojekt für die Privatisierung des algerischen Erdöls in der Schublade, das wegen massiver Proteste und Streikdrohungen mehrfach wieder unter Verschluss genommen wurde. Doch erwartet wird, dass die Regierung von Ahmed Ouyahia, die Präsident Bouteflika nach seiner Wiederwahl im Amt bestätigt hat, demnächst diese Privatisierungspläne wieder aus der Schublade holt. Denn Teile der algerischen Nomenklatura, die ihren Reichtum vornehmlich der Schattenwirtschaft und Vermittlungsgeschäften beim Import westlicher Waren verdanken, möchten sich gern mit westlichen Wirtschaftsinteressen assoziieren. Auf diese Weise könnten sie ihre bisher im Windschatten der offiziellen Ökonomie akkumulierten Gelder endlich reinvestieren.

Gleichzeitig aber würde Algerien mit der Kontrolle über die Ressourcen in seinem Boden das letzte Element wirtschaftlicher Unabhängigkeit, über das es- nach dem Abbruch der staatssozialistischen Industrialisierungspolitik und Entwicklungsdiktatur der 70er Jahre ­ noch verfügt.

Die USA: mit den Islamisten gegen das Regime, oder mit dem Regime gegen die Islamisten?

Diese Zukunftsperspektiven sind ein Grund dafür, warum die US-Politik sich dem Regime in Algier angenähert hat. Vor knapp einem Jahrzehnt hatte man in Washington noch auf einen Sieg der Islamisten im algerischen Bürgerkrieg gesetzt, den die CIA 1994 fälschlicherweise vorausgesagt hatte und von dem sich unter anderem eine definitive Verdrängung des französischen Einflusses verprach. Noch 1997 ließ sich die Rand Corporation, ein durch die Rüstungsindustrie aufgebauter Think Tank der US-Politik, in einem Dokument unter dem Titel Algeria, The next fundamentalist state? sehr offen über die Vorzüge eines angeblich absehbaren islamistischen Regimes in Algerien aus. Solange der algerische Islamismus keinen internationalen Terrorismus betreibe, der sich auch gegen westliche Interessen richte, und solange er eng mit dem geostrategischen Verbündeten Saudi-Arabien liiert bleibe, gehe von ihm kein Risiko aus. Ferner wurde die Offenheit der algerischen Islamisten, die ja als Opposition zu einem staatssozialistischen Regime wirkten, für die Freiheit der Wirtschaft und des Handels betont. Das Dokument ist nach wie vor im Internet abrufbar http://www.rand.org/publications/MR/MR733/ .

Doch diese Ära ist definitiv vorbei, spätestens seitdem die Niederlage der algerischen Islamisten gegenüber dem Regime, aber vor allem auch gegenüber der Bevölkerung ­ die sich ihren ideologischen Diktaten nicht beugen wollte ­ fest steht. Heute betont die algerische Regime gegenüber den USA, dass die Reste bewaffneter islamistischer Gruppen, die im Lande aktiv sind, mit dem internationalen Netzwerk Al-Qaida verbunden seien. Damit fielen sie unter die gültige Hauptfeinddefinition der USA. Tatsächlich steht eine der noch aktiven islamistischen Untergrundgruppen, der GSPC (Salafitische Gruppe für die Predigt und den Kampf) mit rund 600 aktiven Mitgliedern, mit dem  Terrornetzwerk in Verbindung.

Die verbleibenden Untergrundgruppen in Algerien sind allerdings unter neuen Druck geraten, da die Behörden allem Anschein nach ­ durch Kontakte, die über die Familien vermittelt wurden ­ über neue Waffenniederlegungen einzelner Einheiten verhandeln. Die Rede ist von einer Neuauflage des Amnestiegesetzes für "Reuige", mit dem in den Jahren 1999 und 2000 viele gescheiterte Gotteskämpfer aus dem Untergrund geholt worden waren, auch wenn in manchen Fällen die zugesicherte Straflosigkeit in der Folgezeit zum Rekrutieren neuer Mitglieder statt zum Aussteigen benutzt wurde. Derjenige Flügel, der ein Aufgeben ablehnt, verstärkt allerdings seit vier Wochen seine Aktionen, wohl auch als Antwort auf diese Bemühungen um Aushandeln einer Waffenübergabe. Im April dieses Jahres töteten sie 60 Menschen, überwiegend Soldaten und Polizisten.

Da der GSPC dem Druck der algerischen Militärs seit einem Jahr über die Sahara in die angrenzenden Länder wie Mali und Niger ausgewichen zu sein scheint, wurden im März dieses Jahres dorthin US-Spezialkommandos entsandt. Zugleich hat die US-Administration noch bestehende Beschränkungen für Waffenlieferungen an Algerien aufgehoben. In den gesamten Neunziger Jahren, als tatsächlich im gesamten Lande der Bürgerkrieg tobte, wurden Rüstungslieferungen an Algerien restriktiv gehandhabt, unter anderem auch wegen Einspruchs des Verbündeten Marokko. Allein im Jahr 2002 wurden jedoch doppelt so viele US-Waffen an Algerien geliefert wie im gesamten vorausgehenden Jahrzehnt. Nach einem Bericht der World Tribune.com, der fünf Tage nach der Wiederwahl Bouteflikas erschien, sollen diese Beziehungen jetzt noch ausgebaut werden. Erstmals sollen Amerikaner auch algerische Offiziere trainieren.

Editorische Anmerkungen:

Bernhard Schmid lebt und arbeitet als Journalist und Jurist in Paris. Von ihm erscheint im Frühsommer 2004 im Unrast Verlag (Münster) das Buch: "Algerien ­ Frontstaat im globalen Krieg? Neoliberalismus, soziale Bewegungen und islamistische Ideologie in einem nordafrikanischen Land."

Der Autor schickte uns seinen Artikel in der vorliegenden Fassung am 09.05.2004 mit der Bitte um Veröffentlichung.